Wege der Zivilisationskritik

Ebrahim Mirnam Nia untersucht den Positivismus in der Prozesssoziologie von Norbert Elias

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Warum müssen wir uns mit einer soziologischen Theorie der Zivilisation auseinandersetzen, die nicht auf der Höhe der Zeit ist, und dabei unsere intellektuellen, geistigen Energien vergeuden?"

Schon der erste Satz der Einleitung von Ebrahim Mirnam Nias soziologischer Dissertation "Zum Begriff des Fortschritts bei Norbert Elias" überrascht und verblüfft. Denn weshalb macht sich jemand die Mühe, sich über Jahre mit einem Denker auseinanderzusetzen, wenn er dessen Zivilisationstheorie nicht wertschätzen kann?

Freilich schwindet dieser erste Anflug von Irritation rasch, zumal Ebrahim Mirnam Nia sehr gute Gründe geltend machen kann, warum er sich so intensiv - und man kann sagen: produktiv - mit Norbert Elias und seinem Kosmos beschäftigt hat. Ein äußeres Kriterium spricht außerdem für die Dignität seines Forschungsgegenstandes: Denn seit 1997 erscheint im Suhrkamp Verlag die auf 19 (!) Bände angelegte Ausgabe der "Gesammelten Schriften", und diese ist ein Beleg für die zunehmend starke Nachfrage nach Norbert Elias in den Sozialwissenschaften, die sich vielleicht auch deshalb intensiviert, weil Elias' Werk als Gegenentwurf zur soziologischen Systemtheorie gewertet werden kann, wenngleich ihre Begriffe wie "Figuration", "Interdependenz" und "Verflechtung" ähnlichen Zwecken dienen, nämlich der Bereitstellung eines Systems soziologischer Terminologie. Und so kann der Verfasser zeigen, dass dieser Gegenentwurf an Boden gewinnt, womöglich sogar auf Kosten der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die bei Elias quasi im Windschatten der Reflexion verbleibt, obgleich er wie sie ein geschichtliches Fortschrittskonzept vertritt. Das gilt auch vice versa, denn ebenso scheint es kaum nennenswerte Frankfurter Rezeptionszeugnisse des Elias'schen Œuvres und seines teleologischen Ansatzes zu geben, was sich Mirnam dadurch erklärt, dass Adorno und Co. in dem weithin unbekannten Soziologen einen Sonderling gesehen haben, dessen Werk eine "direkte Konfrontation" nicht verlohne. Es überrascht daher nicht, dass auch in Mirnams Dissertation die Konfliktlinien eher zwischen Elias und der Systemtheorie verlaufen als zwischen Elias und der Kritischen Theorie. Elias' "Systemfeindlichkeit" richtet sich dabei vor allem gegen Talcott Parsons (bekanntermaßen ein Kronzeuge Niklas Luhmanns) dessen Theorie nicht in der Lage gewesen sei, zwischen den Polen "Individuum" und "Kollektiv" zu vermitteln. Gleichwohl richtet sich Kapitel 8 auf jene "zwei Welten", die Adorno und Elias repräsentieren: den Geschichtspessimismus der Kritischen Theorie und den Geschichtsoptimismus in der Prozesssoziologie von Elias.

Obwohl Ebrahim Mirnam Nia schon zu Beginn seiner Studie feststellen muss, dass die von Norbert Elias vertretene soziologische Seitenlinie "durch ihren Mangel an einer offenen konstruktiven Gesellschaftskritik" charakterisiert ist, gelingt ihm eine ebenso fundamentale wie ausgewogene, ebenso sachliche wie differenzierte Darstellung, die selbstverständlich auch Elias' Hauptkritiker, den Kulturanthropologen Hans Peter Duerr ("Der Mythos vom Zivilisationsprozeß"), einschließt und ausführlich zu Wort kommen lässt. Überhaupt ist als angenehm hervorzuheben, dass Mirnam mit Zitaten nicht geizt, sondern die Kontrahenten dort, wo es nötig scheint, ausführlich im Originalton präsentiert. Die Arbeit ist dabei wie folgt aufgebaut:

Auf den historischen Abriss der Fortschrittsdebatte in den Gesellschaftswissenschaften (Kapitel 1) folgt die Darstellung der "methodologischen Bedingungen des Fortschritts" bei Norbert Elias (Kapitel 2), gefolgt von einer Erörterung des Elias'schen Postulates, dass die Gesellschaftswissenschaften von den Naturwissenschaften streng zu trennen seien (Kapitel 3). Im Anschluss hieran problematisiert Mirnam die für Elias elementaren Begriffe "Verflechtung", "Interdependenz" und "Figuration" (Kapitel 4), um dann seinen Gegenstandsbereich der Gesellschaftswissenschaften mit anderen Soziologiemodellen der Moderne (Marx, Weber, Durkheim) zu vergleichen (Kapitel 5). Der Darstellung der Elias'schen Methodenkritik an John Stuart Mill und Karl Popper (dem, wie Mirnam sagt, "falschen Adressaten" seiner Systemkritik) im 6. Kapitel schließt sich im 7. eine Explikation des "Wissenschaftlers" als distanziertem Beobachter und Forscher an. Die beiden abschließenden Kapitel referieren auf Wilhelm Diltheys Konzept der "Geisteswissenschaften" und erörtern Elias' Postulat der Autonomie der Soziologie von den Naturwissenschaften; in zwei Exkursen wird auf das Problem der "Globalisierung" hingewiesen, deren Ziel einer Wertegemeinschaft ("Demokratie und Pluralismus") nicht einmal in der westlichen Welt konsensfähig zu sein scheint, und außerdem ist der Verfasser aufzuweisen bemüht, "was wir bei Elias expressis verbis vermissen".

Die notwendige Kontextualisierung der Elias'schen Kultursoziologie wird im Abgleich mit Denkern wie Paul Feyerabend (schon hinsichtlich von Duerrs Fundamentalkritik vonnöten), Imre Lakatos, Karl Popper und dem Wiener Kreis, aber auch durch Rekurs auf die Klassiker der Soziologie (allen voran Auguste Comte) geleistet.

Mit Ebrahim Mirnam Nia wirft ein Orientale den Blick auf die "Wiege der Weltzivilisation" und damit auf gesellschaftliche Umstände im Mittleren und Nahen Osten, die ein Beweis dafür zu sein scheinen, dass "die Aufklärung längst kapituliert" hat. Und auch im Okzident haben die Aufklärer sichtlich Mühe, ihren Verstand klar und den Kopf oben zu (be-)halten. Da wirkt eine Soziologie wie die von Norbert Elias nicht nur tröstlich, sondern im besten Sinne anregend und zukunftsweisend, und so zeigt die bei Heinz Steinert und Karl Otto Hondrich entstandene Arbeit eindrucksvoll, dass es sehr wohl lohnenswert sein kann, sich mit einer Theorie zu beschäftigen, "die nicht auf der Höhe der Zeit ist". Denn für die Zeitumstände kann sie nichts.

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Ebrahim Mirnam Nia: Zum Begriff des Fortschritts bei Norbert Elias.
Shaker Verlag, Aachen 2003.
356 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 3832219684
ISSN: 14333546

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