Die Klinge des Saturn

Geschichte und Gegenwart von Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers"

Von Wolfram Malte FuesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfram Malte Fues

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Buch hat Martin Walser nach Meinung einer gewissen Fraktion des deutschen Feuilletons geschrieben? Ein gelungenes oder ein misslungenes? Ein überzeugendes oder ein abstoßendes? Ein spannendes oder ein langweiliges? "Das alles wären [...] nur Kategorien für ein 'schlechtes' oder 'gutes' Buch. Ich aber halte Ihr Buch für ein Dokument des Hasses." So Frank Schirrmacher in seinem offenen Brief in der "F. A. Z.", mit dem die Debatte beginnt. Nicht dass Schirrmacher nicht wüsste, er habe es mit Literatur, mit Fiktion zu tun. "Ich bin imstande, das literarische Reden vom nichtliterarischen zu unterscheiden." Aber ich will nicht. Hier und jetzt ganz und gar und durchaus nicht.

Kein gutes Buch also. Aber auch kein schlechtes. Gar kein Buch. Vielmehr ein Dokument, das, er mag es wollen und wissen oder nicht, Zeugnis über seinen Autor ablegt. Für ihn oder gegen ihn. Und was bezeugt es, Schirrmacher zufolge? "Es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker [...] Es geht um den Mord an einem Juden." Hätte also Walser seinen André Ehrl-König als Kritiker ermorden, als Juden, als Person aber leben lassen (denn wer so ohne Umschweife vom Juden spricht, wie Schirrmacher es tut, muss wohl Judentum und Persönlichkeit gleichsetzen), dann wäre sein Buch möglicherweise immer noch schlecht, aber es wäre immerhin ein Buch und kein "Dokument des Hasses", in dem es gar nicht um Medienkritik, sondern um Antisemitismus geht. Walsers Text führt einen falschen, täuschenden Titel: "Tod eines Juden" müsste er lauten, und nicht "Tod eines Kritikers". Diese Meinung hat Schule gemacht. Walser zeichne "einen widerlichen Kritiker als Juden" schreibt Ruth Klüger in ihrem offenen Brief an ihn in der "Frankfurter Rundschau" vom 27. Juni 2002. "In diesem Buch spricht immer nur eine Stimme", findet Jan Philipp Reemtsma in seiner ausführlichen Besprechung vom 27. Juni 2002 in der "F. A. Z." Alle übrigen, den Roman figurierenden Stimmen gelten ihr gegenüber nichts, weil sie alle "von ähnlichen Affekten getragen werden, nämlich denen des Autors". Kein Erzähler, kein Erzählen, keine Figuren. Ein unfreiwilliges Zeugnis dessen, der dieses Dokument verfasst und veröffentlicht hat, ein Bekenntnis zum Antisemitismus, ein "antisemitischer Affektsturm". Wie Reemtsma im gleichen Zug behaupten kann, "ich spreche nota bene über den Text", über einen Text, der sich bereits auf seinem Titelblatt "Roman" nennt, in dem nota bene also nie der Autor sprechen kann, sondern nur ein von ihm geschaffener Erzähler, bleibt sein Geheimnis. Nein, vielleicht nicht ganz. Denn, so Reemtsma:

"Das, was seinem durch die Kritik verletzten und zwischenzeitlich verrückt gewordenen Hans Lach widerfährt, widerfährt Walser auf dem Papier. Er erlebt schreibend jene Dekompensation, die seiner Romanfigur von ihrem Arzt zugeschrieben wird."

Sind wir bis jetzt, ungefähr seit Goethes Äußerungen über die "Leiden des jungen Werthers" im Verhältnis zu seinen eigenen, davon ausgegangen, dass der Autor seine Stimme aufgibt, indem er sie dem Erzähler übereignet, dass also Macht und Wirkung der epischen Rede auf ihrer Unpersönlichkeit und gerade nicht auf ihrer Personifizierbarkeit beruhen, kehrt Reemtsma dieses Verhältnis mit einem kühn unmittelbaren Griff einfach um. Während der Autor nämlich die Leidensgeschichte Hans Lachs zu Papier bringt, bringt ihn die plötzlich mit seiner eigenen auf dasselbe Papier, so dass sich der Roman, indem er geschrieben wird, zugleich in jenes persönliche "Dokument des Hasses" verwandelt, von dem bereits Schirrmacher spricht. Die Absicht dieses Kunstgriffs liegt darin, ausgehend von einer Figur des Romans auf dem Weg des Analogieschlusses dessen Verfasser zu pathologisieren. Reemtsma, der André Ehrl-König ohne Umschweife mit Marcel Reich-Ranicki gleichsetzt, nennt den Umgang des Buches mit seiner Hauptfigur "eine literarische Barbarei". Ist der Versuch, einen Autor durch den Umgang mit seinem Buch für einen klinischen Fall zu erklären, keine?

Reemtsma steht mit diesem Versuch nicht allein: "Von antisemitischen Grundmustern bestimmt ist Martin Walsers Roman: aus tiefstem Grund, aus jenen Tiefenschichten des Bewusstseins, deren Unwillkürlichkeit vielleicht der Nachsicht bedarf." (Elke Schmitter) Vielleicht eher der Nachbehandlung, der Therapie? Auch für Schmitter steht offenbar fest, dass Martin Walser kein Buch geschrieben, sondern ein Dokument über sein innerstes Selbst vorgelegt hat, ein Dokument, das nicht bloß anzweifelbare Behauptungen und Formulierungen enthält, sondern, den Willen seines Verfassers unterlaufend, "den wohl machtvollsten Antisemitismus der an solchen Ausfällen nicht armen deutschen Geistesgeschichte". Das aber ist ein Schicksal, das uns alle treffen kann.

"Niemand, der die europäische Kultur mit Sinnen aufgenommen hat, kann frei sein von antisemitischen Stereotypen [...]. Der Antisemitismus ist so tief in das meiste eingelassen, dass wir tatsächlich ständig aufgefordert sind zu prüfen: Was nehmen wir mit - und was lassen wir auf dem Müllhaufen der Geschichte?"

Daraus folgt: Alle gebildeten Europäer sind Antisemiten. Je gebildeter, desto antisemitischer. Also müssen wir - je gebildeter, desto tiefer - den Müllhaufen der Geschichte ständig daraufhin durchwühlen, was wir von ihm wegtragen und was wir auf ihm liegen lassen. Nun fragt sich: Ist dieser Müllhaufen so übersichtlich und so genau geordnet, dass er den tief in ihn eingelassenen Antisemitismus ein für allemal kenntlich werden lässt? Trägt das Antisemitische seinen Namen für alle lesbar an der Stirn? Ist der Gegensatz zwischen dem Antisemitischen und dem Nicht-Antisemitischen metaphysisch oder selber historisch? Hält der Müllhaufen still oder ist er, sein Oberstes zuunterst kehrend, in ständiger Bewegung, so dass man, ihn verschiebend und als ein Teil von ihm mit ihm geschoben, sein prüfendes Urteil an der Verschiebung selber verschiebend überprüfen muss, immer auf der Suche nach den Kategorien, nach denen man sich dabei zu richten hat? Keine Sorge. Elke Schmitter fordert uns zu der genannten Überprüfung kategorisch auf. Sie muss also die in dieser Forderung enthaltenen Kategorien kennen und sie allgemein und notwendig anzuwenden verstehen. Sie weiß immer und jederzeit, ob wir richtig prüfen, wenn wir prüfen. Wenn wir uns irgendwo irgendwie unsicher sind, müssen wir sie bloß fragen. Sie weiß es. Ganz sicher. Und da sage noch einer, das selbst-souveräne bürgerliche Subjekt sei daran, zu verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.

"Roman" steht unten links auf dem Titelblatt. Ich bin ein Buch, sagt das Buch, ein gutes oder ein schlechtes, aber in jedem Fall ein Buch und kein "Dokument des Hasses". Wie geht die Fraktion des deutschen Feuilletons, die hier in Rede steht, mit dieser Aussage um? Hören wir dazu als ersten wieder Frank Schirrmacher, der sich ja die Fähigkeit, "das literarische Reden vom nichtliterarischen zu unterscheiden", ausdrücklich bescheinigt. Aber: "Die Burgtore des Normativen, der literarischen Tradition und Technik stehen Ihnen als Zuflucht nicht offen." Dieses zunächst ein wenig verwirrende Bild fasst erstens literarische Tradition und Technik offenbar als Norm, als normierend im Sinn jener Regelpoetik auf, die von Renaissance und Humanismus bis in die späte Aufklärung reicht, um sich dann in Genie-Aesthetik und Universalpoesie aufzuheben. Solche normative Regelpoetik steht nun zweitens nicht nur wie eine feste Burg im wilden Meer der sie umbrausenden und umspülenden nichtliterarischen Reden, sie bietet auch Zuflucht, Schutz vor den allen Beziehungs- und Vermittlungsreichtum gefährdenden Notwendigkeiten gesellschaftlicher Diskursivität. Auch für Schirrmacher scheint ",ästhetische Erziehung' ein angenehmer Traum" zu sein, "denn in der wirklichen Welt, worin wir leben [...], geht alles fort in concreto, und ganz unpoetisch nach dem lege continui, welches nicht den geringsten Sprung der Einbildungskraft zulässt" (Friedrich Nicolai). Also auf der einen Seite der allem politischen und moralischen Anspruch ausgesetzte Kontext der gesellschaftlichen Wirklichkeit und auf der anderen der von diesem Anspruch reine und vor ihm geschützte Text der Literatur? Ist das der Begriff kunstbegründender Fiktion, wie er sich mit der Renaissance zu entwickeln beginnt?

