Metamorphosen des Erzählens

Kuno Raebers frühe Prosa

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Rahmen der fünfbändigen Werkausgabe des schweizer Schriftstellers Kuno Raeber ist nun Band 2 mit der erzählenden Prosa der sechziger Jahre erschienen. Er enthält neben dem Roman "Die Lügner sind ehrlich", dem Reisebericht "Calabria" und dem Erzählungenband "Missverständnisse" auch die hier erstmals aus dem Nachlass publizierten Texte "Die Düne" und "Der Brand".

Christiane Wyrwa, mit Matthias Klein Herausgeberin und sachkundige Kommentatorin von Raebers Werken, hat im jüngsten "Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft" einen sehr aufschlussreichen Brief von Ingeborg Bachmann veröffentlicht, in dem sie zu Raebers Romanmanuskript Stellung bezieht. Raeber hatte eine Passage daraus auf der 10.Tagung der Gruppe 47 vorgetragen und war heftig, sogar persönlich verletzend kritisiert worden. Bachmann schreibt aus einer freundschaftlichen Haltung dem Autor gegenüber, kommt aber auch nicht umhin, ihm von einer Publikation abzuraten. Ihr Haupteinwand besteht darin, dass er "den Personen zu wenig Halt in der Wirklichkeit" gegeben habe, und die Ursache dafür vermutet sie "in einer Unerlöstheit Ihrer selbst." Bachmann erweist sich mit dieser Stellungnahme als eine sensible und urteilssichere Leserin, denn in der Tat lässt sich sagen, dass der Roman eher das Dokument eines inneren Befreiungsprozesses als ein ästhetisch durchgeformtes Gebilde ist. Raeber versucht hier die Atmosphäre im Kreis um den charismatischen katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar zu evozieren, dessen Bann er in seiner Basler Studienzeit erlag und von dem er sich um der eigenen geistigen Selbstständigkeit willen emanzipieren musste. In seiner Tendenz zur Auflösung der Wirklichkeit und minuziösen Protokollierung innerer Bewusstseinsvorgänge erinnert er an die Prosa von Valéry und Techniken des nouveau roman.

"Calabria" ist insofern ein wichtiger Bestandteil von Raebers Werk, als es ihm hier darum geht, die sinnliche Erfahrung einer mythischen Dimension des Raums zu vermitteln. Gerade der Katholizismus im Süden Italiens besitzt für Raeber noch Ingredienzien aus heidnischer Zeit, die ihn für sein Verfahren einer erzählerischen Vernichtung der Chronologie und für sein Projekt der Errichtung einer universalen Kathedrale der Kunst fruchtbar werden lassen.

"Die Düne" hat eine langwierige Entstehungsgeschichte, die von 1958 bis 1964 reicht. Raeber hat den Text mehreren Überarbeitungen und vor allem Streichungen unterzogen, so dass ein Kurzroman übrig blieb. In den sechs Kapiteln experimentiert Raeber mit der Verschachtelung verschiedener Zeitebenen und Spielorte sowie mit der Erfindung von Spiegel- oder Komplementärfiguren. Mit dem forcierten Konstruktivismus der Erzählstruktur kontrastiert indes die recht konventionelle Sprache. Interessant für die Entwicklung von Raebers Schreiben ist "Die Düne" unter thematischem Aspekt. Erstmals unternimmt der Autor es hier, mit der Beziehung zwischen dem Mythologieprofessor Diego und dem Knaben Domingo ein homosexuelles Liebesverhältnis zu schildern und damit eines seiner wichtigen Anliegen in Angriff zu nehmen: "die Gegensätze zu überwinden, das Fleisch im Geist darzustellen, den Geist in Fleisch zu verwandeln." Dieser brieflichen Äusserung vom November 1961 über "Die Düne" lässt sich ein Tagebucheintrag von 1957 an die Seite stellen, in dem Raeber von der inneren Heraufkunft eines sein Leben wendenden Urbilds spricht: "Der Jüngling, in dem alle Möglichkeiten offen daliegen, der unschuldig ist, weil er nicht adaptiert ist, dessen Seele noch ungestutzt fliegt [...]. Es ist nur mit dieser neuen Erfahrung ein Anteil am Vollkommenen, eine Teilhabe am Göttlichen möglich geworden." Auf dem Hintergrund dieser Formulierung ist es nicht abwegig, Raebers spätere Jünglingsgestalten auch als Postfigurationen von Georges Maximin-Erlebnis zu deuten. Immerhin verbindet beide über die Fixsternposition des Jünglings hinaus die Prägung durch ein katholisches Milieu und die zentrale Stellung des Opfers in ihrem literarischen Werk.

