Noch immer präsent
Ein Sammelband zu Geschichte und Gegenwart völkischer Religion
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseChristlich war das Mittelalter; die Renaissance brachte endlich Zweifel und Individualismus, die frühe Neuzeit dann mit der Reformation eine religiöse Wendung zu einer sowohl textbezogenen als auch persönlichen Beziehung zu Gott. Die Moderne schließlich, wo immer sie beginnen mag, hob selbst diesen Glauben auf; und heute sind wir alle, den Papst und Kardinal Ratzinger einmal ausgenommen, rational und aufgeklärt: auf ein Weltliches bezogen, das leer sein mag, doch unsere Freiheit garantiert.
Das ist die eine Erzählung, und heute sicher noch mehrheitsfähig. Neuere Forschungen und vereinzelte publizistische Warnungen stellen dieser beruhigenden Variante einer mehr oder minder gelungenen Säkularisierung jedoch die eingeschränktere Beobachtung einer Entkirchlichung entgegen. Besonders im Protestantismus, besonders bei Männern und unteren Schichten verloren zwar christliche Zeremonien ihre Bindekraft. In bedeutendem Maße indessen nahm nicht ein sachliches Verhältnis zur Realität, sondern nahmen kirchenferne Formen von Religiosität ihren Platz ein.
Im Deutschland der Wende zum 20. Jahrhundert und noch bis in die 30er Jahre wimmelte es, wie der vorliegende von Stefanie von Schnurbein und Justus H. Ulbricht herausgegebene Band zur "Völkischen Religon" zeigt, von Gruppierungen, die in dieses Feld gehören. Ambivalent erscheinen sie in vielerlei Hinsicht. Sie behaupten Bindung gegen eine haltlose Moderne und beziehen sich doch aufs Individuum, das jenseits tradierter Bindungen qua Willensakt zu erkennen, das heißt auch: Wahrheit herzustellen habe. Sie preisen mystisches Erkennen und mögen dabei nicht auf vorgebliche Beweise verzichten, die, wo es gerade passt, einer zeitgenössischen oder auch einer bereits veralteten Wissenschaft entnommen sind. Völkisch sind viele dieser Religionen, indem sie, noch in der Abgrenzung aufs Christentum fixiert, sich auf eine Frühzeit berufen, die durch Karl den Großen und seine in der Tat gewalttätige Mission zerstört worden sei. Indem jedoch das Germanentum nach 1900 unweigerlich deutschnational konnotiert ist, rekonstruieren die Deutsch-Religiösen weniger eine untergegangene bessere Vorzeit, als daß sie eine Ideologie zugunsten zeitgenössischer nationaler Zwecke liefern.
Der Bürger, der an mystisches Erleben ebenso glaubt wie daran, dass sein Erlebnis wissenschaftlich bestätigt sei, findet hier eine radikale Variante völkischen Denkens und damit eben: trotz aller Abwehr modernen Denkens. Die Wirkung der zahlreichen Religionen und Zirkel, die ihm zur Auswahl standen, lässt sich dabei nur schwer abschätzen. Ein erster Blick zeigt eine kaum zu überschätzende Zersplitterung: Die völkischen Propheten propagierten eben nicht nur radikale Hierarchisierung, sondern sahen niemand anderen als sich selbst an der Spitze der Hierarchie, was eine schlagkräftige Zusammenfassung verhinderte. Andererseits entstand auf diese Weise ein ausgedehntes Netzwerk, das zahlreiche Personen erfasste und prägte.
Biographisch lassen sich etliche Verbindungen zum deutschen Faschismus aufzeigen. Nicht nur Hitlers Mitputschist von 1923, Erich Ludendorff, bewegte sich zunehmend im Bereich völkischer Religiosität; auch Himmler und Rudolf Höß, der Lagerkommandant von Auschwitz, gehörten zeitweilig Organisationen aus diesem Umfeld an. Dennoch erwies sich die Zeit nach 1933 keineswegs als günstig für die völkischen Sektierer: Ihre Modelle, die Welt zu erklären, kollidierten mit dem Allmachtsanspruch des Regimes. Punktuell kam es zu Verfolgungen, was nach 1945 es auch entschlossenen Rassisten ermöglichte, sich als Opfer aufzuspielen und ihr Geschäft weiter zu betreiben.
