Grundlagen einer unzeitgemäßen Diskussion

Axel Bühler versammelt Basistexte zur Hermeneutik

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar gehört die historische wie systematische Auseinandersetzung mit hermeneutischen Positionen aus Gründen der Vollständigkeit zur Pflicht einer jeden Einführung in die Literatur- oder Wissenschaftstheorie, fragt man indes nach dem Status spezifisch hermeneutischer Fragestellungen und Theorien im aktuellen Diskurs etwa der germanistischen Literaturwissenschaft, so ist es nicht ohne größere Schwierigkeiten möglich, diese im diffusen, pluralistischen Wust diskurstheoretischer, (de-)konstruktivistischer, intertextualitätstheoretischer, kultursemiotischer, kultursoziologischer etc. Arbeiten zu Fragen etwa der Gender-Konzeption, der Performanz und / oder Materialität von Kommunikation, der Aleatorik künstlerischer Sprachspiele, der Einschreibung z. B. psychiatrischer Diskurse oder der Analyse des künstlerischen Habitus überhaupt zu identifizieren. Die (scheinbare) Verabschiedung hermeneutischer Fragen mag hierbei auf die der postmodernen Textwissenschaft üblicherweise angekreidete Methodenfeindlichkeit wie auf deren ebenso oft monierten Theorieüberschuss zurückzuführen sein: Mit der u. a. an einem "Kanon der Theorie" entwickelten Infragestellung vermeintlich "metaphysischer" Kategorien wie Subjektivität, Autorschaft, Intention und der Orientierung auf den sich durch prinzipielle Polyvalenz und unhintergehbare Sinnoffenheit auszeichnenden Text als zentrale Bezugsgröße interpretatorischer Anstrengung ging - zumal im Zuge der Dogmatisierung besagter Positionen - zwangsläufig die Diskreditierung hermeneutischer Bedeutungstheorie und Interpretationsmethode einher, die ja seit jeher den Text als Ausdruck einer Mitteilungsabsicht des Autors und die investigatio mentis auctoris als Ziel der tatsächlich zu einem Abschluss kommenden Textauslegung erachtet hatte. In diesem Sinne bestimmte etwa Georg Friedrich Meier in § 112 seines "Versuchs einer allgemeinen Auslegungskunst" (1757) den von der Auslegung zu ermittelnden Sinn einer Schrift als "diejenige Reihe miteinander verknüpfter Vorstellungen, welche der Autor durch die Rede bezeichnen will."

Während freilich Autoren wie Meier, Johann Martin Chladenius, Christian August Crusius oder Hermann Samuel Reimarus in ihren Hermeneutiken eine auf der Sprachtheorie des Klassischen Rationalismus basierende Auslegungsmethodologie in Gestalt eines Regelkanons vorstellten, wird das Wort "Hermeneutik" den gegenwärtig mit Textinterpretation befassten Wissenschaftler weniger an deren anwendungsbezogene Positionen gemahnen als vielmehr an die das Verstehen als Existenzweise des Menschen veranschlagende axiomatische Ontologisierung hermeneutischer Fragestellungen durch Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer.

Die von Axel Bühler zusammengestellte Textsammlung allerdings lässt gerade diese sogenannte "Philosophische Hermeneutik" weitestgehend unberücksichtigt und sucht stattdessen zentrale "Hauptprobleme der Hermeneutik als einer Methodenlehre der Interpretation" auszuweisen und zu diskutieren. Nicht die "existentiale Analytik des Daseins" (Heidegger) steht also im Mittelpunkt, sondern die Methodologie der praktischen Textauslegung, wobei deren Erörterung in systematischer Perspektive, d. h. unter Vernachlässigung historischer Herleitungen erfolgt. Die neun Aufsätze besitzen zudem einen gewissen dokumentarischen Charakter, insofern es sich im Gros um in den siebziger und achtziger Jahren publizierte Texte handelt, von denen einige überdies in deutscher Übersetzung bislang nicht zugänglich waren. In einem knappen Einleitungskapitel sucht Bühler die einzelnen Beiträge in einen systematischen Zusammenhang zu stellen, indem er deren Bezug zu folgenden Leitfragen erörtert: 1) Was sind die Ziele des Interpretierens? 2) Welche Methoden sind beim Interpretieren einzusetzen? 3) Welche Rolle nimmt die Interpretation im Rahmen der wissenschaftlichen Erkenntnis ein?