Dieses Motiv tritt in zahlreichen Erzählungen der "Missverständnisse" in den Mittelpunkt. Zu erwähnen wäre etwa der Text "Die Tränen", der von dem Knaben Salvatore handelt, dessen Mutter an einer Keramikmadonna eine Tränenerscheinung beobachtet und dadurch beinahe als Heilige verehrt wird. Salvatore, der sich immer schon vor der Mutter gefürchtet hat, nimmt, wenn das Kultbild weint, einen Gefährten mit in die nahe gelegenen Grotten und beginnt dort sein Mordhandwerk. Das Ritual der Zurichtung des Opfers besteht dabei sowohl aus Peinigungen als auch aus Liebeshandlungen. Salvatores Opfer erscheint als Komplementärhandlung zu dem Tränenwunder, das die anbetenden Kranken gesunden läßt. Die Erlösung, die er bringt - und sein Name ist deren Siegel -, ist nicht Wiedergewinnung körperlicher Unversehrtheit, sondern Überführung des Körpers in den haltbaren Zustand der Reliquie. Der Erzählung "Die Tränen" kann der Status eines Schlüsseltextes in Raebers Werk zugesprochen werden. In dem antithetischen Verhältnis von Salvatore und seiner Mutter kann man bereits die Antizipation der traumatischen Mutter-Sohn-Beziehung in dem Roman "Das Ei" erkennen. Mit ihrer Verschlingung von Opfer und Erlösung, Gewalt und Liebe, Mumifizierung und Entfleischlichung verweisen "Die Tränen" auf zentrale Elemente des späteren Prosawerks. Unter stilistischem Aspekt bilden die Erzählungen der "Missverständnisse" einen qualitativen Sprung in Raebers künstlerischer Entwicklung. Sie bedienen sich vom Sujet her aus dem Traditionsbestand des Mythos, der Bibel und der Legenden und unterwerfen dieses Material einer teils radikalen Verwandlung. Zudem belässt es Raeber nicht bei einer semimythologischen oder aktualisierenden Reformulierung, sondern erhebt das Prinzip der Varianz zur integralen Erzählform, d.h. die Texte bieten in sich variante Handlungsverläufe an und operieren auf der Basis der permanenten syntaktischen Varianz. Es entsteht auf diese Weise ein spiralförmig fortschreitendes Erzählen, ein in der Figur der sich wandelnden Wiederholung allmählich sich entpuppendes Äquivalent von Raebers metamorphotischer Weltsicht.

Für diese spiralige Satzbildung und die grundlegende Perspektive eines Als-ob erscheint das den "Missverständnissen" vorangehende Hörspiel "Der Brand" als eine Art Vorübung. Freilich ist es auch antizipatorisch im Blick auf das zentrale Motiv des reinigenden Feuers und die poetologisch aufgeladene Gestalt des Heiligen Laurentius in Raebers Spätwerk.

Die vorliegende Zusammenstellung bekannter und unbekannter Prosa aus den sechziger Jahren macht so die erzählerische, thematische und dichtungstheoretische Entwicklung von Raebers Werk ein Stück transparenter, woran der informative Apparat erheblichen Anteil hat.

Titelbild

Kuno Raeber: Die Lügner sind ehrlich. Calabria. Die Düne. Der Brand. Mißverständnisse. Erzählende Prosa.
Herausgegeben von Christiane Wyrwa und Matthias Klein.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2003.
517 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3312003008

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