Wer zweimal bei derselben klingelt

Wolfgang Schömels "Überwiegend neurotischen Geschichten"

Von Christian HeuerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Heuer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist für einen Rezensenten eine undankbare Aufgabe, wenn auf seinem Schreibtisch eine Erzählsammlung liegt, die förmlich danach schreit, sie zu aktuellen Tendenzen und Debatten der Literatur in Beziehung zu setzen: Gibt man dem Reflex des Vergleiches und des Name-droppings nach, plagt einen das schlechte Gewissen, oberflächlich mit den Texten umgegangen zu sein; andererseits wäre es schade um die schmissigen Formulierungen und die Chance, in einem bescheidenen Rahmen wieder eine grundsätzliche Attacke oder Apologie der Gegenwartsliteratur, der deutschen im speziellen, vorzunehmen. Zumal, wenn, wie gesagt, die Erzählungen um jeden platten Kontext betteln und Literaturwissenschaft und andere Disziplinen Steilvorlagen für einen Aufmarsch der wohlfeilen Kategorien auf der Generalstabskarte der Literaturkritik geben. So etwa im Fall der Erzählungen, die Wolfgang Schömel, Literaturwissenschaftler und Literaturreferent der Stadt Hamburg, unter dem Titel "Die Schnecke. Überwiegend neurotische Geschichten" bei Klett-Cotta vorgelegt hat.

Wohlan, hauen wir heraus, was zu sagen ist, und beginnen wir mit dem Gipfel der Klimax, dem stärksten Geschoss: Houellebecq. Und als zweite Granate hinterher: Christian Kracht. Das sage ich einfach mal so, beispielhaft und mit böser Absicht.

Der Vergleich mit dem frechen Franzosen, der gerade dem Vorwurf, den Islam zu verunglimpfen, gerichtlich entronnen ist und sich obendrein als Prophet des Attentats auf Bali fühlen darf, liegt primär deshalb nahe, weil Schömel ähnliche Typen zu den Protagonisten und Erzählern seiner Kurzgeschichten macht: Männer, häufig des fortgeschrittenen mittleren Alters, die von Beziehungen enttäuscht sind, auf Sex aber nicht verzichten können oder wollen; sie sehen sich einer öden Berufswelt ausgesetzt, in der sie zwar erfolgreich agieren, die aber nicht als sinnerfüllend wahrgenommen wird. Anders als z. B. die Hauptfigur in "Ausweitung der Kampfzone" haben aber diese Männer noch nicht die Jagd auf attraktive Frauen bzw. ihre Reizempfänglichkeit aufgegeben, sondern versuchen durch Lässigkeit und mit den sexuellen Versprechungen der Produkt- und Werbewelt sich als Alphatierchen anzubieten: Sie diagnostizieren nicht den Sozialdarwinismus und Kapitalismus im modernen Gefühls- und Sexualleben, sie leben und erleiden ihn. Die Frauen erfahren eine schnelle und fachmännische Beurteilung in "gut" und "schlecht". Dort, wo die geschickt oder auch plump eingefädelte Annäherung an die lohnenswerten Ziele gelingt, endet sie aber im Desaster einer versuchten Vergewaltigung ("Die Putzhilfe") oder in schwankhaften Situationen ("Das Revier"), die, würden nicht Perversionen ausgelebt, auch von Hans Sachs stammen könnten - die gute, alte deutsche Tradition des Derben, man verzeihe diese Formulierung, "feiert fröhliche Urstände"; nur zieht hier keine Bäuerin einen Studenten ins Bett, sondern die Bewohnerin einer Villa einen Arbeitslosen, mutmaßlich in Blankenese.

Das Geprahle und die Melancholie der stets "gut bestückten" Herren langweilt zunehmend. Offensichtlich soll die komisch-ernste Traurigkeit maskuliner Selbstentfaltung in einer entseelten Welt ohne "echte" Beziehungen generiert werden: der einsame Mann am Tresen als Heros der Tristesse. Wenn dem Autor daran gelegen ist, Martyrien zu schildern, dann kann man nur feststellen, dass seine Figuren auf hohem Niveau leiden: wirtschaftlich abgesichert, mäkeln sie an zu kleinen oder zu großen Brüsten herum; sie sind zwar keine Models, aber auch nicht so hässlich, dass sie von vornherein als Verlierer des sexuellen Wettbewerbs ausscheiden. Ihre Liste der Enttäuschungen weist eher darauf hin, dass man eher zugespitzt sagen kann: Die sexuelle Revolution mit ihrem steigenden Erwartungs- und Erfolgsdruck frisst ihre Kinder. Schömel ist nicht der Anwalt derjenigen, die "ganz unten" sind. Vielleicht liegt man nicht falsch, wenn man ihm eine ähnliche romantische Sehnsucht wie Houellebecq unterstellt, dass die Selbstbestätigung des Mannes im sexuellen Kurzerfolg irgendwann zugunsten des dauerhaften "kleinen Glücks" überwunden werde, das unvermittelt kommt - eine Erzählung wie "Das Rippengestell" legt einen solchen Schluss nahe.