Der Diskussion der letztgenannten Fragestellung widmet sich ausführlich der "Hermeneutik und Realwissenschaft" überschriebene Aufsatz Hans Alberts, in dessen Mittelpunkt die Frage nach der Eigenart spezifisch geistes- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisformen bzw. den Möglichkeiten ihrer Abgrenzung gegenüber den Methoden der Naturwissenschaften steht. Aus der dezidierten Kritik "antinaturalistischer", einen methodologischen Dualismus postulierender Positionen (Habermas, Apel) leitet Albert eine Spezifik und Autonomie geisteswissenschaftlicher Methode negierende Alternative her, die im wesentlichen eine Behandlung der Sinnproblematik der Geisteswissenschaften im Rahmen eines naturalistischen Erkenntnisprogramms vorschlägt, dem auch die übrigen Aufsätze des Bandes wenigstens ihren Grundzügen nach anhängen - als ihr Verdienst kann insofern das Infragestellen weitgehend unhinterfragter Maximen und Ordnungsprinzipien geistes- und sozialwissenschaftlicher Praxis erachtet werden.

So wirft etwa der Gemeinspruch, jedes Interpretieren eines Textes ziele auf das Verstehen seines Sinns ab, bei näherer Betrachtung zumindest die Frage auf, was genau hier mit den eher diffusen Begriffen "Interpretieren", "Verstehen" und "Sinn" gemeint sei. Die Mehrdeutigkeit des Verstehensbegriffs - was wird wie genau verstanden? - wird in den sprachanalytischen Aufsätzen Wolfgang Künnes ("Verstehen und Sinn") und Werner Strubes ("Analyse des Verstehensbegriffs") ebenso systematisch dargelegt wie diejenige des Interpretationsbegriffs - welche Ziele verfolgen Interpretationen, welche Aktivitäten bzw. deren Ergebnisse werden als Interpretation bezeichnet, welche "Methoden" angewandt? - durch Axel Bühler ("Die Vielfalt des Interpretierens"). In Künnes Ausführungen ist vor allem die zwischen (Aufklärungs-)Hermeneutik und Sprachanalytischer Philosophie vermittelnde Erörterung des sogenannten Prinzips der "wohlwollenden Interpretation" (aequitas hermeneutica, principle of charity) von zentraler Bedeutung - der Präsumtion also, der Autor wolle verstanden werden und habe seine Rede demgemäß verständlich eingerichtet. Dieser "Grundsatz der zu unterstellenden Zweckrationalität" setzt ersichtlich voraus, dass sprachliche Äußerungen als zielgerichtete Handlungen ihres Urhebers aufzufassen und mithin intentional zu erklären seien.

