Der Fackelkraus-Mythos

Friedrich Rothes Karl Kraus-Biographie

Von Walter FantaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Fanta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die erste umfassende Biographie des Dramatikers, Satirikers und "Fackel"-Herausgebers Karl Kraus (1871-1936) ist nicht für Wissenschaftler und schon gar nicht für Kraus-Spezialisten geschrieben, sondern dem breiten an der Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Moderne interessierten Leserpublikum gewidmet. Sparsam gesetzte Anmerkungen mit Quellennachweisen erleichtern die nicht in erster Linie forschungsorientierte Lektüre, die bei Biographien übliche Zeittafel aber und eine Bibliographie fehlen; Die Darstellung erfolgt nicht chronologisch, in acht Kapiteln werden die Themen behandelt: "Mir fällt zu Hitler nichts ein" / Der Wiener Satiriker und die deutsche Hauptstadt / Ein "jüdischer" Antisemit / Der "moralische Niedergang" der Fackel / Dreimal Berlin & retour: Kraus, Loos und Kokoschka / "Sehnsucht nach aristokratischem Umgang" / Der Vorleser und sein Publikum / Mitstreiter und Erben: Loos, Schönberg, Wittgenstein und die "Frankfurter Schule".

Der Literaturhistoriker Friedrich Rothe (geb. 1939) leitet in Berlin eine Kunstgalerie; in der Karl-Kraus-Forschung ist er ein Außenseiter. Gerade weil sie von einem Nicht-Österreicher und Nicht-Kraus-Spezialisten geschrieben ist, gelingt Rothes Biographie in der Diskussion um Karl Kraus eine Perspektivenverschiebung.

Innerhalb der Biographik stellen Schriftstellerbiographien einen Sonderfall dar, haben sie doch in einer Weise stets die nach dem Muster von Dichtung und Wahrheit gestrickten literarisch verhüllten oder angeblich autobiographisch enthüllenden Selbstzeugnisse der Dichter als Prätext vor sich. Im Umgang mit der biographischen Wahrheit im Dichterleben lassen sich drei Verfahren feststellen: 1. Die historische Schriftstellerbiographie, die unbesehen von literarischen Verhüllungs- und Entblößungsstrategien der Wahrheit im Leben auf den Grund gehen möchte; 2. Die literarische Schriftstellerbiographie, welche sich der Rekonstruktion der Werkgeschichte(n) und der biographischen Realien in den literarischen Texten annimmt; 3. Die diskursive Schriftstellerbiographie, die versucht, die literarhistorische Stellung des jeweiligen Autors neu zu bestimmen bzw. einen biographischen Beitrag zu dem Diskurs zu leisten, der sich um den Dichter rankt.

Rothe ist ein Vertreter des dritten Typus. Er hat keine unpublizierten Dokumente aus Archiven ausgegraben. Auch die Auseinandersetzung mit dem Werk rückt bei ihm eher an den Rand, zum Beispiel ist von Kraus' Arbeit an seinem Hauptwerk, dem Drama "Die letzten Tage der Menschheit" bloß kursorisch die Rede. Ohne seine Vorgehensweise in einer Einleitung zu begründen, setzt sich Rothe statt dessen mit dem positiven und negativen Kraus-Mythos auseinander, er korrigiert das Bild von Karl Kraus in seiner öffentlichen Wirkung. Die Diskursivierung des Kraus-Mythos durch Rothe verdient es wohl, ernst genommen zu werden. Die Kraus-Biographie aber wird noch zu schreiben sein.

Im ersten und wichtigsten Abschnitt des Buchs demontiert Rothe die weit verbreitete Vorstellung von einem Scheitern des Satirikers Kraus angesichts des Nationalsozialismus, er legt überzeugend dar, dass das Bild vom resignierten und sich hinter den austrofaschistischen Minidiktatoren Dollfuß und Schuschnigg versteckten Fackel-Herausgeber, der sich in seiner Spätzeit bereits selbst überlebt habe, falsch ist. Kraus näherte seinen politischen Standort dem der Kommunisten an, arbeitete in Berlin Ende der Zwanziger Jahre u. a. eng mit Brecht zusammen, experimentierte mit den neuen Medien Radio und Film und entwickelte 1933/34 in der Fackel und in der "Dritten Walpurgisnacht" eine überzeugende publizistische Gegenstrategie gegen Hitler.