"Wer nachahmen will, muss darauf achten, dass das, was er schreibt, [seinem Modell] ähnlich, aber nicht identisch mit ihm wird [...], [von der Art der Ähnlichkeit] zwischen einem Sohn und seinem Vater. Obwohl sich bei diesen oft große Unterschiede zwischen den einzelnen Körpergliedern ergeben, existiert etwas Schattenhaftes [umbra quaedam] und [...] eine gewisse Ausstrahlung [aerem], [...] worauf jene Ähnlichkeit beruht, die uns an den Vater erinnert, sobald wir den Sohn sehen - obwohl alle Teile, würde man sie messen, sich als verschieden herausstellen würden. Hier waltet etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles, dem diese Kraft innewohnt. So sollten auch wir dafür sorgen, dass, wenn etwas genau gleich ist, vieles andere ungleich sei und dass das, was gleich ist, geschickt verborgen wird, so dass die Ähnlichkeit nur durch das stille Befragen des Geistes erfasst werden kann, dass sie erkennbar, aber nicht beschreibbar sei." (Petrarca)

Die Herkunft des Sohnes vom Vater bestätigt sich, ohne sich auszusprechen. Die Linien der Genealogie, die beide verbindet, fächern sich angesichts der Unterschiede, die sie trennen, zu etwas Schattenhaftem, einem stummen Zeichen auf, in dem sie alle Wendungen ihrer Stammesgeschichte annehmen und nichts von ihrer einfachen Kontinuität bleibt als deren bloßes Dasein. Wer den Sohn sieht, wird an den Vater erinnert, ohne dass er mit Bestimmtheit sagen könnte, welchen Weg diese Erinnerung einschlägt und welche Länder sie dabei berührt. Genauso muss es Petrarcas Text zufolge auch zwischen der zu beschreibenden Realität und der sie beschreibenden Fiktion zugehen. Während das Beschreibende sich mit dem Beschriebenen zu identifizieren scheint, weicht es im Licht dieses Scheins von ihm ab, aber so, dass dieser Unterschied ohne jene fortbestehende Übereinstimmung nicht zu erkennen wäre. Identität und Differenz überlagern sich; was sich zeigt, beruht auf dem, was es verbirgt, und das Verborgene durchzeichnet das, was sich zeigt. So liegt in der Beziehung zwischen Realität und Fiktion "etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles": eine Ähnlichkeit, die auf Bestimmtheit drängt und sie in diesem Drängen gerade vereitelt, so dass sie "erkennbar, aber nicht beschreibbar" wird, weil jede Beschreibung sie definieren, vereinseitigen würde und ihr damit Unrecht täte. Das Fiktionale begleitet und umgibt das Reale wie die Luft einer anderen Realität, in der sich das Verwirklichbare und das Unwirkliche zu eigentümlicher Ausstrahlung brechen und durchdringen. Keine Rede also von rein ästhetischen, vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit geschützten Texten, keine Spur von Zufluchten und Fluchtburgen. Wenn Politik nach wie vor die Kunst des möglich Wirklichen aus der Einsicht ins möglicherweise nicht zu Verwirklichende darstellt, dann bildet die literarische Fiktion noch immer Grundmodell und Strukturmuster politischen Handelns.

Derartige Fiktionalität gestehen einige von Walsers Kritikern dem Roman, seinem Roman zu. Aber: "Kein Roman, und dieser schon gar nicht, ist nur Artefakt. Er bezieht sich immer auch auf Wirklichkeit und stellt sie her, indem er erscheint. Er ist also [...] für das verantwortlich, was er in die Welt setzt." (Ulrich Greiner) Das leuchtet auf den ersten Blick ein. Nur: Was verlangt es vom Erzähler, genauer: Was verlangt es dem Erzählen ab? In welche Welt setzt denn der Erzähler seinen Text? In die Welt der Leserinnen und Leser, die sich, um bei Petrarca zu bleiben, nicht damit begnügen können, die Überlagerung des Fiktionalen und des Realen zu erkennen, um die Ausstrahlung der ihr eigentümlichen Realität wahrzunehmen, sondern, wollen sie verstehen, was sie lesen, diese Realität beschreiben, bestimmen, definieren müssen. Interpretierend, ihren Ort, ihren Standpunkt zwischen dem Realen und dem Fiktionalen aussprechend, sollen und müssen sie dem Text jenes vereinseitigende Unrecht tun, das er als sein Recht von ihnen fordert und das sie im (Streit)Gespräch über ihn ebenso verlängern wie tilgen. Übernähme er nun die Verantwortung für das, was er in die Welt setzt, müsste er in die Überlagerung des Fiktionalen und des Realen zugleich deren Definition setzen und sich damit selbst jenes Unrecht tun, dessen Entfaltung und Bereinigung seinen Leserinnen und Lesern vorbehalten bleibt. Interpretierte er sich selbst, normierte er im Erzählen sein Erzählen, gäbe er seine eigentümliche Ästhetik und damit sich als Artefakt preis. Wenn, wie Ingo Arend in seiner sorgfältig differenzierenden Kritik meint, "in der äußersten Überdehnung seines Fiktionsmaterials auf das wahre Leben hin [...] die gefährliche Kraft dieses Buches" liegt, dann nutzt Walsers Roman nur die gefährliche Kraft der Literatur überhaupt, die das wahre Leben ebenso sehr auf die Fiktion wie die Fiktion auf das wahre Leben hin bis zum äußersten spannt und überdehnt.

"Tod eines Kritikers" steht schräg rechts unten auf dem Titelblatt (und nicht: Tod eines Juden). Der Roman muss also wohl in irgendeiner Weise mit Medien, Medialität, Medienkritik zu schaffen haben. Wie geht die Fraktion des deutschsprachigen Feuilletons, die hier in Rede steht, mit diesem Sachverhalt um? Wenig, fast gar nicht. Für die meisten erschöpft sich die Kritik in der Ähnlichkeit zwischen André Ehrl-König und Marcel Reich-Ranicki und der Frage, wie enthüllend, entlarvend, verzerrend, verletzend sie ausgefallen sei. Dass wir uns zu Tode amüsieren, wissen wir dank Neil Postman seit geraumer Zeit, und wie wir das vor dem Bildschirm tun, hat Eckhard Henscheid in seinem schrecklich schönen Fernseh-Roman "Beim Fressen, beim Fernsehen fällt der Vater dem Kartoffel aus dem Maul" erschöpfend beschrieben. Dennoch: Geht es in Walsers Buch um "d i e Medien" und nicht vielmehr um ein ganz bestimmtes Medium, um das Fernsehen nämlich? Beabsichtigt der Roman also gar nicht Medienkritik, sondern einzig und ausschließlich TV-Kritik? Und last but not least: Wie übt ein Roman Kritik? Kann das ein fiktionaler Text überhaupt, ohne sich zu verleugnen? Wir werden auf diese Fragen zurückkommen müssen.

Während ich mir das Buch vergegenwärtigt habe, das die Fraktion des deutschen Feuilletons, von der bisher die Rede gewesen ist, anscheinend gelesen hat, bin ich je länger je stärker an das Buch erinnert worden, das ich meine gelesen zu haben. Vielleicht wirft der Unterschied einiges Licht auf den Roman, den beide Bücher erzählen.

Die Story ist so bekannt, von der Literaturkritik so oft wiederholt worden, dass sie hier nicht noch einmal nacherzählt werden muss. Aber wer erzählt sie denn eigentlich im Roman? Michael Landolt, der Ich-Erzähler? Er versucht es, aber der Versuch scheitert schon im Ansatz, weil alle, die von diesem Versuch erfahren, ihm durch eigenes Erzählen zuvorkommen. Wer auch immer André Ehrl-König irgendwie, von irgendwoher kennt, muss sein Wissen, seine Erfahrungen, seine Empfindungen zur Erzählung, zu einem Erzähler bringen, der sich im Verlauf des Romans nolens volens in einen Sekretär, einen Protokollführer, einen Chronisten verwandelt. André Ehrl-König verschwindet schon ganz zu Anfang nicht nur aus dem Hof der Verleger-Villa, er verschwindet zugleich als eigenständige Figur aus der Erzählung, in der er bis zum Schluss nur im Erzählen anderer und eines anderen Mediums anwesend sein wird. Zugleich jedoch ist niemand allen Figuren des Romans so gegenwärtig wie er. Was ihnen auch geschieht, was immer sie denken und empfinden, tun und erleiden steht in Beziehung zu ihm, ist in irgendeiner Form von ihm abhängig und macht sie von ihm abhängig. Andre Ehrl-König zieht sich durch die Wirklichkeit des Romans wie ein Nebelstreif, wie ein Spuk, den alle durchschauen, dessen Macht alle aber dennoch anerkennen und fürchten.

Wie nun ist dieses Erzählen in Figurenreden organisiert? Welche Ordnung befolgt es in Absicht auf welche Sinnform? Nach welchen Regeln und mit welchen Mitteln? André Ehrl-König ist zweifellos auf Marcel Reich-Ranicki gemünzt und von ihm inspiriert. Wenn also "Tod eines Kritikers" ein Schlüsselroman ist - was schließt der Schlüssel auf? Durch welche Drehungen in welchem Schloss? Welches Verhältnis des Fiktionalen und des Realen liegt der Beziehung zwischen André Ehrl-König und Marcel Reich-Ranicki im besonderen und dem Romangeschehen im allgemeinen zugrunde?