Nun wurde bekanntlich gerade die Annahme, Interpretation bestehe im Herausfinden der kommunikativen Intentionen des Autors, von Beardsley und Wimsatt (1946) wirkungsmächtig kritisiert und unter das (wenigstens theoretisch) dogmatische Schlagwort der "intentional fallacy" gebracht. Einige aus dieser Kritik resultierende Probleme sucht Göran Hermerén ("Intention und Interpretation in der Literaturwissenschaft") auszuweisen und zu diskutieren, um schließlich zu argumentieren, das Hervorbringen von Literatur sei als eine Art von Kommunikation zu erachten, bei der die Absichten der Autoren sehr wohl von Bedeutung seien. In ihrer sich vorsichtig vorantastenden analytischen Klarheit stellt Hermeréns Untersuchung m. E. eine Pflichtlektüre für Studenten wie arrivierte Literaturwissenschaftler dar. Zentrale methodologische Schwierigkeiten des Faches werden ausgewiesen und in ihrer Argumentationsstruktur offengelegt. Gefragt wird u. a. welche Informationen als Belegmaterial zur Überprüfung interpretativer, auf die Intention des Autors bezogener Aussagen herangezogen werden können, welche Rolle hier insbesondere "externe Belege" - z. B. Aussagen des Autors über die Art und Weise, wie das Werk zu lesen und zu deuten sei (interpretatio authentica) - spielen. Sind Informationen über die Intentionen des Autors jemals relevant für oder gegen Hypothesen über die Bedeutung eines literarischen Kunstwerks? Es gehört zu den wichtigsten Einsichten Hermeréns, die Beantwortung dieser Frage dezidiert von einer vorherigen Bestimmung des Bedeutungsbegriffs, von einer "Theorie der Bedeutung" abhängig zu machen, woraus z. B. folgt: "Akzeptiert man eine Bedeutungstheorie von der Art, wie sie Austin, Grice, Searle und ihre Nachfolger vorgeschlagen haben, dann folgt trivialerweise, daß immer einige Autorabsichten relevant sind." Nur in Parenthese ist hier auf den unlängst von Simone Winko et al. herausgegebene Sammelband "Regeln der Bedeutung" (2003) zu verweisen, der erstmals und detailliert die Notwendigkeit einer literarischen wie literaturwissenschaftlichen Semantik ausweist, gängige Stereotype (z. B. Autonomie, Polyvalenz, Uneigentlichkeit etc.) problematisiert und unter Berücksichtigung linguistischer, kognitionswissenschaftlicher, sprachphilosophischer etc. Forschungsergebnisse zumindest in Ansätzen Konzepte eines spezifischen Bedeutungsbegriffs vorstellt.

Freilich bleibt im Falle einer autorintentionalistischen Bedeutungstheorie eine Unterscheidung verschiedener Intentionen zu leisten. In diesem Sinne schlägt Hermerén die m. E. nicht völlig stichhaltige, weil in letzter Konsequenz womöglich auf die unhaltbare Setzung einer - sagen wir - 'Schizophrenie des Künstlers' hinauslaufende Unterscheidung von literarischer und nichtliterarischer Intentionen vor - und macht damit jedenfalls deutlich, dass die literaturwissenschaftliche Debatte über die Relevanz der intentio auctoris zuvörderst eine begriffliche Explikation und Differenzierung des Intentionsbegriffs erforderlich macht. Für eine kaum geführte Diskussion ertragreich scheint mir auch Hermeréns Vorschlag zu sein, zwischen verschiedenen Graden der Bewusstheit von Intentionen, also etwa zwischen bewussten und unbewussten Intentionen, zu unterscheiden.

Als Ausgangspunkt weitergehender Erörterung könnte auch Hermeréns Versuch fungieren, unter Bezugnahme auf Wittgensteins Konzept der Sprachspiele (Regelhaftigkeit, Historizität, positive / negative Eingebundenheit in Gebrauchskontexte, -konventionen und -traditionen) ein literarisches Kommunikationsmodell zu inaugurieren, dem freilich notwendig die Unterstellung von Mitteilungsabsicht und Zweckrationalität auf Seiten des Autors als allgemeine Interpretationsmaximen zugrunde liegen: dort wo der Autor sich unverständlich - i. e. nicht regelgerecht - ausdrückt, will er demnach nicht verstanden werden; will man einen Autor verstehen, muss man präsumieren, dieser habe sich verständlich ausgedrückt. Im gegebenen Rahmen kommt Hermerén über eine grobe Skizze freilich nicht hinaus; gleichwohl stellen seine Ausführungen m. E. einen umso bedenkenswerteren Ansatz dar, als gegenwärtig einige bislang kritikenthobene Dogmen - die Verabschiedung des Autors, die These von "Aufschub" oder "Entzug" literarischer Bedeutung etc. - endlich wieder Gegenstand literaturwissenschaftlicher Erörterung werden: Warum sollte nicht auch ein hinreichend komplexes, im einzelnen freilich stark zu modifizierendes Kommunikationsmodell - ich erinnere auch an das zuletzt von Siegfried J. Schmidt entwickelte - zum Ausgangspunkt produktiver Auseinandersetzung auch und vor allem mit der eigenen Praxis werden? Bedenkt man zudem, wie viele der Fragen, die Hermerén vor knapp dreißig Jahren aufgeworfen hat, auch heute noch einer Klärung harren, so wird deutlich: Hier ist nur wenig zu kritisieren, für vieles aber - zumal in methodologischer Perspektive - zu danken.

