Abschied von Max

Zur Erinnerung an W. G. Sebald

Von Franz LoquaiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Loquai

Die Nachricht vom Tod W. G. Sebalds hat einen Schock ausgelöst, verbunden mit dem Erkennungsschreck, dass für uns alle der Sand durch das Stundenglas rieselt und dass der Ausdruck 'plötzlich und unerwartet' nur unsere Verlegenheit als sogenannte 'Hinterbliebene' spiegelt. Dass Sebald tot ist, habe ich noch immer nicht begriffen; auch weiß ich nicht, was überwiegt, die Bestürzung, das Mitgefühl oder die Wut. Am 14. Dezember 2001 ist Sebald - der Fußgänger und Wanderer - bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als er seine Tochter Anna nach Hause fuhr. Die Tochter hat schwer verletzt überlebt, und wir hoffen für sie und ihre Mutter, dass sie wieder gesund wird und die Wunden heilen. Das Unglück passierte unweit von Sebalds Wohnort, auf vertrautem, wenngleich nie heimischem, tückischem Gelände. Es handelte sich um einen, wie es heißt, 'Frontalzusammenstoß' mit einem Lastwagen, ausgelöst möglicherweise durch einen Herzinfarkt, den Sebald Sekundenbruchteile zuvor erlitten haben könnte. Soviel wissen wir durch Sebalds Agenten Andrew Wylie, der erklärte, dieser Tod sei "the last gasp of a bad year" - und ich vermeine ein Echo davon herauszuhören, wie Sebald zu Lebzeiten dies auf deutsch gesagt haben mochte: "ein ungutes Jahr".

Dabei hatte alles, zumindest für die Sebald-Gemeinde, so gut begonnen: mit dem wunderbaren Prosabuch "Austerlitz", das für viele Leser und Kritiker den - bis dato vorläufigen, jetzt müssen wir sagen endgültigen - Höhepunkt seines literarischen Werkes darstellte. Dazu kamen die Übersetzungen und die Ausgaben dieses Buches in Großbritannien und den USA, wo Sebald wahre (und verdiente) Triumphe feierte. Dort wurde sein Name zuletzt sogar zusammen mit dem Wort Nobelpreis genannt, und auch hierzulande wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er den Büchnerpreis bekommen hätte. Schon schleicht sich der Tod in die Sätze, indem er zum Konjunktiv zwingt...

Der am 18. Mai 1944 in Wertach im Allgäu geborene, auf Umwegen über die Schweiz nach England ausgewanderte und von dort aus durch Welt und Geschichte nomadisierende W. G. Sebald ist nur 57 Jahre alt geworden. Ihm war die Zeit nicht vergönnt, die er gebraucht hätte, um die Bücher zu schreiben, die er noch hätte schreiben wollen. Was uns Lesern dadurch entgangen ist und was somit für immer aus unserer Erinnerung ausgeschlossen bleiben wird, können wir nicht einmal ahnen. In Abwandlung eines Allgäuer Sprichworts sei gesagt: Die Guten gehen zu früh, und die Schlechten halten es viel zu lange aus.

W. G. Sebald - mithilfe der abgekürzten (weil teutonischen) Vornamen hatte der Autor eine Chiffre gefunden, in der sich der Schriftsteller einrichten konnte. Im Leben nannte er sich am liebsten, nach dem dritten Vornamen, Max. Die Bücher des Schriftstellers werden bleiben, für immer in der Bibliothek des großen Gedächtnisses, man wird sie wieder und wieder lesen. Max Sebald hat sich in Telephonaten, jedenfalls bei mir, stets verabschiedet mit "Adieu", als ob dieses Gespräch das letzte gewesen sein könnte. So war es ja auch, eines wird jetzt das letzte gewesen sein. Wenn Gespräche nur noch in die Vergangenheit hinein möglich sind, dann gilt: bloß keine Anekdoten, alles aufbewahren in der Schatzkammer der Erinnerung, die versiegelt bleibt. Deshalb nur soviel: Ich werde W. G. Max Sebald niemals vergessen. Adieu, Max!

Sebald, der seit 1988 ein Ordinariat an der University of East Anglia in Norwich innehatte, hinterlässt ein umfangreiches wissenschaftliches Werk, zu dem Studien über Sternheim, Döblin, Jean Améry und vor allem über die österreichische Literatur gehören. Letztere freilich bilden die fließende Grenze zum essayistischen oder besser: poetologischen, also literarischen Werk. Dass er zur Belletristik überlief, ist ironischerweise ein bisschen einer gewissen Frau Thatcher zu verdanken, die in England seinerzeit eine Hochschulreform zwangsverordnete und damit gar manchem Wissenschaftler das Forschen austrieb. So hat sich Sebald auf das Schreiben ohne akademische Zwangsjacke verlegt und trotzdem auch noch die Lehre gewissenhaft ausgeübt.