Ein weiteres Bild, dem Rothes Darstellung kritisch begegnet, ist das vom Weiningerianer Kraus, vom prononcierten Repräsentanten eines jüdischen Selbsthasses und jüdischen Antisemitismus. Die Biographie entfaltet ein sehr differenziertes Bild von Kraus' Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft, seiner sozioökonomisch orientierten Kritik am Jüdischen und dem persönlich-erotisch motivierten jüdischen Minderwertigkeitskomplex, der bei Karl Kraus auch zu Tage tritt. An Ausführlichkeit und Detailliertheit lassen die Ausführungen zu diesen Fragen nichts zu wünschen übrig, wennschon man es dem Biographen auch als Vorzug anrechnen darf, dass seine Nachzeichnung der amourösen Verwicklungen (Sidonie Nádherný) nie ins Indiskrete und Peinliche geht.

Claudia Magris hat in seiner legendären Darstellung des "habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur" Karl Kraus und den "letzten Tagen der Menschheit" ein eigenes Kapitel gewidmet und versucht, auch Kraus eine Verhaftetheit in der Metaphorik der politikfernen österreichischen Literaturtradition nachzuweisen. Dass Kraus ein Faible für das Volkstheater Nestroys, für Wiener Lokalkolorit, für den aristokratischen Meltingpot der Wiener Gesellschaft vor der Katastrophe hatte und sich auch privat gern in Aristokraten-Gesellschaft drängte, dieser widersprüchlichen Seite an Kraus verschließt sich auch Rothes Darstellung nicht.

Doch überrascht die Biographie mit dem Gegenbild einer auf Berlin und Deutschland ausgerichteten Produktivität und Wirkung des Bismarck-Verehrers Karl Kraus. Zweimal versuchte der Wiener Satiriker, im Deutschen Reich Fuß zu fassen, einmal um die Jahrhundertwende, das zweite Mal gegen Ende der Zwanziger Jahre. Die bedeutendste Kraus-Rezeption ortet Rothe nicht in Wien, sondern in Berlin und Frankfurt, bei Benjamin, bei Adorno und der Frankfurter Schule, er sieht die Kraus-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg von der Bundesrepublik ausgehen. Die im österreichischen Kraus-Bewusstsein besonders präsente Rolle des Fackelherausgebers im Krieg 1914-1918 und in der österreichischen Nachkriegsrepublik stuft Rothe in ihrer Bedeutung dagegen zurück.

Rothes Kraus-Porträt ist von Zustimmung und Sympathie getragen; der Biograph versucht ein menschliches Bild von Kraus und seinen persönlichen Leidenschaften zu entwickeln, gegen die Vorstellung vom Satiriker als einem, der mit der Welt verfeindet in seiner radikalen Sprachkritik unentwegt alles entwertet wie eine Maschine. Durch Rothe wird es möglich, den Fackel-Schreiber und den Vortragenden Kraus mehr von seiner schauspielerischen Ambition her und die öffentliche Wirksamkeit in ihrer Rollenbezogenheit zu begreifen. Kraus setzte seine Zeitschrift (und damit auch sein Vermögen), seine Schauspielergabe, seine sektiererische Anhängerschar und seine Feinde ein, um eine sich selbst gestellte öffentliche Rolle zu spielen: die des Aufklärers.

Links zu weiteren Besprechungen:

http://home.arcor.de/karger/buechernachlese-archiv/uk_rothe_friedrich_karl-kraus.html

www.literaturhaus.at/buch/fachbuch/rez/RotheKraus/

http://www.orf.at/031013-66334/66336txt_story.html

Titelbild

Friedrich Rothe: Karl Kraus. Die Biographie.
Piper Verlag, München 2003.
423 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3492041736

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