Michael Landolf, der Ich-Erzähler, schreibt an einem Buch: "Von Seuse zu Nietzsche". Inhalt:

"In die deutsche Sprache kommt der persönliche Ton nicht erst durch Goethe [...], sondern schon durch Seuse, Eckhart und Böhme. Weil das bürgerlich Geschriebene unsere Erlebnis- und Fassungskraft besetzt hat, haben wir, das Publikum, nicht wahrnehmen können, dass die Mystiker ihre Ichwichtigkeit schon so deftig [Deftig? So ein Wort würde Meister Eckhart nicht einmal denken, geschweige denn schreiben (Anm. des Vf.)] erlebt haben wie Goethe und wie nach ihm Nietzsche. Nur waren sie glücklich und unglücklich nicht mit Mädchen und Frauen, sondern mit Gott ... Ich muss das erwähnen, weil durch mein sonstiges Schreiben gefärbt sein kann, was ich mitteile über meinen Freund Hans Lach. Beide, Hans Lach und ich, sind Schreibende."

Schreibende, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: "Er, immer mitten im schrillen Schreibgeschehen, vom nichts auslassenden Roman bis zum atemlosen Statement, ich immer im funkelndsten Abseits der Welt. Mystik, Kabbala, Alchemie." Während das erzählende Ich einer Vergangenheit nachspürt, die nur als sich verbergende gegenwärtig wird, lebt das Ich, von dem es erzählt, in einer Gegenwart, deren Aktualität es zu verkörpern und zu übertreffen versucht. Serenus Zeitblom und Adrian Leverkühn lassen grüßen. Aber zu Beginn des letzten Teils, kurz nach der Landung mit Julia auf der Insel, notiert Hans Lach:

"Die Versuchung, unter dem Namen Michael Landolf weiterzuschreiben, war groß [...]. Durch das, was mir passiert war oder was ich mir geleistet hatte, war in mir ein Bedürfnis gewachsen, aus meinem Namen auszuwandern wie aus einer verwüsteten Stadt [...]. Michael Landolf, ich danke dir dafür, dass du mir Unterschlupf gewährt hast. Und ziehe aus. Scheinbewegungen sind das. Erzähler und Erzählter sind eins. Sowieso und immer. Und wenn der eine sich vermummen muss, um sagen zu können, wie der andere sich schämt, dann ist das nichts als das gewöhnliche Ermöglichungstheater, dessen jede menschliche Äußerung bedarf."

Das erlebende Ich hat sich also ein erzählendes Ich geschaffen, das ihm ermöglicht, zu sich von sich selbst zu sprechen, sich einen Sprach-Bühnen-Raum zu schaffen, in dem es seine Geschichte für sich vorstellen und aufführen kann. Je größer der Abstand zum erzählenden Ich, desto weiter der Raum, in dem das erlebende sich entfalten kann. Die im maßlosen Gewicht Gottes sich aufhebende "Ichwichtigkeit" der Mystiker und die sich ebenso maßlos selbst gewichtende "Ichwichtigkeit" etwa Nietzsches sind im Grund nur gegensätzliche Momente ein und desselben Ichs, dem es um nichts mehr und nichts anderes als seine Selbst-Inszenierung geht. Sollten Landolt/Lach auf der einen und Andre Ehrl-König auf der anderen Seite Verwandte im Geist ein und derselben Subjektivität sein? Wenn aber Michael Landolf eine Erfindung Hans Lachs ist, dann ist auch alles, was diese Erfindung berichtet, ebenso erfunden; dann hat der Erzähler des Romans eine Figur geschaffen, die diese Schöpfung als Fiktion in der Fiktion wiederholt, so dass die Wirklichkeit des Romans sich in eine Möglichkeit verwandelt, die keinen anderen Wirklichkeitsbezug hat als den der sie verantwortenden Figur. Was erzählt mir Hans Lach: eine Novelle, ein Trauma-Protokoll, einen Traum oder alles drei gleichzeitig? Wie auch immer: In Wirklichkeit geschieht nichts, ist auch André Ehrl-König nichts geschehen. Der Roman erzählt, trotz und gerade wegen seiner zahlreichen Realitätsverweise, nur, was hätte geschehen können, was jederzeit geschehen könnte. Und er erzählt sich auf die Wahrnehmung solchen Erzählens hin, weshalb der Roman mit demselben Satz endet, mit dem er beginnt, eine zweite, sich berichtigende Lektüre unter den von ihm hergestellten Bedingungen fordernd, die nun sichtbar machen, welche Sinnform die Erzählstruktur beherrscht und welchen Wirklichkeitswert die ihr eingepflanzten Realitätsverweise haben.

Der erste Text, den Lach an Landolf schickt, trägt den Titel "Versuch über Größe". Er beginnt jedoch mit etwas völlig anderem.

"Zuerst das Geständnis, dass Denken mir nichts bringt. Ich bin auf Erfahrung angewiesen. Leider. Erfahren geht ja viel langsamer als Denken. Denken geht leicht [...] Denken ist großartig. Durch Denken wird man Herr über Bedingungen, unter denen man sonst litte. All das ist Erfahren nicht. Nach meiner Erfahrung, der ich neuestens bis zur Unerträglichkeit ausgesetzt bin."

Ich übersetze: Erfahren geht schwer. Erfahren ist kleinartig und macht kleinmütig. Durch Erfahren wird man Knecht aller Bedingungen, unter denen man leiden könnte. Meint Hans Lach eine besondere Erfahrung?

"Immer öfter merke ich, dass Menschen, mit denen ich spreche, während wir miteinander sprechen, größer werden. Ich könnte auch sagen: Ich werde, während wir sprechen, kleiner. Das ist eine peinliche Erfahrung. Und am peinlichsten, wenn das öffentlich vor sich geht."

Hans Lach redet von Größe im übertragenen Sinn: von Bedeutung, von Macht, von Einfluss. Er könnte sich denken, dass er hier ein Erlebnis in ein Bild fasst, das Bild in seinen Begriff bringen - den der Konkurrenz beispielsweise - und auf diese Weise Herr über die Bedingungen des Erlebnisses werden. Aber das bringt ihm nichts, schreibt er. Er ist auf Erfahrung angewiesen. Und was bringt ihm die schließlich?

"Ich sitze zu Hause an meinem Arbeitstisch, und wenn ich aufstehen will, reichen meine Füße nicht mehr auf den Teppich hinab [...]. Nachts regeneriere ich mich. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, habe ich wieder meine alte Größe. Bis jetzt [...]. Nicht jeder Schlaf bringt gleich viel Regeneration [...]. Wenn mir abends öfter mal zehn Zentimeter fehlen, fehlen mir nach nicht ganz störungsfreiem Schlaf doch noch zwei oder drei Zentimeter. Ich habe von Schuhen gehört, die so geschaffen sind, dass man in ihnen zwei bis drei Zentimeter größer ist, und man erkennt von außen nicht, dass es sich um eine Schuhkonstruktion handelt."

Erfahrung, die den Ausweg des Denkens nicht geht, führt ihr Subjekt auf die Realität des Bildes zurück, in dem sie erscheint, auf dessen materielle, wortwörtliche Bedeutung, wie sie zuletzt am Körper sich ein- und abzeichnet. Solche Erfahrung kann man nur erleiden, nicht begreifen, weil sie tiefer und enger greift als die großartige Souveränität des sich vermittelnden, arrangierenden, konstruierenden Denkens, weil sie sich ihr Subjekt im Sinne des Wortes unterordnet und unterwirft. "Ich werde dieser Erfahrung mit Aufzeichnungen folgen, sie dadurch anschaubar und vielleicht sogar überwindbar machen."

Folgen nun, die eben beschriebene Erfahrung betreffend, tatsächlich weitere Aufzeichnungen? Wird sie "anschaubar und vielleicht sogar überwindbar" gemacht? Die Schuhe, von denen Hans Lach gehört hat, trägt, wie Michael Landolt am Telefon von Professor Silbenfuchs (sprich: Jürgen Habermas) erfährt, tatsächlich jemand: André Ehrl-König. Sein bestgehütetes Geheimnis, wie der Erzähler vom KHK Wedekind hört, der ihm das Mordgeständnis der Madame berichtet.

"Am meisten habe ihn beeindruckt, dass sie sich von ihrem Mann bedroht fühlte. Sie habe einmal im Scherz gesagt, sie werde das Geheimnis seiner Schuhe der Presse verraten. Er habe seine Schuhe immer in Antwerpen produzieren lassen, die seien innen so gestaltet, dass er in diesen Schuhen zweieinhalb Zentimeter größer gewesen sei als in Wirklichkeit. Der Antwerpener Schuhmacher arbeitet hauptsächlich für Politiker und Gangster. Aber inzwischen sei dieses Geheimnis leider schon durch die RHH-Sippe verplaudert worden."

Stimmt. Und dass ausgerechnet sein Mentor Rainer Heiner Henkel (sprich: Walter Jens) dahintersteckt, trifft André Ehrl-König tief. So tief, dass er sich Hans Lach, dessen Buch er später in der Kameraluft zerreißen wird, zutiefst menschlich anvertraut, so tief, dass der in André Ehrl-König einen Bruder im Geiste, einen künftigen Freund zu sehen beginnt. "Hans Lach hat es offenbar für möglich gehalten, dass er eine Art RHH-Nachfolge antreten könne", vermutet Professor Silbenfuchs am Telefon. Hans Lach irrt sich, wie er bald erfahren wird. Er meint, André Ehrl-König trage die größer machenden Schuhe infolge derselben Erfahrung, die er gemacht hat, reagiere auf das Leid, das der Umschlag des Metaphorischen ins Reale verursacht, suche diesem Leid zu begegnen und diese Gegenwehr zu verbergen. Für André Ehrl-König hingegen garantieren das Reale und das Metaphorische einander, jedes bringt in der Show, in der und durch die André Ehrl-König existiert, das andere unmittelbar zur Erscheinung. Alle Bedeutung ist augenblicklich jetzt und darin augenblicklich erschöpft. "Pleasure now, das ist Ehrl-König. Instant pleasure." So Julia Pelz-Pilgrim zu Michael Landolf. Das Reale ist das Metaphorische. Das Metaphorische ist das Reale. André Ehrl-König befolgt dieses rein reversible, kategorische Urteil, indem er sich in der unmittelbaren Doppeldeutigkeit dieses 'Ist' ansiedelt, scheinbar Erfahrung machend, während er Erfahrung zum Schein macht. Hans Lach findet dafür ahnungslos, wider sein ihm bewusstes Verständnis den richtigen Begriff: "Existenz-Geschmeidigkeit."

Macht diese Aufzeichnung Erfahrung, wie Hans Lach sie versteht, "anschaubar und vielleicht sogar überwindbar"? Anschaubar ja, weil sie bis in ihr Gegenteil verzeichnet und dadurch in ihrer Kontur scharf ausgeleuchtet wird. Überwindbar nein, weil sie sich in ihrer Verkehrung in ihr Gegenteil unmittelbar als ihr Gegensatz gegenübertritt und sich so in ihrer Verdoppelung unüberwindlich wird. Diese Form der Reflexion, die sich in Gegensätze hinein- und an ihnen so abarbeitet, dass sie, zunächst überwindbar erscheinend, im Licht dieses Scheins unüberwindlich werden, beherrscht, wenn ich recht sehe, Grundriss und Aufbau des ganzen Buches. Der Widerspruch zwischen Denken und Erfahrung wird Gegenstand eines beschreibenden Bedenkens, das von einem Pol des jeweiligen Antagonismus zu seinem anderen hinüberlenkt und hinüberreicht, häufig als "durch Bedeutungsveränderungen schwierige Wortkombination, die Eines sagt, ein Anderes meint und wie alle Tropen einen Gedankensprung erfordert, [...] eine Art Vergleich oder Gegensatz zwischen dem allegorisch Bedeutenden und Bedeuteten" (W. Freytag). Ich gebe ein Beispiel.

Hans Lach habe, erfährt Michael Landolf aus der "F.A.Z.", beim Verlassen der Verleger-Villa ausgerufen: "Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen." Diesen Satz hat Professor Silbenfuchs nicht gehört; das hindert die Presse aber nicht daran, ihn weiterzuverbreiten, Fazit: "Hans Lach hatte seine Tat in der Tatnacht in der PILGRIM-Villa in einem an Hitler erinnernden Jargon angekündigt. Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen." Der Kursivdruck im Original insinuiert, es handle sich um ein wörtliches Hitler-Zitat. Das ist nicht der Fall. Hitler hat den Zweiten Weltkrieg mit den Worten eröffnet: "Ab heute früh 4.45 Uhr wird zurückgeschossen." Geschossen wird nun auch im "Tod eines Kritikers". Aber an einer ganz anderen Stelle und in einem ganz anderen Zusammenhang. Mani Mani, den Hans Lach in der psychiatrischen Klinik kennen lernt und dem er schriftstellerisches Genie bescheinigt, leitet zwei von dreien seiner Gedanken mit der Wendung "Schießt es mir durch den Kopf" ein. Eine Metapher, gewiss. Höre ich sie aber zum elften oder zwölften Mal, hat die Wiederholung den ursprünglichen Wortsinn in den Vordergrund gespielt, den vermittelnden Denkprozess der Übertragung auf die ihn fundierende Unmittelbarkeit einer Erfahrung zurückgelenkt. Schießen die Gedanken Mani Mani vielleicht wirklich durch den Kopf wie Kugeln? So gewaltsam, so zerstörerisch, dass ihn sein eigenes Denken in die Anstalt gebracht hat und ihn, je mehr er über sich und seine Welt nachdenkt, desto längerer und sicherer dort festhalten wird? Ist diese Erfahrung des Denkens vielleicht typisch für das Denken von jemandem, der schreibt wie Hans Lach, der also "auf Erfahrung angewiesen" ist, auch und gerade auf die Erfahrung des Denkens, um ihr "mit Aufzeichnungen zu folgen"? Trifft folglich das unbeglaubigte "F.A.Z."-Zitat - "Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen" - nicht insofern doch zu, als es die Denk- und Schreibweise seines angeblichen Urhebers richtig trifft? Der, erschrocken über den Intertext, in den er mit der realsinnigen Variante seines metaphorischen Satzes gerät, ihn vor dem Aussprechen in einer Weise umformuliert, die den Intertext zwar vermeidet, den Doppelsinn realer und metaphorischer Bedeutung aber nicht beseitigt? Hans Lach soll gegen André Ehrl-König tätlich geworden sein. Mani Mani ist in Haar wegen Körperverletzung interniert. Führt die Konsequenz der eben beschriebenen Erfahrung des Denkens zu realer Gewaltanwendung gegen sich und andere oder ist sie doch zugleich schon im Metaphorischen angekommen und zuhause?

Das hier angewendete allegorische Verfahren vermittelt, scheint mir, nicht zwischen dem von ihm jeweils herangezogenen Gegensatz. Es stellt dessen Pole vielmehr so gegeneinander, dass sie einander berufen, supponierend und verschiebend, einander spiegelnd und in der Spiegelung verändernd - eine der Dialektik abgesehene Gegenfigur, einen dritten Weg zwischen Vermittlung und Unmittelbarkeit suchend, um "Dinge und Gedanken, die als unvereinbar gelten, neben einander zu bewegen". (Walter Benjamin)

Gilt dieses Verfahren nun vielleicht nicht nur für das Verhältnis der Figuren des Romans und ihrer Reden zueinander, sondern schließlich und endlich für dessen Erzählen selbst, für die Konstellation von Möglichkeit und Wirklichkeit, die er wählt und befolgt? Klärt es über die Art und Weise auf, in der er chiffriert und in der seine Chiffren entziffert werden sollen?

Dass "Tod eines Kritikers" ein Schlüsselroman sei, daran haben seine Kritikerinnen und Kritiker für gewöhnlich keinen Zweifel. Unter einem Schlüsselroman wird im allgemeinen ein fiktionaler Text verstanden, dessen Figuren, mindestens dessen Hauptfigur eine Entsprechung in der realen gesellschaftlichen Welt der Vergangenheit oder der Gegenwart hat. Die Charakteristika der Figur entstammen in Form und Zusammenhang zwar ganz und gar dem Erzählen, verweisen aber inhaltlich auf eine bestimmte Wirklichkeit und sind so gesetzt, dass man ihren Verweisen mit mehr oder minder großer Mühe folgen und die Figur aus der Fiktionalität in die Realität überführen kann. Die inhaltlichen Verweise machen nicht den gesamten Charakter der Hauptfigur aus. Sie verbinden sich mit dessen Fiktionalität in einer Weise, die sie sowohl verdeckt als betont und ihnen damit einen von ihr bestimmten Sinn, eine eigentümliche Wertung vermittelt: "Niemand ist exakt wiederzuerkennen - aber viele konkrete Einzelheiten lassen sich sehr wohl auf lebende Figuren beziehen." (Joachim Kaiser in der "Süddeutschen Zeitung") Genau daran kann man auch Anstoß nehmen: "Innerhalb eines Romans ist alles erlaubt. Aber im Verhältnis des Romans zu seinen Lesern ist nicht alles erlaubt, schon gar nicht, wenn der Roman als Schlüsselroman auftritt und konkrete Personen attackiert." (Ulrich Greiner, Walser, der Spezialist des Undeutlichen, in: "Die Zeit") Denn: "Es gehört zu den eigentümlichen Leseerfahrungen mit diesem Schlüsselroman, dass er einen dazu bringt, selbst die ins Aberwitzige verschobenen Passagen mit dem Verdacht zu betrachten, an ihnen könnte ein Gran Wahrheit sein. Hier ist gleichsam alles Schlüssel - und nichts mehr Roman." (Joachim Güntner) Und das ist zu schlimmer letzt eigentlich unsittlich: "Martin Walsers 'Tod eines Kritikers' ist zunächst ein schlichter Schlüsselroman [...]. Er zielte auf das Vergnügen des Erkennens ab, die Lüste des Voyeurs. So funktioniert ein Schlüsselroman." (Elke Schmitter)

Lässt sich Walsers Roman auf diese Disposition des Erzählens ausdrücklich ein? Spricht er sie an? Nimmt er Stellung?

Dreimal in beinahe demselben Satz. Zum ersten Mal sagt ihn Julia Pelz-Pilgrim, die Verlegersgattin in ihrem ersten Gespräch mit Michael Landolf über die Frage, ob Hans Lach nun André Ehrl-König ermordet hat oder nicht: "Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus." Eine Figur. Wir nehmen an: Die Figur. Die Hauptfigur eines Schlüsselromans. Würde diese Figur so erzählt, dass man als Lesende(r) ihren Tod für vollkommen gerechtfertigt hielte, das wäre Realismus. Gelänge es dem fingierenden Erzählen, eine Figur ihrer reinen Möglichkeit nach so zu entwerfen, dass die Hinweise, die sie mit der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität vermitteln, ihre Auslöschung rechtfertigen, dann wäre es endgültig und vollständig realistisch geworden. Die betreffende Figur könnte ihr Lebensrecht nur in einer möglichen, sich durch liquide Bestimmungen entwerfenden Welt dartun, verlöre es aber sogleich mit dem Übertritt in eine Welt realer, objektiv festsetzender Bestimmtheit, in der das Einzelne mit dem Allgemeinen, das Individuelle mit dem Gesellschaftlichen sich vermitteln und in der Vermittlung rechtfertigen muss. Das mit dem Tod zu ahndende Verbrechen der Figur bestände schlicht darin, dass sie Figur ist, Einzelnheit, die sich im Allgemeinen gegen es behauptet und darin das Gesetz ihres Daseins verletzt. Die absolute Arbeit, so Hegel in seinem ersten philosophischen System, sei allein der Tod, weil er die bestimmte Einzelheit aufhebe. Damit aber wird das Reale selbst zum bloßen Schein, zu nur angeblicher weil verschwindender Realität, und der Schein des Fiktionalen das wirklich Reale. Ein Erzählen, das diesen Umschlag zuwege brächte, wäre tatsächlich Realismus.

Wie real, wie objektiv ist nun aber der Satz selbst, von dem wir ausgegangen sind, im Kontext des Romans und seines Erzählens? An der von uns zitierten Stelle spricht ihn, wie gesagt, Julia Pelz-Pilgrim, Verlegersgattin und wohl schärfste Kritikerin dessen, was André Ehrl-König so lebt und webt. Der Satz stammt aber nicht von ihr, sondern von Hans Lach, wie sie selbst festhält, und sie verwendet ihn im Gespräch mit Michael Landolf, dem, wie wir inzwischen wissen, erzählenden Ich, dass Hans Lach im Roman für sich geschaffen hat. Genau genommen hören wir einem Selbstgespräch der Gegenfigur zur Hauptfigur zu. Ist das Realismus?

Zum zweiten Mal sagt ihn der Schriftsteller Bernt Streiff, auch ein Opfer André Ehrl-Königs: "Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus." Und fügt hinzu: "Der Satz ist richtig, kann ich sagen, als Satz in der Kunstwelt. In Wirklichkeit, unanwendbar." Und verbessert ihn: "Eine Figur, deren Tod man sowohl für vollkommen gerechtfertigt wie auch für überhaupt nicht gerechtfertigt hält, das wäre Realismus."

In Wirklichkeit? In welcher Wirklichkeit? In derjenigen, die jenseits der Kunstwelt liegt? Dann gehörte der Satz ohnehin einer eigenen Welt an, und seine Unanwendbarkeit auf jede andere wäre ebenso selbstverständlich wie seine Unverbesserbarkeit. Da Streiff ihn jedoch für verbesserungswürdig hält, ordnet er ihn offenbar beiden Welten zu, genauer: jener Welt, in der Kunst und Gesellschaft, Möglichkeit und Wirklichkeit in Beziehung stehen, also der Vermittlung zwischen Fiktionalität und Realität. Auch seine Korrektur gilt dem Problem des Schlüsselromans, ja, des Romans schlechthin. Sie sucht es nur anders zu fassen. Wie?

Es geht, nehmen wir auch jetzt an, um die Hauptfigur eines Schlüsselromans. Würde diese Figur so erzählt, dass man als Lesende(r) ihren Tod sowohl für vollkommen gerechtfertigt wie auch für überhaupt nicht gerechtfertigt hielte, das wäre Realismus. Gelänge es dem fingierenden Erzählen, eine Figur ihrer reinen Möglichkeit nach so zu entwerfen, dass die Hinweise, die sie mit der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität vermitteln, ihre Auslöschung ebenso sehr rechtfertigen wie verbieten, dann wäre es endgültig und vollständig realistisch geworden. Die betreffende Figur könnte ihr Lebensrecht nur in einer möglichen, sich durch liquide Bestimmungen entwerfenden Welt dartun, verlöre es aber sogleich mit dem Übertritt in eine Welt realer, objektiv festsetzender Bestimmtheit, in der das Einzelne mit dem Allgemeinen, das Individuelle mit dem Gesellschaftlichen sich vermitteln und in der Vermittlung rechtfertigen muss. Das mit dem Tod zu ahndende Verbrechen der Figur bestände schlicht darin, dass sie Figur ist, Einzelheit, die sich im Allgemeinen gegen es behauptet und darin das Gesetz ihres Daseins verletzt. Eben darin läge aber nun zugleich ihr Verdienst. Sie verträte den Zufall des Individuellen gegen das Gesetz des Gesellschaftlichen, die schweifende Plötzlichkeit des Einzelnen gegen die planvolle Vorsicht des Allgemeinen, mit dem sie sich nicht mehr vermitteln und in der Vermittlung rechtfertigen müsste, das vielmehr umgekehrt seinen Anspruch auf Vermittlung darzulegen und zu rechtfertigen hätte. Damit aber wird das Reale zur unmittelbar gleichgültigen Einheit von Zufall und Gesetz, Einzelheit und Allgemeinheit, Vermittlung und Expedition, dumm wie Salz, das seine Schärfe und seinen Geschmack verliert. Verbürgen nach wie vor "der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen" (Hegel) die Objektivität und damit die Realität des Realen, so sinkt es, nach der Façon Bernt Streiffs heranerzählt und diskursiviert, zum bloßen Schatten seiner selbst herab, während seine Wahrheit und Wirklichkeit in die Fiktion überwechseln, die es beruft. Ein Erzählen, das diesen Wechsel zuwege brächte, wäre tatsächlich Realismus.

Wie real, wie objektiv ist nun aber der Satz selbst, von dem wir ausgegangen sind, im Kontext des Romans und seines Erzählens? An der von uns zitierten Stelle spricht ihn, wie gesagt, Bernt Streiff, Schriftsteller wie Hans Lach, ebenfalls Opfer André Ehrl-Königs und infolgedessen wohl bitterster Kritiker dessen, was André Ehrl-König so treibt und schreibt. Der Satz stammt aber nicht von ihm, sondern von Hans Lach, wie er selbst festhält, und er verwendet ihn im Gespräch mit Michael Landolf, Hans Lachs erzählendem Ich, das er im Roman für sich geschaffen hat. Genau genommen hören wir einem Selbstgespräch der Gegenfigur zur Hauptfigur zu, das sich um die Einwände einer Parallelfigur erweitert. Ist das Realismus?

Zum dritten und letzten Mal im Roman sagt den Satz, um den unsere Überlegungen kreisen, wieder Julia Pelz-Pilgrim wieder in einem Telephongespräch mit Michael Landolt (die Rolle des Telephons in "Tod eines Kritikers" wäre eine eigene Abhandlung wert): "Eine Figur, deren Tod vollkommen gerechtfertigt erscheint, das wäre Realismus."

Die Verlegersgattin scheint die Erörterung in die Bahn hergebrachter Fiktionsbestimmung zurückzulenken. Eine Figur deren Tod ihren LeserInnen vollkommen gerechtfertigt erscheint, gleichgültig, ob er es tatsächlich ist oder nicht ist, das wäre, gelänge dem Erzählen dieser Schein, Realismus. Gewiss. Wie schon immer. Wie seit den Anfängen des bürgerlich modernen Erzählens. Aber Julia Pelz-Pilgrim lässt es dabei nicht bewenden: "Das ist Realismus. Durch Hans Lach kommt er jetzt zur Sprache. Ehrl-König wird so genau vorgestellt, dass sein Tod keine Sensation mehr ist. Aber dazu gehört eben auch die Figur, deren Tat vollkommen verständlich wird." Der Satz, von dem wir ausgegangen sind, stammt aus einem Buch, einem fiktionalen Text des Schriftstellers Hans Lach. Er hat die Form einer allgemeingültigen Regel, lässt aber offen, ob diese Regel überhaupt mit Erfolg angewendet werden kann oder nicht. Dieser Erfolg stellt sich jedoch, Julia Pelz-Pilgrim zufolge, dann mit Sicherheit ein, wenn das die Figur beschreibende Subjekt sich zugleich zum Subjekt ihrer Realisierung macht, wenn es den Kunst-Text in eigener Verantwortung in einen Sach-Text verwandelt, um an der Person zu bewahrheiten, was die Figur nur wahrscheinlich machte. Kann also eine SchriftstellerIn nur dann vollkommen realistisch erzählen, wenn sie das, was sie erzählt, in der gesellschaftlichen Realität nachvollzieht? Sollte das ernst gemeint sein, gewänne der schon von Plato gehegte Verdacht, alle KünstlerInnen seien Unruhestifter und müssten, wenn nicht des Staates verwiesen, so doch von ihm genauestens überwacht werden, viel von seiner Berechtigung zurück. Aber: "Dazu gehört eben auch die Figur, deren Tat vollkommen verständlich wird." Das die Figur beschreibende und sie zugleich realisierende Subjekt macht sich, in die Realität übertretend, sogleich selber wieder zur Figur, weil es diesen Übertritt beschreibend, in einem Diskurs, einem Text vollzieht, der erwirkbare Möglichkeiten jener Realität wählt und sich somit unter Fiktionalitäts-Verdacht setzt. Hans Lach gesteht, Ehrl-König umgebracht zu haben, und der Text des Geständnisses ist so abgefasst, "dass sein Tod keine Sensation mehr ist". Selbst wenn das schreibende Subjekt mit seiner Person die Realität der beschriebenen Figur verantwortet, nimmt diese Verantwortung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit die Form einer zweckgerichteten Diskurses an, die andere mögliche Zwecke ausschließt und sie eben darin an- und mitspricht. Liegt die Sensation, die er erzeugt, nicht eben darin, dass André Ehrl-Königs Tod ihm zufolge "keine Sensation mehr ist"? Die Realität, für die Hans Lach nach Meinung Julia Pelz-Pilgrims Kopf und Kragen riskiert, lohnt das Risiko, indem sie ihre Gültigkeit aufhebt.

Wie real, wie objektiv ist nun aber der Satz selbst, von dem wir ausgegangen sind, im Kontext des Romans und seines Erzählens? An der von uns zitierten Stelle spricht ihn, wie gesagt, Julia Pelz-Pilgrim am Telephon mit Michael Landolt, Hans Lachs erzählendem Ich, das er im Roman für sich geschaffen hat. Genau genommen hören wir einem Selbstgespräch der Gegenfigur zur Hauptfigur zu, das sich um die enthusiastisch zustimmenden Ausführungen einer Parallelfigur erweitert, die überdies noch auf einer falschen Voraussetzung beruhen - Hans Lach hat den Mord, den er gesteht, nicht begangen. Ist das Realismus?

Fassen wir zusammen: "Tod eines Kritikers" ist nicht bloß ein Schlüsselroman, sondern erörtert sich über einen Schlüsselsatz auch selbst als Schlüsselroman, dreimal, gegen Anfang, Mitte und Ende, von der Frage ausgehend, ob und wie es ihm gelingt, seine Hauptfigur ihrer Entsprechung in der realen gesellschaftlichen Welt der Gegenwart zu überführen, mit Hilfe der Figur André Ehrl-König die Person Marcel Reich-Ranicki zu beschreiben und zu bestimmen, zu erfassen und zu begreifen. Es gelingt ihm jedes Mal, aber jedes Mal um den Preis, dass die Realität, bei der er ankommt, mit ihrer Ankunft verschwindet: in den Schein, in die Öde, in die Fiktion. Das Erzählen fällt auf sich selbst zurück und damit seiner Anstrengung zur Realisierung von neuem anheim. Darin leitet sich das Reale weder aus dem Fiktionalen ab noch das Fiktionale aus dem Realen. Das Reale entspringt dem Fiktionalen im doppelten Sinn des Wortes und sprengt darin das Fiktionale von sich ab. Beide erweisen einander ihre Unvereinbarkeit wie eine Reverenz, die weder Vermittlung noch Unmittelbarkeit bedeutet, sondern eine Ähnlichkeit, die sich immer dann nicht bewahren kann, wenn sie sich hergestellt hat.

Der Schlüsselsatz, von dem her Walser seinen Schlüsselroman entwirft und in Frage stellt, spricht stets von einer Figur, meint aber doch wohl d i e Figur, die Hauptfigur des Romans, die Entlarvung und Entzauberung Marcel Reich-Ranickis durch André Ehrl-König. Hat die Mühe, die der Roman sich mit seiner eigenen Erzähl-Form bereitet, vielleicht ihren Grund in der Mühe, die ihm die Beziehung zwischen der Figur André Ehrl-König und der Person Marcel Reich-Ranicki macht? Gründet das eigentümlich allegorische Verhältnis zwischen Fiktionalität und Realität, in das er sich bringt, etwa in der besonderen Realität der Person Marcel Reich-Ranicki, die er mit Hilfe der Figur André Ehrl-König aufzufassen trachtet?

"Tod eines Kritikers" sucht in mehrfachem Ansatz aus der Sicht verschiedener Figuren herauszufinden, wie André Ehrl-König jene Macht erobert hat und behauptet, vor der SchriftstellerInnen, ProfessorInnen, KritikerInnen zittern und kriechen. Wir beschränken uns hier auf die zwei unseres Erachtens bedeutsamsten dieser Versuche und befragen sie auf die gesellschaftliche Realität hin, die sie über die Fiktion ansprechen und bestimmen.

Julia Pelz-Pilgrim möge auch hier den Anfang machen: "Wenn einem etwas nicht gefällt, ist es schlecht [...]. Davon hat er gelebt. Was ihm nicht gefiel, war schlecht [...] Er hat aus der Ästhetik eine Moral gemacht [...]. Die Moral des Gefallens, des Vergnügens, der Unterhaltung. Die Pleasure-Moral. Was mich nicht unterhält, ist schlecht." Die Verlegersgattin polemisiert. Nach Verstandeslust. Dieser Lust verdanken wir einige der anregendsten und aufschlussreichsten Passagen des Romans. Setzen wir also aus der Polemik in die Erörterung zurück: Die Figur André Ehrl-König zielt auf jemanden, der sich bei seinen Auftritten darum bemüht, jenes Projekt der europäischen Aufklärung zu zerstören, das aus der Ästhetik eine Theorie machen will, in der das bessere Argument und nicht das schlichtere Ressentiment entscheidet. Eine Theorie, in der und durch die das Schöne weiß, dass es mit dem Begriff nicht verfeindet, sondern verschwistert ist, wodurch es zu erfahren vermag, dass seine Praxis so politisch ist wie die aller Begriffe. Die Figur André Ehrl-König stimmt das ästhetische Urteil als Resultat eigentümlicher Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zum baren Reflex eines einfachen Affekts herunter, es auf diesem Weg in eine Praktik verwandelnd, die sich in ihrem Urteilen den Begriff erspart, statt sich auf ihn zu berufen.

Rainer Heiner Henkel eröffnet seinen Bericht über seine Leiden als ghost-writer beziehungsweise ghost-thinker hinter André Ehrl-König mit der Erklärung jener Charaktereigenschaft, die es André Ehrl-König erlaubt, zum Mitbegründer der eben angesprochenen neuen Ästhetik zu werden: "Das war die Begabung, die alles entschied: Von sich selber rückhaltlos beeindruckt sein zu können. Das war dann immer das Mitreißende: In kindlichem Überschwang in Jubel auszubrechen über sich selbst." Gewiss. Narzissmus beruht immer auf Infantilität, die sich vor dem Erwachsen-Werden schützt, indem sie beredt wird. Aber hier liegt RHH zufolge noch nicht das ursprüngliche Motiv für André Ehrl-Königs "Energie" und "Unermüdlichkeit". Sie entspringen vielmehr einem angeblich unermüdlichen Verlangen nach "Unsterblichkeit". Unsterblichkeit? Wie kann jemand, dem es um nichts als den möglichst blanken und möglichst scharfen Reflex eines Affekts zu tun ist, auf Unsterblichkeit hoffen? "Pleasure now, das ist Ehrl-König. Instant Pleasure", giftet Julia Pelz-Pilgrim. Pointe, Augenblick, Jetzt, aber damit jetzt schon vergangen, im nächsten Augenblick von der nächsten Pointe des nächsten Show-masters beiseite gedrängt und getilgt. Unsterblichkeit?

"Nietzsche hat sich fürchterlich überschätzt, als er verkündete, die Umwertung aller Werte vollbracht zu haben [...]. Die Umwertung aller Werte [...], die hat Andre Ehrl-König vollbracht [...]. Bei diesem epochalen Reinemachen ist nur ein Wert übrig geblieben als der Wert aller Werte, und außer ihm ist nichts: der Unterhaltungswert. Quote, mein Lieber. Jeden Abend Volksabstimmung. Die Demokratie des reinen Werts."

André Ehrl-König wäre, glaubt man RHH, auf dem Weg radikaler Vereinfachung gelungen, was Nietzsche auf dem radikaler Vervielfachung erreichen wollte: die Überwindung der Moderne. André Ehrl-König verwandelt mittels seiner Fernseh-Auftritte die Theorie in Affekt und die Moral in Spaß. Der Spaßfaktor - dieses Wort existiert inzwischen tatsächlich - gibt dann den Maßstab für den gesellschaftlichen Wert oder Unwert des Objekts ab, das den Affekt ausgelöst hat. Hier lässt, meinen wir, der Erzähler seine Figur eine doppelte Fehleinschätzung begehen. Die Transformation der Bürgerlichen Gesellschaft in eine Markt-Gesellschaft, die alle Werte in den Tauschwert einschmilzt, erstreckt sich zwangsläufig auch auf die Künste und die Medien, entspringt ihnen aber nicht. Der Unterhaltungswert fällt mit unter den Siegeszug des Warenwerts, aber er führt ihn nicht an. Die Ersetzung der Stimmabgabe durch die Einschaltquote folgt aus der Markt-Gesellschaft, begründet sie aber nicht. Überdies individualisiert RHH, indem er André Ehrl-König zu einem zweiten und erfolgreicheren Nietzsche empor stilisiert, einen gesellschaftlichen Prozess und macht eine Person für Vorgänge verantwortlich, die nur Funktionsträger kennen.

Und doch: Liegt nicht die Faszination - um nicht zu sagen: die Magie - der Figur André Ehrl-König eben darin, dass sie es versteht, mittels des von ihr gehandhabten Mediums eben diese Fehleinschätzung zu erzeugen, selbst bei einer Figur wie RHH, die nicht müde wird zu betonen, André Ehrl-König sei ihr und nur ihr Geschöpf? Arbeitet sich "Tod eines Kritikers" nicht an eben dieser Faszination, dieser Magie ab, deren gesellschaftliche Wirklichkeit und Wirkung der Roman an der Figur André Ehrl-König zu enträtseln, zu entlarven sucht? Worin gründen sie dann, woraus gehen sie hervor? Dem wollen wir uns nun abschließend noch zuwenden.

Was gibt dem Menschen letzten Endes die Macht und die Souveränität, das, was ihm in der Welt, als Welt begegnet, für wahr zu nehmen?