Ulbrichts und von Schnurbeins Sammelband ist das Resultat einer Reihe von Tagungen zwischen 1991 und 1995. Dass aufgrund der zum Teil außerordentlich langen Frist zwischen Vortrag und Publikation neueste Forschungen nicht durchgehend berücksichtigt werden konnten, lässt sich angesichts der Fülle von Informationen, die dennoch vorliegen, verschmerzen. Wichtiger ist der Gewinn: es liegt keine zufällig anmutende Sammlung locker verbundener Themen vor, wie sie auf einzelnen Tagungen manchmal auch produktiv sein mag, sondern ein Forschungsfeld ist systematisch abgedeckt. Das erste Viertel des Buches bringt nach einer Skizze der geistes- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der völkischen Religionen (Justus H. Ulbricht) methodische Überlegungen zum Problem religionswissenschaftlicher Wertung (Frank Usarski), zur religiösen Dimension "kollektiver Identität", d. h. hier von Volk und Nation (Peter Berghoff), zu völkisch-nationalen "Konfigurationen des Geschlechterverhältnisses" (Karin Bruns) und eine "Realtypologie" anti-intellektueller Intellektueller (Richard Faber). Rainer Hering gibt einen umfassenden Überblick zur Geschichte der Entkirchlichung besonders des protestantischen Deutschland von der Mitte des 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als Voraussetzung alternativer Formen der Religiosität, die die folgenden Beiträge zum Thema haben. Ulrich Nanko umreißt das "Spektrum völkisch-religiöser Organisationen" zwischen Jahrhundertwende und "Drittem Reich", Matthias Pilger-Strohl untersucht, inwieweit jene der freireligiösen Gruppierungen, die 1933 nicht gleich verboten wurden, sich mehr oder minder freiwillig der herrschenden Ideologie anpassten. Ulrich Linse stellt die rassistische Mazdaznan-Bewegung vor, Rainer Lächele zeigt anhand der Ideologen Christi Arthur Bonus, Max Bewer und Julius Bode den Wechsel zwischen protestantischem Pfarrmilieu und völkischer Religiosität, Bernd Wedemeyer schildert die Geschichte der heute absonderlich anmutenden "Runengymnastik". Wenn Helmut Zander rassistische Elemente in den Schriften Rudolf Steiners nachweist, stellt sich die Frage, wie die immer noch starke anthroposophische Bewegung mit den Behauptungen ihres Gründers umgeht; zumeist, so wird klar, mit dem Versuch, zu bagatellisieren, und fast nie mit einer gründlichen Kritik, die mit Steiner als unantastbarer Autorität das Fundament auch noch der heutigen Anthroposophie angriffe.
Marina Schuster stellt mit Fidus, Ludwig Fahrenkrog und Franz Stassen völkische Künstler vor, die insbesondere kurz nach der Jahrhundertwende, zumal bei der Jugendbewegung, außerordentlich populär waren. Hildegard Châtellier widmet sich mit Houston Stewart Chamberlain einem der einflussreichsten Theoretiker des Rassismus. Überzeugend hebt sie die Bedeutung hervor, die das kulturalistische Element der Religion für Chamberlains Ideologie besaß und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Debatte, inwieweit ein kulturalistischer Rassismus eine Besonderheit erst der jüngsten Zeit sei.
Dem Verhältnis von Wissenschaft und völkischer Religion sind zwei Aufsätze gewidmet. Julia Zernack zeigt, wie selektiv die Ergebnisse von germanischer Altertumskunde und Skandinavistik aufgenommen wurde, um das Bild einer antichristlichen germanischen Frühzeit auszumalen. Der Gegensatz von Wissenschaftlern und Propagandisten lag jedoch nicht im Ziel, sondern im Habitus und war zudem ein Statuskampf: wer die Autorität verteidigte, die Vergangenheit völkisch zu deuten. Für die Zeit nach 1933 nimmt Esther Gajek eine Gruppe von jungen Volkskundlern in den Blick, für die die wissenschaftlichen Standards der älteren Germanisten nicht mehr galten. Für sie galt "einzig und allein das biologische und rassische Denken" (so Alfred Rosenbergs Zuarbeiter Matthes Ziegler) und eine vorgeblich instinktive Unterscheidung zwischen "arteigen" und "artfremd". Zum Bereich der völkischen Religion gehören diese Aktivitäten, weil praktisches Ziel dieser Volkskundler die Entwicklung eines "arteigenen Brauchtums" war, das das ganze Leben im nationalsozialistischen Sinn bestimmen und christliche Riten verdrängen sollte.
Ist die Sache abgetan, die Verirrung überwunden? Stefanie v. Schnurbein zeigt sich im abrundenden Beitrag zu "Transformationen völkischer Religion nach 1945" zu Recht skeptisch. Zahlreiche Gruppierungen des Spektrums gründeten sich nach 1945 wieder oder neu und führen kein von gesellschaftlichen Trends abgeschottetes Sektenleben. Spiritualisierung und Entpolitisierung nach dem Scheitern der Protestbewegungen der 70er und 80er Jahre ließen eine neuheidnische Esoterik erstarken, die einen individuellen Weg zum Besseren versprach. Die Bemühungen um eine feministisch-matriarchale Spiritualität, Fantasy-Romane und -Filme, einzelne Strömungen populärer Musik lassen Elemente völkischer Religion in die Alltagskultur verschiedener Bevölkerungsgruppen einfließen. Ohne dass in jedem Fall dahinter ein geschlossenes völkisches Weltbild stände, so ist das Ergebnis doch, wie v. Schnurbein es formuliert, "daß 'arteigene' Religionsentwürfe die Nische einer begrenzten Subkultur längst verlassen und an der Prägung des derzeitigen Diskurses über Spiritualität und Identität maßgeblich beteiligt sind."