Was nun an Christian Kracht erinnert, ist die Kennerschaft der Waren- und der schönen Modewelt, die der Erzähler vorgibt und die vom Autor zur Charakterisierung und Profilierung der Figuren genutzt wird. In "Leisure suit" gewährt der Erzähler Einblick in seinen Kleiderschrank und weiß den Hemden und Hosen eine Geschichte des Erwerbs und der Verwendung bzw. des Images zuzuordnen. Anders als bei Krachts Roman "Faserland", in dem das Szene-Wissen des Protagonisten in ein spannungsvolles Verhältnis zu dem Halbwissen um traditionelle Bildungsinhalte gesetzt wird, wird hier die Kleidung (hier eine US-Bomberjacke) einzig zum Kronzeugen des Strebens nach Männlichkeit und der enttäuschten Hoffnung auf - wie könnte es anders sein - erotische Abenteuer. Wie mit Statussymbolen des beruflichen Erfolges und der Bildung operiert wird, wie diese zu- oder abgelegt werden, um sich auf dem Markt der Bindungen und Beziehungen zu positionieren, kann leicht als eine Arbeit am Archiv der Alltagsdinge oder mit Bourdieus Ökonomie der Symbole klassifiziert werden - womit wir wieder bei Houellebecq als aktueller Bezugsgröße sind. Dieses Muster in der Makrostruktur der Erzählungen (und nahezu des gesamten Bandes) ist allerdings leicht zu durchschauen, und ihm fehlt es letztlich auch an der geschickten Variation und Erweiterung, die vielleicht das Plus der Literatur gegenüber den Modellen, die ihr zuweilen zugrunde liegen, ausmacht. Bei einer derartigen Kohärenz ist es verwunderlich, warum manche Geschichten nicht zu einem kleinen Roman zusammengefasst worden sind.

Eine Nähe der Erzählungen zu kontrovers rezipierten und diskutierten literarischen Strömungen der letzten Jahre zu konstatieren und an zwei Namen zu koppeln, ist selbstverständlich unfair. Nur drängt sich so mancher Vergleich auf, und da es sich bei dem Autor um einen Literaturreferenten und somit Kenner der literarischen Marktgesetze handelt, kann man ein gewisses Kalkül bei dieser Masche erahnen. Schömel bedient sich fast ausnahmslos des Ich-Erzählers und einiger Versatzstücke aus seinem Leben - wie eine akademische Laufbahn oder Schauplätze wie Hamburg oder das nun nicht notorisch literaturbekannte Bad Kreuznach. Was aber schon bei den Vorgängern als Pose auffiel, die das Verwirrspiel um die Identität von Erzähler und Autor inszeniert, um Authentizität vorzugaukeln (und um letztlich damit nur einer medialen Wahrnehmung des Künstlers, nicht des Textes, Vorschub zu leisten), wirkt in diesem Fall nicht gelungener, sondern fad. Und es ist schade, dass zu befürchten ist, hier sei die Blaupause verwendet worden, denn die Qualitäten einer souveränen und klug kalkulierten Textgestaltung sind ebenso offensichtlich.

Trotz der Abstriche ist es nämlich immer wieder hübsch, wie Schömel seine erzählerischen Absichten im Detail gestaltet, was ihn als guten Beobachter oder zumindest ironischen und damit guten Sammler von Gemeinplätzen der Küchenpsychologie, der einfachen Reiz-Reaktions- und Handlungsmuster ausweist. Dass dabei der Eindruck entsteht, die Grenzen zwischen Ironie und Herrenwitz seien bei den Erzählern wie beim Autor nicht immer klar gezogen, ist wohl prinzipiell das Problem des einzelnen Lesers. Zuweilen beantwortet sich die Frage, ob Abgeschmacktes serviert wird, auch eindeutig, wie im Fall von "Killing me softly": Hier findet ein Student, der als Briefträger bei der Post im Nahe-Kaff Bad Kreuznach aushilft, Fotos eines Sado-Maso-Pärchens aus seinem Zustellbezirk, um flugs zum sexuellen Dienstleister zu avancieren - das Uralt-Klischee der perversen Obsessionen hinter bürgerlicher Anständigkeit meets "Wenn der Postmann zweimal klingelt". Man fragt sich, wann das zuletzt schockierend oder entlarvend war.

Sowohl literarisch als auch thematisch weicht die letzte Erzählung, "Das Wiedersehen", von dem bisher Gesagten ab; hier wird ohne Effekthascherei das Geheimnis eines Einzelgängers abgebildet, das sich zum Schluss als die Geschichte eines Verlustes entpuppt. Schömel gelingt es, das Erzählen als innere Notwendigkeit statt als großspurige Geste darzustellen, und findet auf diesem Weg neue Töne. Diese erzählerische Vielfalt zu kultivieren, wäre mein bescheidener Rat.

Titelbild

Wolfgang Schömel: Die Schnecke. Überwiegend neurotische Geschichten.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
200 Seiten,
ISBN-10: 3608935738

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