Der Chronist des Augenblicks

Rainald Goetz' Internet-Tagebuch ist bei Suhrkamp erschienen

Von Günther FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"1112.41. Chronist des Augenblicks. Ich wollte mal einen Tag lang hier nur Zeitziffern notieren, einfach so, jedes Mal wenn ich auf die Uhr schaue, weil das so schön ausschaut, nur diese Ziffern, die so viel bedeuten, aber letztlich sind mir solche experimentellen Kaspereien dann eben doch immer wieder nach kürzester Zeit zu blöd. Oder anders gesagt, was ist der Unterschied zwischen Hanne Darboven und On Kawara? Er ist weise, sie verrückt. Und weise bin ich nun eben mal nicht."

Ein Autor gibt Einblick in seine Tätigkeit, lässt uns an seinem Alltag teilhaben, an seiner Lust und Unlust, an seinen reflektierten und an seinen eher simplen Überlegungen, notiert auch noch den kleinsten Gedankensprengsel - und stellt seinen so genannten "Abfall" täglich ins Internet. Ein Jahr lang. Goetz lässt sich, wie seine Inspirationsquelle Niklas Luhmann sagt, beim Beobachten beobachten. Gedruckt ergibt das jetzt immerhin einen 864 Seiten dicken, roten Ziegelstein von Buch.

Dichter-Alltag und dichter Alltag im 24-Stunden-Rhythmus also: Lektüre-Zettel, Erlebnis-Notizen, Pop-Beobachtungen, gelungene und weniger gelungene rhetorische Schlenker, Häppchen-Poesie - herrliche Nebensächlichkeiten, die sich im Laufe eines Jahres eben so ansammeln. Das mag sich flüchtig lesen, beim Nachlesen auch nicht immer konzentriert wirken - doch wer sich darauf einlässt, ist an Goetz tatsächlich näher dran als man es bei einer Lesung je sein könnte.

Erstaunlich ist, wie sehr Goetz - trotz oder vielleicht wegen des eigentlich technischen Mediums Internet - seiner Schreibtechnik treu bleibt: Wie schon in seinem ersten Roma "Irre" (1983) dominiert das Nebeneinander heterogener Einzeltexte nach dem Montageprinzip. Einziger Unterschied zum damaligen Roman: die durchgängige Zentrierung auf eine Figur, eben auf Goetz selbst. Und doch ist es mehr als ein simples Tagebuch: In der Zeit, in der er sein Internet-Tagebuch erstellte, erschien auch der Techno-Roman "Rave" und das Stück "Jeff Koons". Außerdem las Goetz an der Frankfurter Universität. "Abfall für alle" ist somit ein riesiger Werkstattbericht, ein Blick in ein permanent arbeitendes Textlabor - mit all seinen gelungenen und fehlgeschlagenen Versuchen. Dass er dabei so viel Nähe zulässt, auch einen Blick auf seine Schwächen erlaubt, virtuos mit Witz und Unsinn spielt - das macht diesen "Roman eines Jahres" - so der Untertitel - lesenswert und den Autor sehr sympathisch.

Titelbild

Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
800 Seiten, 25,60 EUR.
ISBN-10: 3518410946

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