Am Anfang war die Lyrik. In dem Elementargedicht "Nach der Natur" (1988) hat Sebald Themen entfaltet und stilistische Verfahren erprobt, die er in "Schwindel. Gefühle." (1990) konsequent weiterentwickelte: die Erkundung der Natur, das Lesen in Bildern und Photographien, das Entziffern ominöser Zeichen und das Enträtseln geheimnisvoller Orakelsprüche. Ein Leser, der sich auf diese Vexierspiele einlässt, gerät unwillkürlich in den Sog von Sebalds rhythmischer, makellos schöner und magischer Prosa, deren Zauber er sich nicht entziehen kann. Er wird sich darin verlieren und herumirren wie in einem riesigen, endlos verzweigten, verwinkelten und mit Spiegeln getäfelten Labyrinth der Sprache und der Erinnerung. Kein Wunder, dass es auch dem Erzähler namens Sebald schwindlig wird angesichts zahlloser Koinzidenzen, die den Zufall als Gesetz erscheinen lassen: "Kleinigkeiten, die sich unserer Wahrnehmung entziehen, entscheiden alles!". Da haben wir einen jener prophetischen Sebaldschen Sätze. Die Schwindel erregenden Vorgänge und Koinzidenzen entsprechen nicht nur einem imaginierten Beziehungsgeflecht, sie sind zugleich Bestandteil eines poetischen Verfahrens zur Ordnung der Erinnerungen. Lassen sich die gesuchten Zusammenhänge durch die Gedächtnisarbeit nicht vollends rekonstruieren, so werden sie mittels einer phantastischen Konstruktion im Fluidum von Halluzination und Traum, zwischen Erfindung und fingierter Wirklichkeit hergestellt. Die Phantasie erweist sich als Gefährtin des Gedächtnisses, und in Sebalds Büchern scheint mir der Anteil an Fiktivem weit höher, als die Skeptiker unter seinen Kritikern wahrhaben wollen. Erinnerungsbruchstücke, Orakelsprüche, "Sinnfiguren", winzige Episoden und scheinbar nebensächliche Koinzidenzen in Momenten der Epiphanie ergeben, wenn lange und tief genug in den Dunkelkammern des Gedächtnisses geforscht wird, jenes seidene Gespinst, aus dem der rote Faden der Erinnerung gesponnen ist.

In "Die Ausgewanderten" (1992) ist von dem "Korsakowschen Syndrom" die Rede, bei dem "der Erinnerungsverlust durch phantastische Erfindungen ausgeglichen wird". So erklären sich die fließenden Übergänge zwischen Wahrheit und Halluzination, zwischen Authentizität und Fiktion. In diesem Sinne ist im 'Sebaldschen System' der Erzähler nicht nur der gewissenhafte Archivar der Geschichte, sondern auch der phantastische Imaginator von Geschichten. Die tödliche Konsequenz dieser Leidenswege der Ausgewanderten erhellt aus der minutiösen Suche des Gedächtniskünstlers Sebald. Wie ein Detektiv auf der Spur untröstlicher Seelen, wie ein Archäologe auf dem Gräberfeld verschütteter Erinnerungen trägt er Schicht um Schicht ab, bis die Toten wiederkehren, weil die Vergangenheit niemals vergeht.

In einer wunderbar ausbalancierten, stilisierten Sprache, deren rhythmisch bohrende Erinnerungsneugier bis in die feinsten Verästelungen der Lebenswege reicht, spinnt Sebald in seinen Büchern ein kunstvolles Netz schicksalhafter Beziehungen, von dem auch der Leser gefangen genommen wird. Sebald schafft es nämlich, dass wir allmählich selber einen siebten Sinn für die Fingerzeige des Schicksals oder die Orakelsprüche des Lebens entwickeln. Das Geheimnis von Sebalds aus der Zeit fallender Sprache liegt wohl darin: Sie schafft im ruhigen Rhythmus der Beharrlichkeit ein Refugium des Vertrauens in den langen Atem und in die Schönheit angesichts unserer Vergänglichkeit. Doch kaum glaubt man, sich von dieser schönen schwermütigen Prosa verzaubern lassen zu können, da wird man sanft, aber umso wirkungsvoller, aus seinen Träumen gerissen und fällt zwischen die Zeilen, wo die Alpträume der Geschichte lauern. Das sind keine altfränkisch gedrechselten Satzgebilde, wenn Sebald, an Hebel und Stifter, aber eben auch an modernen Autoren wie Hofmannsthal, Schnitzler, Kafka, Nabokov, Borges oder Bernhard geschult, uns mit der Schönheit des scheinbar Erfundenen lockt, um mit der nackten Wahrheit des Authentischen zu schockieren.

