Zurück zur Natur

Paul Brodowsky macht sich auf die Suche nach eventfreien Zonen

Von Frank FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich mal ein ehrliches Debüt. Kein Büchlein, das sich durch überdimensionierte Kinderbuchlettern zur Erzählsammlung aufschwingt oder seine Seitenzahl mit großen Zeilenabständen streckt, damit dann "Roman" auf dem Umschlag stehen kann. Paul Brodowsky begreift seine filigranen Prosaminiaturen als eigene Gattung, in der es ihm möglich ist, gedichtnah zu schreiben, ohne auf pseudolyrische Verse zurückgreifen zu müssen. 45 dieser Kurztexte versammelt der zur Leipziger Frühjahrsbuchmesse erschienene Band.

Bei Ilse Aichinger entlehnt Brodowsky nicht nur das Motto, er orientiert sich auch formell an der um zwei Generationen älteren Österreicherin. Ihm geht es aber nicht etwa um die Formulierung von Verzweiflung und opfergestähltem Engagement, sein Thema ist ein anderes.

Brodowsky wählt Flora und Fauna als Schauplatz, Wald und Feld statt pulsierender Großstadt. Sein Ich-Erzähler ist ein Naturfreak, der sich an den Signifikanten berauscht und ihnen sentimentalisch nachhängt. Der eingestreute biologische Fachwortschatz wirkt merkwürdig archaisch und ursprünglich, als ob es die dazugehörige Wissenschaft gar nicht gäbe. Sepiagetönte Bilder entstehen, der Blick schweift in eine Welt, in der Kinder Ferdinand heißen und Igel Namen besitzen.

Einer der besten Texte das Bandes, die Miniatur "Babel", führt zurück an den Ursprung der Vielsprachigkeit: "Man sagt, die Kranleute, die Händler an den Rändern haben angefangen, für die Waren eigene Wörter zu benutzen", lautet der letzte Satz, der auf sehr subtile Weise nur das Symptom konstatiert. In den Sätzen davor zeichnet der Ich-Erzähler, der sich als Arbeitskraft mitten auf dem Turm befindet, ein so stimmiges Bild seiner Umgebung, dass es sich um ein verschriftlichtes Detail des bruegelschen "Turmbau von Babel" handeln könnte, auch wenn Bruegels Gemälde schon die Konsequenz zeigt, den offen in der Landschaft liegenden, unvollendeten Koloss.

So wie der Textband auf Distanz zur Gegenwart geht, so unbeirrbar sucht der Ich-Erzähler die eventfreien Zonen. Für ihn ist die Sonnenfinsternis nur eines von vielen Naturereignissen, er malt sich lieber das Gegenteil aus: "Es muss Punkte geben, an denen die Sonne immer ganz und rund bleibt". Einen Ansprechpartner für diese Erkenntnis gibt es nicht, Dialoge finden nicht statt. In "Schokoladeauspacken", einem schnellen Text, der elliptisch die Hektik des Kinderspiels nachahmt, existieren die Mitspieler nur aufgrund der Augenzahlen, die sie würfeln.

Dagegen finden sich überall Chiffren feindlicher Umwelt, Schimmel und andere Pilze, Schwamm, Schleim und, als Erscheinung des Verfalls, Rost. Insekten wagen sich ans Eingemachte, Vögel picken den Menschen die Haut von den Fingern. All diese Schilderungen sind nicht wörtlich zu nehmen, Brodowskys Prosa erfordert assoziatives Lesen. Er beginnt stets mit realistischen ersten Sätzen, um dann Satz für Satz den Alltag außer Kraft zu setzen. Die Beschreibungen gehorchen der Logik von Traum- und Märchenwelten, aber auch wenn sie zu verquer werden, der Klang stimmt immer. Brodowsky hegt eine Vorliebe für singende, klingende Komposita, etwa für "Gabelzinken" und "Nelkenstiele", sein Fabulieren kennt jedoch auch sprachkritische Untertöne.

Wenn der Ich-Erzähler die Gültigkeit von Redensarten anzweifelt und zeigt, dass es eben doch Personen gibt, mit denen man "gut Kirschen essen" kann und die Wendung "lahm wie eine Schnecke" seiner Erfahrung widerspricht, sind das noch Etüden. Die Lust am Text steigt aber, sobald Brodowsky seine Aussagesätze derart mit unrealistischen Angaben mystifiziert, dass er jeden Leser auf die Ebene des einzelnen Wortes zwingt und ihn jenseits von Handlung für die genaue Sprache interessiert. Wiederholtes Lesen ist die Folge.

Titelbild

Paul Brodowsky: Milch Holz Katzen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
76 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-10: 3518122673

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