Der folgende, vier Aufsätze umfassende Abschnitt der Textsammlung ist an folgenden Leitfragen orientiert: 1) Gibt es - wie der Antinaturalismus behauptet - eine für Geistes- und Sozialwissenschaften spezifische Methode des Verstehens? 2) Mit welchen Methoden kann beim Interpretieren Objektivität gewährleistet werden? 3) Ist die Bestätigung von Interpretationshypothesen in einer spezifischen Zirkelhaftigkeit befangen? 4) Welche Rolle spielen Prinzipien des Wohlwollens und der Rationalität bei der Interpretation? Jeder dieser vier Fragen ist ein Aufsatz gewidmet: Dagfinn Føllesdal untersucht an einem literaturwissenschaftlichem Beispiel ("Peer Gynt") den Konnex zwischen "Hermeneutik und hypothetisch-deduktiver Methode" und gelangt zu dem Ergebnis, dass zwischen Natur- und Geisteswissenschaften kein grundsätzlicher methodologischer Unterschied bestehe, insofern auch bei der Interpretation eines Textes die Adäquatheit von Hypothesen durch Konfrontation mit den "Tatsachen" beurteilt werde. Es versteht sich, dass diese "Tatsachen" (z. B. andere Textstellen) selbst immer nur als interpretierte und in ihrer Relevanz jeweils zu beurteilende in den Blick kommen und zuweilen lediglich den Status von mehr oder weniger plausiblen Indizien beanspruchen können. Vor allem die Entwicklung der Argumentation am konkreten Beispiel macht Føllesdals Aufsatz äußerst lesenswert. Bedenkenswert ist zudem die Feststellung, dass, selbst dann, wenn eine Hypothese mit allen "Tatsachen" übereinstimmt, noch immer zu fragen bliebe, "ob es nicht auch noch andere Hypothesen und Theorien [gibt], die mit allen Tatsachen ebenso gut übereinstimmen".

Auch Føllesdal weist ausdrücklich auf die Bedeutung von Rationalitätspräsumtionen (etwa: Konsistenz) für die Interpretation absichtvollen, sinnhaften Handelns hin: Ein Autor wählt demnach aus mehreren möglichen Handlungsalternativen diejenige Darstellungsweise aus, die hinsichtlich seiner Handlungsabsicht und seiner transitiven Präferenzen zum Zeitpunkt t (deren Konsistenz über die Zeit wir gemeinhin unterstellen) den höchsten erwarteten Nutzen besitzt; der Text erscheint in diesem Sinne als Mittel zum Zweck der Kommunikation.

