Sturm auf die Trennburg

Dieter Wuttke unter dem Banner der Transdisziplinarität

Von Gudrun SchuryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gudrun Schury

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vermutlich ist die Lektüre der Wochenzeitung "Die Zeit" unter Literaturwissenschaftlern weit verbreitet. Schließlich bietet deren Feuilleton solide Literaturkritik und anregende Essayistik. In dem Teil der Zeitung aber, die mit "Wissen" überschrieben ist, sind Germanisten bloß lesende Gäste. Sie erfahren etwas über Gentechnik und Gehirnchirurgie, Magersucht und Marssonden, Klima- und Schlafforschung. Ihre Kollegen der eigenen Fakultät scheinen nichts zu wissen. Jedenfalls kommen sie dort nicht vor. Als einer der vermeintlich mehr exakten Zweige der Disziplin erhält höchstens ab und an die Linguistik das Wort. Die Botschaft ist klar: Wissen, das meint naturwissenschaftlich-mathematisches Wissen; die sich mit Bildern, Tönen oder Wörtern beschäftigen, sollen gefälligst unter sich bleiben auf ihrer Spielwiese des Schöngeists.

Dieter Wuttke nennt das den "Trenn-Zwang". In seinem Büchlein "Über den Zusammenhang der Wissenschaften und Künste" führt er diese Mentalität des Scheidens auf das 19. Jahrhundert zurück, als die immensen Erfolge der empirischen Forschungen einen Graben zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften samt Mathematik aufrissen. Zuvor, mehr als zwei Jahrtausende lang, war es den Denkern nicht um die Abgrenzung von Materie und Geist, von Natur und Seele gegangen, sondern stets um deren Zusammenhänge. "Denn alle Künste und Wissenschaften", so formulierte bereits Cicero, "die dem menschlichen Wesen eigen sind, sind untereinander verwandtschaftsartig verbunden". Königsdisziplin war bis vor eineinhalb Jahrhunderten die Philosophie, unter deren Purpurmantel ein ganzes Volk unterschiedlichster Gelehrter Platz fand. Es genügt bereits, die Inhaltsverzeichnisse der Werke von Kant, Lichtenberg oder Goethe zu lesen, um die erstaunliche Komplexität des damaligen Erkenntnisdrangs zu erfassen. Man beschränkte sich eben nicht auf den Schusterleisten des Theoretisierens und Schreibens, sondern betrieb Grundlagenforschung in Astronomie, Botanik, Geologie, Meteorologie oder Physik. Mit dem Verständnis vom Wesen der Philosophie als umfassender Weltdeutungsdisziplin ging eine Koexistenz der Künste einher. Wie die Malerei und der Tanz, die Musik und die Poesie, so waren auch Medizin und Mathematik Künste, deren Beherrschung zugleich von Fleiß und Begnadung zeugte. Frucht dieser Auffassung ist die poetische Gattung des Lehr-Gedichts. Wuttke zitiert ein Epigramm von Theodoricus Ulsenius aus dem Jahr 1496, in dem einer "artium conjunctio", einer Verbindung von ärztlicher und poetischer Kunst gehuldigt wird. Überhaupt hält uns Wuttke einmal mehr den Spiegel des Humanismus vor, dem "ein umfassendes Bildungskonzept" eignete.

Wir aber sind inzwischen heimisch geworden in unserer sauber parzellierten Wissenschaftswelt. Schon bei der Suche nach dem richtigen Gymnasium für Sohn oder Tochter entscheidet man sich für eine der Monokulturen. Das geht dann so weiter an der Universität, in den Forschungsinstituten und der Sekundärliteratur. Gegen diese "festsitzende Mentalität" nun, den "Trenn-Zwang", zieht Wuttke zu Felde. Mit dem Banner der Transdisziplinarität in der Hand berennt er eine schwer einzunehmende Festung: die "Trennburg". Das Kuriose an dieser Attacke, bei der Wuttke immerhin Mitstreiter wie Max Planck, Georg Simmel, Max Weber, Aby M. Warburg, Erwin Panofsky, Thomas Mann, Robert Musil, Hermann Broch, Hans Wollschläger, Wolfgang Schadewaldt, Albrecht Schöne aufzählt, ist allgemeiner Beifall bei gleichzeitiger Beharrlichkeit. Auf beiden Seiten hat man sich an die Feldzeichen des vermeintlichen Gegners gewöhnt: hier exakt-deskriptive Forschung, dort deutende Annäherung.

Freilich ist die Abgrenzung der "Zwei Kulturen" (Geisteswissenschaften contra Naturwissenschaften plus Mathematik) heute so wenig wie zu Pirckheimers Zeiten geeignet, der zunehmenden Komplexität des Wissens gerecht zu werden. Wuttkes Rat: kulturwissenschaftlich denken! Er verweist auf den verblüffend einfachen Gedanken, Geisteswissenschaft sei nichts anderes als die Naturwissenschaft der kulturellen Welt; Naturwissenschaft wiederum sei ja keine Funktion der Natur, sondern eine kulturelle Äußerung des Menschen: "Zwischen der Beschreibung der Struktur eines Schmetterlingflügels und der eines Gedichtes sehe ich keinen prinzipiellen Unterschied, auch keinen Rangunterschied." Ein Satz, der sein Bild nicht zufällig wählt, erinnert er doch an einen weiteren Gewährsmann Wuttkes, einen genialen Dichter und großen Entomologen. "Es gibt keine Wissenschaft ohne Phantasie und keine Kunst ohne Fakten", schrieb Vladimir Nabokov.

Er könnte Vorbild sein für "eine neue Mentalität der Gleichberechtigung" zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Und dabei denkt Wuttke genuin pädagogisch, im Sinne einer éducation engagé. Er hat zwei Ziele: die Überwindung der herrschenden Mentalität, die immer noch einer Trennung in Zwei Kulturen das Wort redet, und die Beförderung einer Osmose der Künste und Wissenschaften in dem Sinn, dass künstlerisches Denken in der Forschung einerseits, wissenschaftliche Erkenntnisse der Künste andererseits sich durchdringen.

Noch besteht der Wortbedeutungshof von "Wissenschaft" aus Vorstellungen von chemischen Laboren und Weltraumbahnhöfen. Wenn "Jugend forscht", so forscht sie nicht über Globalisierung, die Stücke Elfriede Jelineks oder die Tradition von Straßenmusik. Anita Albus, Malerin, Autorin und Gelehrte zugleich, beschreibt das in ihrem Werk "Die Kunst der Künste" als "Sündenfall der Trennung von Geist und Natur". Ihr, "die repräsentiert, wovon der Autor spricht", ist das Buch gewidmet.

Titelbild

Dieter Wuttke: Über den Zusammenhang der Wissenschaften und Künste.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2003.
123 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3447048050

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch