Schwellenkunst

Zu Jürgen Nendzas Gedichtband "Haut und Serpentine"

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jürgen Nendzas fünftem Gedichtband "Haut und Serpentine" sind zwei lyrische Motti von Günter Eich und Franz Hodjak vorangestellt. Das Verbindende zwischen ihnen ist das Motiv der Tür. Dabei akzentuiert Eich die Durchlässigkeit der Tür im Bilde des durch die Ritzen eindringenden Schnees, während in Hodjaks Zeilen die Tür ihre besondere Qualität aus dem Verbergen bezieht. Sie ist gleichsam latentes Versprechen einer Überraschung.

Die Tür wird also durch die beiden poetischen Motti als Schwelle konstelliert, auf der sich das Kommen und Gehen im Moment des Übertritts durchdringen. Die Tür erscheint somit als Chiffre einer quasi semipermeablen Poetik, die sich offen hält und ins Offene führt. Die Türschwelle als dichterischer Standort ist, so ließe sich sagen, bei Nendza das poetologische Pendant zu Eichs trigonometrischem Punkt. In dem sechsteiligen Zyklus "Piegaresische Fenster", der den ästhetischen Höhepunkt des Bandes bildet und seiner mittleren Abteilung den Titel leiht, entwirft sich der Dichter selbst als "Figur zwischen Kommen und Gehen", die "im Türrahmen gelehnt" ihren Reflexionen und Assoziationen nachhängt.

Freilich eröffnet die Funktion der Schwelle als Ort des Übergangs noch eine weitere poetologische Perspektive, ist sie doch mit dem zentralen Motiv der Serpentine aufs engste verknüpft. Die Serpentine ist die vom Räumlichen ins Zeitliche ausgreifende Schwelle, insofern sie eine Folge von Wendepunkten, d. h. von Türen ist, die jeweils den Blick zugleich öffnen und begrenzen, entbergen und verbergen. Im Zyklus "Hinterland", ebenfalls der mittleren Abteilung zugehörig, begegnet man der Zeile: "Du stehst schon an der nächsten Biegung." Aus dieser dichtungstheoretischen Perspektive erhellt auch die auffällige strophische Gestaltung der beiden Zyklen "Hinterland" und "Piegaresische Fenster". Die vier Teile des ersteren beginnen durchweg mit "und", dem Schwellenwort schlechthin. Die sechs Teile des letzteren bilden eine kreisförmige Struktur. So wie jedes einzelne Gedicht das Schlusswort des vorherigen an seinem Anfang aufgreift, so mündet das letzte in das Auftaktwort des ganzen Zyklus. In beiden Zyklen wird deutlich, dass diese Biegungen als Wendekurven von Serpentinen zugleich die Funktion von Übersprungspunkten in der dichterischen Wahrnehmung markieren.

Damit gerät eine weitere Dimension von Nendzas Dichtung in den Blick, die seinen Texten ihre ganz eigene Qualität verleiht. In "Hinterland" stößt man auf den Begriff "Gedächtnissprung", der dieses Verfahren am genauesten bezeichnet und als Strukturprinzip insbesondere der mittleren Abteilung fungiert. Nendza operiert hier mit einer raffinierten Überblendungstechnik, die die Wahrnehmung der Gegenwart mit der historischen Dimension amalgamiert. Das Verfahren manifestiert sich vor allem im geschichtlichen Transparentwerden der Landschaft. So verhakt sich etwa "Hinterland" in den Resten eines Stacheldrahts, den im 1.Weltkrieg die deutsche Heeresleitung als Todeszaun entlang der belgisch-niederländischen Grenze errichten ließ. Die "Piegaresischen Fenster" erweitern den Horizont des Betrachters um die politische und kunstgeschichtliche Vergangenheit Umbriens. Dieser Zugriff erfolgt nicht aus dem antiquarischen Interesse des Historikers, sondern mit dem Sensorium des Poeten, in dessen Blick Landschaft und Dinge die Spuren ihres Gewordenseins offenbaren. Seine Wahrnehmung ist quasi ein Akt der Häutung, der die Oberfläche ablöst und in den Narben, Pigmentierungen und Faltungen der Haut liest wie in einer Landschaft aus Zeichen. Wie diese Perspektive auch im Alltag ihre Verankerung erfahren kann, demonstriert das Gedicht "Winter, die Kälte, das Holz", das die erste Abteilung "Lichtleiste, singende Kirschen" beschließt. Es entwirft bei einem winterlichen Frühstück aus den unaustilgbaren Rotweinflecken des Tischtuchs das "schattige Fresko" leidenschaftlicher Sommergespräche.

Die Beschreibung von Nendzas poetischer Verfahrensweise zeigt, dass wir es mit einem intellektuellen Dichter, einem artifex zu tun haben, dessen Stimmungen und Wahrnehmungen einem Prozess der reflexiven Filterung und distanzierten Prüfung unterworfen werden. Seine Gedichte sind -mit Benn zu sprechen- ,gemacht'. Auf witzige Weise wird Benns Poetik in der mittleren Abteilung im Gedicht "Terrasse" Reverenz erwiesen, wenn es im Zusammenhang mit dem Auftritt eines Eismanns heißt: "Kalt halten das Material." An Benn gemahnt nicht nur diese dichtungstheoretische Maxime, sondern auf der sprachlichen Ebene auch die Integration von Fachtermini aus Physik und den Lebenswissenschaften. Nendzas Sprache gelingen dabei wunderbare poetische Bilder wie etwa das vom Sandstrand als Benutzeroberfläche. Überhaupt liefert seine Metaphorik auch diesmal eindrucksvolle Beweise für jene von Beatrice von Matt an Nendzas vorangegangenem Gedichtband "Und am Satzende das Weiss" gerühmte "Übergänglichkeit von Konkretem zu Abstraktem", wenn etwa die Liebe als Wanderdüne angesprochen wird oder von dem in der Hitze aufgestauten Ginsterlicht die Rede ist.

"Haut und Serpentine" zeigt Jürgen Nendza auf dem Höhepunkt seines dichterischen Vermögens und kommt bei aller Artistik und allem Raffinement so schwungvoll, locker, unangestrengt und luftig daher, dass man seine Lyrik - um eine seiner schönsten poetischen Wendungen zu zitieren - "jungen Menschen jeden Alters" zur Lektüre empfehlen möchte.

Titelbild

Jürgen Nendza: Haut und Serpentine.
Verlag Landpresse, Weilerswist 2004.
64 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-10: 3935221355

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