Bei der Diskussion der Frage, ob bei der Interpretation von Texten Objektivität im Sinne einer Verständigung um die Angemessenheit einer Deutung zu erreichen sei, geht Nicholas Rescher ("Hermeneutische Objektivität") von einer harschen, m. E. viel zu pauschalen Kritik des "Dekonstruktionismus" aus: Dieser sehe "alle alternativen Interpretation eines Textes als in gleicher Weise gerechtfertigt und angemessen an" und vertrete damit "einen indifferentistischen Relativismus" bzw. einen "relativistischen Indifferentismus" und "Egalitismus". Aber behauptet 'die' - wessen eigentlich? - Dekonstruktion tatsächlich die Äquivalenz jedweder Textinterpretation? Rescher jedenfalls scheint eine Begründung dieser argumentationstragenden Behauptung offensichtlich für nicht erforderlich zu halten und glaubt freudig in der "Bedeutsamkeit des Kontextes" das "Haar in der dekonstruktionistischen Suppe" aufgefunden zu haben; er erhebt sich zu folgender Geisteshöhe: Interpretationen sind nicht gleichwertig, sondern in ihrer Adäquatheit anhand der (kon-)textuellen Gegebenheiten zu gewichten! - "Der entscheidende Punkt ist also, daß jeder Text in einem historischen und kulturellen Kontext steht [...]. Der Kontext der Texte [...] schränkt die möglichen Interpretationen [...] ein und umgrenzt sie." Rescher zufolge gehören zu diesem "Kontext" nicht nur Bestandteile des auszulegenden Textes selbst, sondern auch andere auf den Text bezogene Informationen (die interpretatio authentica etwa) sowie außertextliche "Daten" (z. B. die Biographie des Autors). Auch hier ist ersichtlich ein Kommunikationsmodell grundlegend; allerdings macht sich Rescher - anders als Hermerén - nicht eigens die Mühe zu diskutieren, inwieweit etwa der Biographie eines Autors ein Belegcharakter für oder gegen eine bestimmte Deutungshypothese zukommen könne. Alles andere als originell (alle von Rescher aufgezählten Kontextdaten begegnen bereits in der Aufklärungshermeneutik stereotyp; nebenbei bemerkt: der Text stammt von 1997) nimmt sich auch der Vorschlag aus, dem Verfahren der Dekonstruktion das der "Rekonstruktion" des Kontextes entgegenzuhalten, wobei als Maßstäbe - dass solche "normativ" anzusetzen seien, steht für Rescher außer Frage - der Interpretation deren "Kohärenz", "Adäquatheit" und "Plausibilität" zu gelten haben. Alle Hochachtung verdient der Autor für Aussagen wie die folgende: "Vernünftige Textinterpretation ist keine [!] Angelegenheit von Flügen einer anything-goes-Phantasie in die Traumwelt ungebundener Wahngebilde". Reschers leidenschaftlich rationalitätsgläubiges Plädoyer ist - daran ändern auch die "versöhnlichen Schlußbemerkungen" nichts

- an Banalität kaum zu überbieten. Mehr noch: Das von ihm in grober Schwarzweißmalerei entworfene polemische Feindbild des alles relativierenden und gleichmachenden "Dekonstruktionismus" hat mit der tatsächlich weitaus komplexeren Wirklichkeit nur wenig gemein, ist also als Interpretation alles andere als adäquat in Reschers Sinne, gerade weil es offenkundig den Kontext - zumal den historischen - außer Acht lässt. Wenn ich recht sehe, hat gerade Jacques Derrida auf die Relevanz einer Kontextveränderung für die Bedeutungszuweisung - genauer: darauf, dass aufgrund des veränderlichen Kontextes bzw. aufgrund der Unabschließbarkeit desselben jede Interpretation relativ prekär bleiben müsse - mehrfach aufmerksam gemacht.