"Die Reduktion der Erfahrungen auf Zeichen, und die immer größere Menge von Dingen, die also gefasst werden kann: ist seine höchste Kraft. Geistigkeit als Vermögen, über eine ungeheure Menge von Thatsachen in Zeichen Herr zu sein." (Nietzsche)

Folgt man Marshall McLuhan, so entstammt diese höchste Kraft nicht den Zeichen überhaupt, sondern nur den Zeichen der phonetischen Schrift, des Alphabets in der Gestalt, die ihm der Buchdruck gegeben hat: "Das Alphabetentum [...] hatte uns durch Erweiterung des Sehvermögens zur einheitlichen Gestaltung von Raum und Zeit psychisch und sozial die Macht der Distanzierung und Objektivität gebracht." Diese Macht beruht auf der "Einheitlichkeit und Wiederholbarkeit" der gedruckten alphabetischen Zeichen, die jenes "beschauliche Leben" der Erwägung und Überlegung, "der langen, langen Gedanken und fernen Ziele[n] in der Weite sibirischer Eisenbahnen" ermöglichen, das eine stets wachsende Menge von Tatsachen zu beherrschen und zu verwalten, zu disponieren und zu kombinieren vermag. Folglich gliedern sich "jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Begründungen, die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuführen", in Wirklichkeit zuerst aus den auf leichtes Wiedererkennen hin einfach geformten Drucktypen des Alphabets. Sie erwecken in der Bildung des Denkens zur Moderne

"die Vorstellung, dass alle Dinge, die menschlicher Erkenntnis zugänglich sind, einander auf dieselbe Weise folgen und dass [...] nichts so fern liege, dass man es nicht schließlich erreichte, und nichts so verborgen sein kann, dass man es nicht entdeckte" (Descartes)

Ganz anders das Fernseh-Bild. Es bietet nämlich

"dem Beschauer etwa 3 000 000 Punkte pro Sekunde. Davon nimmt er nur ein paar Dutzend in jedem Augenblick auf, um sich daraus ein Bild zu machen [...]. Der Beschauer des Fernsehmosaiks [...] gestaltet mit der technischen Bildkontrolle unbewusst die Punkte zu einem abstrakten Kunstwerk nach dem Muster von Seurat oder Rouault um [...]. Das Fernsehbild verlangt in jedem Augenblick, dass wir die Lücken im Maschennetz durch angestrengte Beteiligung der Sinne 'schließen', die zutiefst kinetisch und taktil ist, weil Taktilität viel eher Wechselspiel der Sinne bedeutet, als den isolierten Kontakt der Haut mit einem Gegenstand." (McLuhan)

Während also der Drucktext seinen Leser durch die allgemeine und einfache Wiederholung seiner Zeichen leitet und ihm so Distanz zu den Gedankenwegen ermöglicht, die er geführt wird, sowie Objektivität gegenüber den Zielen, die er auf ihnen erreicht, fordert das Fernsehbild in jedem Augenblick selbsttätige Beteiligung, die das Bild so ergänzt und vervollständigt, wie es die individuelle Lebenserfahrung seines Hin-Zu-Schauers erlaubt. Je nach dem Gegenstand, den das Bild zeigt, vermittelt dabei der Sehsinn zwischen den anderen Sinnen, als stifte er zwischen ihnen jene Berührung, die er den von ihm aufgenommenen Bildpunkten schuldet, um die Lücken zwischen ihnen zu schließen. Das so entstehende Mosaik "ist nicht einheitlich, stetig und wiederholend. Es ist unstetig, asymmetrisch und nicht linear, wie das den Tastsinn ansprechende Fernsehbild. Für den Tastsinn ist alles plötzlich, konträr, ursprünglich, selten, fremd." Das Fernsehbild selbst wiederholt sich zwar streng einheitlich und stetig; aber seinem Hin-Zu-Schauer erscheint es in jeder Wiederholung so ursprünglich wie in seinem ersten Anblick, so plötzlich, dass seine Abfolge "eine allumfassende Jetztheit" erzeugt. Demgemäss muss "das Einheitliche und Wiederholbare [...] dem einmalig Besonderen weichen". Und letzten Endes erzwingt die Veränderung der Zeichenform eine Änderung der Lebensform: "Das beschauliche Leben mit langen, langen Gedanken und fernen Zielen [...] kann neben der Mosaikform des Fernsehbildes nicht mehr bestehen, das sofortige und gesamtpersönliche Beteiligung verlangt." In Konsequenz dieses Zwangs verwandelt sich die buchstabengetreue Logik der Moderne in die bildpunktförmige Para-Logik der Postmoderne:

"Die narrative Funktion verliert ihre Funktoren, [...] die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel. Sie zerstreut sich in Wolken, die aus sprachlich-narrativen, aber auch denotativen, präskriptiven, deskriptiven usw. Elementen bestehen [...]. Jeder von uns lebt an Punkten [!], wo viele von ihnen einander kreuzen [...]. So hängt die kommende Gesellschaft [...] von einer Pragmatik der Sprachpartikel ab." (Lyotard)

Subjektgeschichtlich betrachtet gehört die Para-Logik der Postmoderne der Logik der Moderne ursprünglich an. "Ein transzendentaler Paralogismus", heißt es bei Kant, "wird [...] in der Natur der Menschenvernunft seinen Grund haben, und eine unvermeidliche, obzwar nicht unauflösliche, Illusion bei sich führen" (Kant). Erklärt man nun wie Lyotard diese Auflösbarkeit selber für eine Illusion und die Para-Logik für eine unvermeidliche, folglich wahrheitserzeugende Konsequenz der Logik, ist man mit einem Schritt von der Moderne zur Postmoderne gelangt - oder, um mit McLuhan zu sprechen, von der Wahr-Nehmung durch Druckbuchstaben zur Wahr-Nehmung durch Bildpunkte.

Jeder von uns lebt in einer Gesellschaft, über deren Sinnvermittlung die Struktur des Fernsehbildes entscheidet, an vielen Punkten, die einander an jedem Punkt nach möglichst vielsinnigen Regeln berühren, überlagern, kreuzen müssen. "Pleasure now, das ist Ehrl-König", Subjekt und Agent jener "allumfassende[n] Jetztheit" (McLuhan), in der die langen Gedanken und fernen Ziele des buchstäblichen Denkens sich in die kurze Pointe und das naheliegende Urteil des telematischen zusammendrängen. Was sich diesem Druck fügt, ist gut. Was sich ihm widersetzt, ist schlecht. Und wem es gelingt, sich die Praxis dieser Jetztheit, dieser Verjetzigung so anzueignen, dass er ihr immer ihren nächsten Augenblick vorauseilt, dem winkt jene Form der Unsterblichkeit, in der das einmalig Besondere das Einheitliche und Wiederholbare erobert und sich einverleibt. André Ehrl-König ist nicht jemand, der gelegentlich im Fernsehen auftritt, um dort eine bestimmte Sendung zu moderieren. André Ehrl-König ist vielmehr das Gestalt gewordene Fernsehen selbst, er verkörpert dessen Sinnvermittlung. Es gibt ihn nur, insofern ihn jemand sieht, eine Ansicht von ihm hat, und folgerichtig lässt Walsers Roman ihn auch nie selber auftreten oder reden, sondern nur in den Blicken anderer erscheinen - ein Fernsehbild, dessen Mosaik sich unter diesen Blicken und sonst nirgends bildet und zusammensetzt. Und was an Marcel Reich-Ranicki soll André Ehrl-König in dieser Daseinsweise zeigen?

Marcel Reich-Ranicki hat, folgt man den in "Tod eines Kritikers" aufgebauten Überlegungen, den Foren der Literaturkritik nicht bloß ein weiteres hinzugefügt. Er hat vielmehr die vom Buchstaben unzertrennliche Sinnform der Literatur derjenigen des Fernsehbildes so vollständig unterworfen, dass der Text seine Fremdheit gegenüber einer von telematischem Wissen bestimmten Gesellschaft mit jener effektvoll unterhaltsamen Befremdung vertauscht, die eine Mitteilung, eine Botschaft in einer solchen Gesellschaft erst fesselnd macht. Literatur, die diesen Tausch vollzieht, hört auf, Literatur zu sein. "Jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Begründungen, die die Geometer zu gebrauchen pflegen" (Descartes), sind nur deshalb einfach und leicht, weil sie von der schwerwiegenden Vielfalt abstrahieren, in die sie sich verwickeln, wenn man ihnen auf ihren historischen, politischen und sozialen Grund geht. Eben diesen Gang geht Literatur seit Anbeginn der Moderne, und aus ihm entwickelt sie die "langen, langen Gedanken und fernen Ziele" (McLuhan), die in die Weite möglicher Wirklichkeiten führen. Mit der ereignishaften Augenblicklichkeit des Fernsehbildes ist diese gründliche Langsamkeit des literarischen Textes unvereinbar, ihre Zerstörung, ihr Tod, gleichgültig wie viel Buchstaben wie viel Papier in Zukunft noch füllen mögen. Im Dienst derartigen Todes amtet Marcel Reich-Ranicki.