In "Die Ringe des Saturn" (1995) erscheint die Szenerie einer abgewirtschafteten Zivilisation und einer zerstörten Natur, die sich ihr Terrain zurückerobert, zuweilen meint der Wanderer, über die Ruinen einer zerfallenen Welt zu gehen. Sebalds "englische Wallfahrt", so der Untertitel des Buches, ist keine religiöse Pilgerfahrt zu heiligen Stätten, sondern die Reise eines Erdenfremdlings zu den Opfern der Weltgeschichte, der Menschenabschlachtung bis zum Holocaust und den gegenwärtigen Kriegen. Im Zeichen von Sankt Saturn zieht der melancholische Wallfahrer seine Bahn, die mitten hineinführt in die Beinhäuser der Geschichte. Milliarden von Toten häufen sich auf, indem der Mensch Licht ins Leben bringen wollte und doch nur Kalamitäten und Katastrophen produzierte, die hinabführen in die finale Finsternis einer entvölkerten Welt. Die horizontale, rund um den Erdball fegende Gewalt findet eine vertikale Gegenbewegung, mit der sich die in die Grube ziehende Schwerkraft überwinden ließe, in Bildern vom Vogelzug und im federleichten Schweben an extraterritorialen Orten, die den fremden Blick aus großer Höhe erlauben: Momente kurzen Glückes und Friedens und eines schönen Todes. Wer wünscht ihn sich nicht?

Auch "Austerlitz" (2001) erzählt eines jener bösen deutschen Märchen, die einen schwindligen Kopf machen und bei denen einem das Herz brechen möchte. Mit seinem letzten Buch hat Sebald ein Wunderwerk an unvergesslicher Prosa geschaffen (vgl. die Rezension in literaturkritik.de Nr. 7/2001) und sich als großer Erzähler auf der epischen Langstrecke gezeigt. Sebald hat mit seinen Büchern, die alle ein Lebensbuch im Universum der Erinnerung ergeben, nicht nur sich selber zur Kunstfigur im Text verwandelt, sondern auch die Grenzen von Authentizität und Fiktion, von Gegenwart und Vergangenheit so verwischt, dass man fast glauben möchte, wir wären noch zu retten. Diesen faszinierenden tröstlichen Gedanken hat kaum einer so schön in Sprache verwandelt wie Sebald, der fremde Gast. Doch die Höhenflüge der Sprache, in der Auflehnung gegen die Schwerkraft des Gemüts, sind ein gefährliches Metier. Denn noch im Glücksgefühl der Levitation droht der Absturz in das Grauen der Leere, das Verschwinden in der Obskurität.

Wenige Tage vor Sebalds Tod ist in England ein Büchlein mit englischsprachigen Gedichten Sebalds erschienen ("For years now"; in diversen Internetbuchhandlungen zu bestellen, eine Rezension in literaturkritik.de folgt), das sich jetzt wie ein Gruß aus der Ferne liest. Wer das Internet benutzt, um vielleicht auf weitere, ungeahnte Spuren Sebalds zu stoßen, gerät möglicherweise auch auf die Homepage von Sebalds Institut an der UEA in Norwich. Dort finden sich Lehrpläne, Personalverzeichnis und sämtliche Email-Adressen der Dozenten; nur bei Max Sebald ist über die Erreichbarkeit vermerkt: "by pigeon-hole only". Das schöne englische Wort erinnert an den altehrwürdig-langsamen Postweg. Wer aber denkt da nicht auch an die Brieftauben von "Austerlitz", insbesondere an jene tapfere Taube mit gebrochenem Flügel, die trotz der Verletzung, in der Not eben zu Fuß nachhause kommt? Kehrt da nicht, unverhofft, ein Sinnbild wieder, als sei es jetzt für den Autor selber gedacht? Möge Sebald, trotz aller Verletzungen, angekommen sein daheim, wo immer das ist. Adieu, Max.

Anmerkung der Redaktion: Der Verfasser dieses Nachrufs ist Herausgeber des Porträt- und Materialienbandes: W. G. Sebald. Eggingen: Edition Isele 1998 (= Porträt 7). 288 Seiten.