Mag man bei Reschers Text noch fragen, welche Gründe den Herausgeber wohl bewogen haben mögen, einen derart undifferenzierten und wenig ertragreichen Beitrag aufzunehmen, erübrigt sich mit Blick auf den nachfolgenden Aufsatz jedwede Skepsis: Wolfgang Stegmüllers umfangreiche "Betrachtungen zum sogenannten Zirkel des Verstehens" führen mit logisch-analytischer Präzision die Uneinheitlichkeit hermeneutischer Terminologie vor Augen: Was genau ist gemeint, wenn vom "hermeneutischen Zirkel" die Rede ist? Lassen sich Interpretationshypothesen - im Gegensatz zu Hypothesen in den Naturwissenschaften - tatsächlich nur auf zirkuläre Weise bestätigen? Einer genaueren Beschreibung des seit Friedrich Ast (1808) gemeinhin als "Zirkel des Verstehens" bezeichneten Phänomens (Stegmüller zufolge handelt es sich weniger um einen Zirkel, denn um ein "Dilemma"), folgt die - auch von Føllesdal formulierte - Feststellung, die Zirkelhaftigkeit von Überprüfungshypothesen sei auch in naturwissenschaftlicher Forschung aufzufinden und lasse sich mithin nicht als Argument für eine systematische Abgrenzung der Geistes- von den Naturwissenschaften anführen.

Stößt man in einem von einem rational handelnden Autor verfassten Text auf einen scheinbaren Widerspruch, wird man dazu neigen, den Text in einer Weise umzudeuten, die die Auflösung dieses Widerspruchs gestattet bzw. ermöglicht, darauf zu verzichten, dem Autor Irrationalität zuzuschreiben. Der Frage nach der Relevanz solcher Wohlwollensprinzipien und Rationalitätspräsumtionen für die Interpretation geht - wenngleich bezogen auf die Übersetzung - in seiner den Abschluss des Bandes bildenden Studie "Das Prinzip des Wohlwollens und das Problem der Irrationalität" David K. Hendersons nach. Ausgehend von Quines Konzept der Urübersetzung ("radical translation") diskutiert er die konkrete Wirksamkeit des die Zuschreibung irrationaler oder widersprüchlicher Überzeugungen de facto ausschließenden (Henderson spricht hier vom "Problem der Irrationalität") hermeneutischen Wohlwollens bei der Erstellung von auf Erklärbarkeit sprachlicher Phänomene abzielenden Übersetzungshandbüchern. Er schlägt eine an den Stadien des Übersetzungsvorgangs orientierte Abstufung des Wohlwollensprinzips vor. Hendersons Beitrag stellt - dies sei angemerkt - den im Diskurs der analytischen Philosophie wenig Bewanderten vor erhebliche Verständnisprobleme. Bedenkt man die Abstraktionsebene wie das mitunter beträchtliche theoretische Niveau auch der übrigen Aufsätze des Bandes, stellt sich m. E. die Frage, ob Bühler mit seiner Einschätzung, dieser könne "als Einführung in die Hermeneutik dienen" nicht ein wenig zu optimistisch ist. Ob die mitunter hochkomplexen Aufsätze ohne jede Vorkenntnis von "alle[n], die in textinterpretierenden Disziplinen tätig sind" - dies der explizit benannte Adressatenkreis -, gleichermaßen durchdrungen werden können, muss m. E. wohl eher angezweifelt werden. In diesem Sinne dürfte die eingehende Lektüre einer beliebigen 'Einführung in die Wissenschaftstheorie' und einer 'Logischen Propädeutik' durchaus von Nutzen für das Verständnis der von Bühler versammelten Texte sein. Immerhin bietet die übersichtlich gegliederte kommentierte Bibliographie zur Hermeneutik nicht nur Hinweise auf historisch wirkungsmächtige, sondern auch auf grundlegende und im Thema weiterführende Texte. Ein benutzerfreundliches Personen- und Sachregister trägt zur Übersichtlichkeit und Erschließbarkeit der Textsammlung bei, deren Lektüre auch denjenigen, die sich bislang eher mit Foucault, Barthes und Derrida, Gadamer, Jauß und Iser befasst haben, zu empfehlen ist. Gerade mit Blick auf die oben konstatierte scheinbare Verabschiedung hermeneutischer Fragestellungen entpuppt sich die Hermeneutik in der von Bühler vorgestellten systematisch-methodologischen Perspektive als eine jener Totgesagten, die sich zurecht als außergewöhnlich widerstandsfähig erweisen.

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Axel Bühler (Hg.): Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2003.
285 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3935025408

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