Ein wahres, ein verfehltes Leben

In-Hun Chois Roman "Der Platz"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang, der fast schon ein Ende ist, steht der Abschied von einer Heimat, die nie eine war. Äußerlich gesehen ist Myong Chun Lee, der Protagonist in In-Hun Chois Roman "Der Platz", zum politischen Flüchtling geworden: Vor dem Koreakrieg wegen seines kommunistischen Vaters von der südkoreanischen Polizei verprügelt, ging er in den Norden, wo er statt des erhofften besseren Lebens ebenfalls Autoritätsgehabe und bürgerliche Heuchelei fand. Im Süden gab es eine deprimierende Entpolitisierung des öffentlichen Lebens - im Norden erlebte er politische Schönfärberei und Propaganda. Der Rückzug aufs Private im Süden, die öffentlichen Lippenbekenntnisse im Norden ließen ihm für sinnvolle Politik gleichermaßen keinen Raum. Der Kriegsbeginn von 1950 war fast Erlösung: zur entschlossenen Handlung Lees, der nun seinerseits prügelnder Verhörspezialist und später Soldat in einem Kampf mit klaren Fronten wurde. Gefangenschaft und Waffenstillstand beendeten die Konfrontation. Konsequent flieht Lee die Rückkehr in hie wie dort bedrückende und politisch bedrohliche Verhältnisse, auch vor der Gefahr, auf beiden Seiten als Verräter zu gelten. Er lässt sich nach Indien, in ein neutrales Land, ausschiffen.

Das ist die politische Version des in Südkorea zuerst 1961 erschienenen und bis heute bekannten Romans, gedruckt, als dort jede differenzierte Sicht auf die jüngere Vergangenheit noch als kommunistisch diffamiert und verfolgt wurde. Man kann das Buch jedoch auch als Folge von Liebesgeschichten lesen: Ermüdet von oberflächlichen Vergnügungen, die ihm immer fremd blieben, sucht der Student Myong Chun das wahre Leben, nicht sehr originell, in der Liebe. Diese Wahrheit jedoch entzieht sich ihm im Süden wie im Norden. Yun Ae, die er intellektuell geringschätzt, die mit ihm schläft, entzieht sich ihm gerade in der und mittels der Sexualität: Mal aufs höchste erregt und mal kalt abweisend den Akt über sich ergehen lassend, bleibt sie aus männlicher Sicht ein Rätsel, ein Territorium, das zu beherrschen misslingt und so gleichzeitig die äußerste Privatheit des Südens, den Bezug auf die kleinste Einheit: das monadische Individuum bezeichnet.

Motivisch ist der politische Verlauf mit den Liebesaffären Myong Chuns also aufs engste verknüpft: Auch durch die Tänzerin Un Hae im Norden, die das Gegenteil Yun Aes repräsentiert. Die körperliche Lust nicht verbergend, ohne Mauer gegenüber Myong Chun, existiert sie schon qua Beruf für die Öffentlichkeit. Myong Chun stellt individuelle Besitzansprüche, die sie zurückweist, als sie dem Wunsch des Geliebten und ihrem Versprechen entgegen eine mehrmonatige Tournee durch die Sowjetunion antritt. Das Paar trifft sich im Krieg wieder, versöhnt sich und erlebt in einem Rückzugswinkel an der Front Momente der Harmonie, bevor eine kommunistische Offensive in der überlegenen Feuerkraft der UN-Truppen zusammenbricht und Un Hae fällt. Keine Liebe mehr hält Myong Chun in seinem Heimatland.

Es gibt eine dritte Lesart des Buchs: als Roman eines Philosophiestudenten, der sich vom gelernten Idealismus zu lösen sucht und eigentliche Existenz nicht nur gedanklich, sondern im praktischen Leben sucht; Politik wie Liebe geraten ihm zum philosophischen Experiment. Das kleine Studierzimmer, die sorgsam zusammengestellte Bibliothek erscheinen ihm bald nicht mehr als Leben genug. Ein Partydasein seiner Freunde, die westliche Sitten nur nachäffen, bietet ihm keine Lösung. Ein Ausweg deutet sich ausgerechnet an, als ihn die Antikommunisten des Südens zusammenschlagen: Die Realität bricht in sein Leben. Er spürt den Körper, der ihm freilich zur Frage wird, der gleichzeitig die Antwort bringen soll und genau deshalb, weil er zum Gegenstand eines Gedankenexperiments wird, zur unmittelbaren Existenz doch nicht werden kann. Im Geschlechtsverkehr wie später als Folterer stößt Myong Chun darauf, dass die körperliche Reaktion Wahrheit nicht garantiert. Erst sehr spät, fast schon im Bereich feindlicher Geschütze, erlangt er in der Sexualität etwas wie Gewissheit. Notwendig ist freilich die Nähe des Todes. Der Krieg beendet denn auch eine extreme Annäherung, die ohne den Krieg so nicht hätte geschehen können und die so nicht hätte über ihn hinausreichen können.

Ein Philosoph als Hauptfigur eines existentialistischen Romans - das ist eine Gefahr. Allzu leicht entschwindet die Existenz und bleibt der Ismus, bleibt also nur Theorie, die man schon etliche Male und zuweilen besser gelesen hat. Chois Roman entgeht dieser Gefahr nicht ganz. Zuweilen denkt und redet die Hauptfigur Traktate, die man gerne in der Handlung umgesetzt sähe. Seitenlange Kommentare über die Lage in Süd- und Nordkorea überschreiten nicht das Niveau von Leitartikeln, eine ungelenke Parallelisierung von Christentum und Marxismus lässt gedankliche Präzision vermissen.

Vorteil der Konstruktion ist freilich, dass jegliches Pathos vermieden ist. Zu besichtigen ist ein beschädigtes Leben, das der Autor genau, ohne Identifikation, aber auch ohne moralisches Urteil hinstellt. Myong Chun verübt Verbrechen, scheut freilich an zentralen Punkten vor der äußersten Gewalt zurück. Er gelangt nicht zu der Existenz, die er erstrebt, weil er besitzen, weil er kontrollieren will: Bücher, Frauen, Feinde. Nicht erst die ungewissen Reaktionen der Körper, mit denen er zu tun hat, sondern schon sein herrschsüchtiger Blick errichtet jene Schranke, an der er verzweifelt. Zudem scheitert, sieht man die Realität als philosophisches Experiment, dies Experiment unweigerlich; stets trifft man sich selbst. Gerade damit aber stößt Myong Chun zu der Existenz vor, die die seine ist, so sehr sie auch seinen Wünschen über eine wahre Existenz zu widersprechen scheint.

Er wird Indien nie erreichen. Seine Persönlichkeit erscheint nun als vollständig gespalten. Nach außen ist er durchaus respektiert, bald der Verbindungsmann zwischen Schiffsbesatzung und Ausreisenden - ein stabiles, erfahrungsgesättigtes Subjekt scheint entstanden. Im Inneren verliert er endlich die Distanz zu den Ereignissen seiner Vergangenheit, scheinen sie ihm die unmittelbare Gegenwart, die sie ihm als gegenwärtige nicht zu sein vermochten. Ein Sog entsteht, nicht Reue, vielleicht Erkenntnis - und unmöglich ist zu sagen, ob Myong Chun Selbstmord verübt oder für einen Moment dem Drang zum Meer nachgibt.

Choi weiß den Verlauf konzentriert wiederzugeben; wenige Passagen nur wirken entbehrlich. Die Sprache, zumindest in der Übersetzung, ist nüchtern und eher begrifflich geprägt: Nicht umsonst ist die Haupt- und Perspektivfigur philosophisch vorgebildet, nicht umsonst besteht ihr Erleben im Verfehlen des Erlebnisses. Eine gleichwohl dichte Motivstruktur, die die verschiedenen Zeitebenen miteinander verbindet, zeugt von der Einheit dieses Lebens und Erlebens; ob sie freilich mehr leistet, als das gedanklich schon Formulierte noch einmal zu veranschaulichen und mittels Wiederkehr des Bekannten dem Protagonisten Anstöße zu liefern, erscheint fraglich. Auch zerstörte die Übersetzung Zusammenhänge: Der wichtige, titelgebende Begriff Platz, der im Original die Verknüpfung von Handlungs- und Reflexionsebenen leistet, ist, vermutlich aus verfehltem Streben nach sprachlicher Abwechslung, häufig durch andere Wörter ersetzt.

Der genau kalkulierte, intellektuelle Roman, der Choi mit Ausnahme weniger Passagen gelang, erreicht zumindest in der deutschen Fassung nicht die Ebene, auf der Sprache und Motivik einen Eigenwert über die Illustration des Begrifflichen hinaus zu erlangen vermögen. Zu lesen ist gleichwohl ein eher strenges, dabei anregendes Werk, dessen Autor politische und ethische prekäre Situationen bar jeder billigen Moral zu skizzieren vermag.

Titelbild

In-Hun Choi: Der Platz. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Hi-Youl Kim und Ralf Deutsch.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2001.
205 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3929181436

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