"Tod eines Kritikers" versucht, den Prozess, den das Fernsehbild dem literarischen Text mit Hilfe Marcel Reich-Ranickis macht, an der Gestalt André Ehrl-Königs aufzufassen und zu beschreiben. Der Konflikt zwischen Text und Bild, zwischen Teppich und Mosaik, soll mit literarischen Mitteln dargestellt und begriffen werden, als vermittle eine Textualität zweiter Ordnung von einem dritten Ort her so zwischen den Kontrahenten, dass sie Text bleibt, aber Text und Bild zugleich zu ihren Momenten und ihrer Verfügung hat. Diesen dritten Ort sucht der Roman dadurch zu erreichen, dass er an seinem Ende an seinen Anfang zurückkehrt, so signalisierend, es sei eigentlich gar keine Erzählzeit vergangen und das vermeintliche Geschehen der erzählten Zeit nur die charakterisierende Auslegung sich wiederholenden Gegenwart. Die Geschichte, die angeblich erzählt werden soll, kommt in immer neuer Perspektive immer wieder auf sich selbst zurück und löst sich schließlich in nichts auf. Diese Selbst-Prüfung des Erzählens verläuft nicht linear, sondern in der eigentümlich instantanen Reflexivität eines allegorischen Verfahrens, das, während es das eine sagt, schon das andere meint, sich auf der Stelle vorwärts bewegend wie die Echternacher Springprozession. Daraus geht nicht Inhaltsarmut, sondern im Gegenteil Inhaltsreichtum hervor, dessen Elemente sich, disparat und anscheinend unvereinbar, in einer stets schon vergangenen und darin ebenso sehr noch nachklingenden Vermittlung neben einander bewegen. Mit einem Wort: Der Roman versucht, den "Tod eines Kritikers" ins Mosaik eines Fernsehbildes zu erzählen, zugleich aber den Teppich des Erzählens im und gegen dieses Mosaik auszubreiten, ohne es und sich selbst zu zerstören, sondern beide ihre Bedingungen und ihre Möglichkeiten, ihre Macht und deren Grenzen aneinander zeigen zu lassen.

Von diesem Anspruch lebt der Roman, und an ihm scheitert er auch. Er scheitert am inneren Widerstand des Erzählens gegen die Form, die ihm aufgezwungen wird, an dessen beharrlicher Neigung zu jenem Einmaligen und Besonderen, in dem die Sache sich nicht mit ihrem Begriff versöhnt, sondern ihn nur duldet, um sich ihm zu widersetzen. Literatur geht den einfachen und leichten Gliedern, in denen sich der Begriff nach der Logik der Moderne verkettet, nicht nur auf den Grund, sondern sie neigt überdies dazu, darin zugrunde zu gehen. Wie sich im Fortgang des Romans erweist, wird diese Neigung des Erzählens durch ein Begreifen, das nur auf die Konstellation der Sache selbst zu hören und sie wieder klingend zu machen scheint, nicht besänftigt, sondern gereizt. So sehr gereizt, dass sie den Roman an seinem Ende in zwei antagonistische Texte auseinander sprengt: Im einen trägt Julia Pelz-Pilgrim ihre Version des Mythos von Kronos/Saturn vor, der seinen Vater entmannt hat und seine Kinder verschlingt, Zeugung und Fortzeugung nicht verhindernd, aber in einen vergeblichen Wieder-und-Wieder-Anfang fesselnd. Bis es der Mutter gelingt, ihr Kind Zeus vor ihm zu verbergen, der sich ins Licht des Fortschreitens zu einer immer besseren Welt setzt und seinen Vater ins Dunkle verstößt. "Verdammt wegen Geschichtsverneinung." Geschichtsverneinung jedoch ist immer auch Geschichtenverneinung, "die logische Form eines Wirklichen, das nicht mehr von der gesellschaftlichen Herrschaft und dem ihr nachgebildeten klassifizierenden Gedanken umfasst wäre [...]. In der epischen Naivetät lebt die Kritik der bürgerlichen Vernunft." (Adorno) Im anderen Text stellt sich Hans Lach die Form dieser Vernunft vor, wenn sie von der Sinnvermittlungsform des Fernsehbildes einmal völlig beherrscht sein wird, und malt sich aus, wie es den "Grossen Vier" (dem 'Literarischen Quartett' natürlich) dann gelingen wird, Millionen zur Teilnahme an was für einer Art von Literatur hinzureißen, in einer Zeit, in der "einundsiebzig Prozent der Bevölkerung aufgehört zu lesen oder es gar nicht erst angefangen" hatten. Literarischer Text und Fernsehbild, Teppich und Mosaik liegen einander wieder in reiner Unversöhnlichkeit, in kontradiktorischem Widerspruch gegenüber. Die Sichel des Saturn schneidet am Ende des Romans doch nicht - außer ins eigene Fleisch des Erzählens.

"Für mich ist die Hauptszene im Buch die Fernsehshow, in der es um den Roman 'Mädchen ohne Zehennägel' geht. Das ist die ausführlichste Darstellung der Kritikerpraxis im Zeitalter des Fernsehens." (Martin Walser) Das hat diejenige Fraktion des Feuilletons, die sich weigert, den Roman als Manifest des Antisemitismus zu lesen, auch wahrgenommen und deutlich gemacht: "Gegen den Fernsehkritiker ist der gesamte Abrechnungsfuror dieses Romans gerichtet, nicht gegen den Juden." (Lothar Müller) Aber was, worüber wird abgerechnet, und was nährt den Furor?

Abgerechnet wird, Peter von Becker zufolge, mit der ungleichen Verteilung von Macht und Ohnmacht im Literaturbetrieb, und den Furor der Abrechnung nährt "die Verzweiflungswut eines Autors, in dessen Werk Jahre oder sogar ein Leben stecken und das vom Kritiker schlimmstenfalls in ein paar Fernsehminuten oder Zeitungszeilen abgeurteilt wird". Das stimmt ebenso mit Walsers oben angeführter eigener Meinung wie mit den Äußerungen Hans Lachs in "Tod eines Kritikers" überein. Aber Hans Lach spielt nur eine Rolle im perspektivischen Erzählen des Romans, sein mit ihm letzten Endes identischer Antagonist Michael Landolt eine ganz andere. Sucht der Text nicht durch die Art und Weise, in der er diese Rollen konstelliert, von den Effekten zu den Ursachen, von den Personen zu den Strukturen vorzustoßen? Das Erzählen der Medien kritisch zu erzählen statt der Wirkungen, die es auf ihre Subjekte ausübt?

Dem scheint Dirk von Petersdorff Rechnung zu tragen, wenn er festhält:

"Die Beschreibung Ehrl-Königs ist Teil einer größeren gesellschaftskritischen Diagnose [...] Walser glaubt, dass die Medien alles zersetzen, was einmal Bedeutung hatte, und dass Politik, Kultur und Religion von der 'Show' abgelöst werden [...] Damit sei eine Umwertung aller Werte vollendet, nach der nur der 'Unterhaltungswert' bleibe, die 'Demokratie des reinen Werts', wie es in einer etwas unklaren Formulierung heißt: 'Jeden Abend Volksabstimmung'."

Zunächst: Was an dieser Formulierung soll unklar sein? Alle zeitgemäß eingerichteten Parlamente verfügen heute über elektronische Abstimmungsmaschinen, bei denen die Abgeordneten für "Ja" oder "Nein" oder "Stimmenthaltung" nur den entsprechenden Knopf drücken müssen. Was unterscheidet diesen Knopfdruck eigentlich noch von dem, mit dem ein bestimmtes Fernseh-Programm gewählt und ein anderes nicht gewählt wird? Höchstens, scheint mir, dass es sich beim Knopfdruck der zweiten Art um einen basisdemokratischen Vorgang handelt, an dem das gesamte Fernseh-Volk teilnimmt. Sodann: Unterstellt der Roman, wenn er André Ehrl-König zum freiesten Menschen erklärt, den es gibt, weil er nichts mehr zu verehren habe als sich selbst, damit seien Menschen gemeint, "die nicht mehr an eine Substanz, Wahrheit, Natur, Heimat gebunden sind"? Gibt er nicht klar zu erkennen, dass seiner Auffassung nach André Ehrl-Königs Auftritte nur einer einzigen Regel unterliegen, der Maximierung des Knopfdrucks der zweiten Art, und dass er in Beachtung dieser Regel ansonsten tun und lassen kann, was er will? Unterstellt nicht vielmehr Von Petersdorff, der Roman werfe André Ehrl-König mangelnde Heimatverbundenheit vor, weil er die Absicht verfolgt, ihn mit dem "Spätwerk Walsers" in Verbindung zu bringen, in dem "es immer mehr die Nation ist, die den Platz dessen einnimmt, was wir gemeinsam haben"? Sie, die Nation als Inbegriff von Substanz, Wahrheit, Natur, Heimat, treibt Walser seinem Kritiker zufolge "in merkwürdige Richtungen, so zu einem erstaunlich weit gehenden Verständnis rechtsextremer Gewalttäter". Um nicht missverstanden zu werden:

"Kein Zweifel, dass Martin Walser so etwas wie die Nationalisierung des Diskurses über Deutschland angestoßen hat. Doch wie kam der Umschwung vom analytischen Linksintellektuellen zum wallenden 'neuheidnischen' Gefühlspatrioten zustande? Vielleicht brächte eine Debatte über diesen Umschlagpunkt mehr Licht in einen dunklen Fall als die schneidigen Thesen von Walsers deutschnationaler Kontinuität." (Ingo Arend)

Diese Debatte erhellt jedoch diejenigen Prozesse und Prozeduren zeitgenössischer Medialität nicht, um die es im "Tod eines Kritikers" geht. Sie verdunkelt sie vielmehr.

Anmerkung der Redaktion: Der Essay wird auch in Heft 4 des Jahrganges 2004 der "Weimarer Beiträge" erscheinen. Online-Abonnenten von literaturkritik.de haben Zugriff auf eine als pdf-Dokument vorliegende Fassung dieses Beitrages mit Fußnoten und Zitatbelegen hier.


Titelbild

Martin Walser: Tod eines Kritikers.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
219 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518413783

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Martin Walser: Tod eines Kritikers. 4CD.
Eichborn Verlag, Frankfurt 2003.
29,90 EUR.
ISBN-10: 3821852399

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