Wissenschaft als "eine leider falsche, ungeprüfte Selbstverständlichkeit"?

Hartmut Hentig zum Verhältnis von Wissenschaft und Bildung

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hartmut von Hentig, der ehemalige Leiter der Laborschule Bielefeld, der dezeit zu den wichtigsten Pädagogen Deutschlands gehört, darf Dinge sagen, die andere sich vielleicht so nicht zu sagen trauen. Deshalb nimmt er auch kein Blatt vor den Mund, wenn er den gegenwärtigen Wissenschaftsbegriff in seinem Buch "Wissenschaft - eine Kritik" herb und doch herzlich auseinander nimmt. Aus den zehn Aufsätzen, die z. T. aus überarbeiteten früheren Reden bestehen, spricht die Stimme eines knapp 80-Jährigen, der seit Jahrzehnten vom Wissenschaftsbetrieb "Hochschule" geprägt worden ist.

Logisch gehört seine Wissenschaftskritik zu dem 1996 erschienenen Buch "Bildung - ein Essay", denn zusammen decken beide das Spektrum einer Diskussion ab, bei der immer wieder versucht wurde und wird, den einen Begriff mit dem anderen (in Bezug auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Relevanz) "totzuschlagen". Von Hentig setzt zwar beide Begriffe nicht konträr, doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass seine Vorstellung von Bildung grundlegend positiv konnotiert ist, während er der Wissenschaft (und damit verbundenen Werten wie der Bedeutung einer "Wissensgesellschaft") negativ oder doch zumindest sehr skeptisch gegenübersteht. Für sich persönlich konstatiert er zusätzlich eine Abneigung gegen das wissenschaftliche Arbeiten: "Wissenschaftlich schreibe ich nur aufgrund einer Aufforderung, nicht von mir aus. Ich habe kein Bedürfnis danach. [...] Ich entwickle eine regelrechte Schreibphobie und überwinde sie nur mit qualvoller Selbstdisziplin."

Einen positiven Wissenschaftsbegriff gewinnt er dann doch, aber nur über eine gründliche Kritik am bestehenden Wissenschaftsverständnis. So missbilligt er beispielsweise, dass die Erkenntnisse der Wissenschaft oftmals als unhinterfragbar legitim gelten: "Das Wissensaggregat wächst exponentiell, die Organisation verzweigt sich, die Übersicht und Kontrolle entgleitet 'uns' einzelnen. Und doch lassen wir uns von Wissenschaftlern, die man zu 'Weisen' ernannt hat, Weisungen erteilen: die Steuern zu senken, das in der gesamten Menschheitsgeschichte genossene Akrylamid zu vermeiden und kräftig Ganztagsschulen einzurichten."

Während von Hentig die Bildung als einen subjektiven und individuellen Prozess begreift, legt er dar, dass die Wissenschaft vom Objekt her gedacht werden muss - nicht umsonst erwächst daraus das Kriterium der Objektivität zur Legitimation eines wissenschaftlichen Sachverhaltes. Damit diese Objektivität gewährleistet werden kann, fordert er, dass die Wissenschaft frei zu sein habe, denn: "Wie die Bildung aufhört, Bildung zu sein, wenn sie erzwungen oder mechanisch eingegeben wird, so hört Wissenschaft auf, Wissenschaft zu sein, wenn sie von außen gelenkt, verordnet oder begrenzt wird."

Aber genau darin sieht er gegenwärtig ein großes Problem: Er stellt fest, dass die Wissenschaftsbetriebe viel zu sehr im Dienste spezifischer Interessen (z. B. Vermarktungsmöglichkeiten) stehen, als dass ein wirklicher Diskurs über das, was "wahr" ist, zustande käme. Die Frage nach der Wahrheit, Gerechtigkeit und Vernünftigkeit sei an den Hochschulen mittlerweile schon "subversiv" geworden. Von Hentig geht so weit zu behaupten, dass die Wahrheit keinen Platz mehr in der Wissenschaft habe, da diese von Anpassungs- und Verwertungszwängen dominiert sei und fragt mit leiser Bitterkeit: "Gehört 'Wahrheit' nicht zu den altmodischen, ausgedienten, abgelegten Wörtern - zu Magnifizenz und Metaphysik, zu Keuschheit und Kommilitone, zu Unvordenklichkeit und Ubiquität, zu Zimtladen und Zapfenstreich?"

Damit will und kann sich von Hentig, der sich selbst zu den "Aufklärern" zählt, natürlich nicht abfinden. Er fordert, die Unabhängigkeit der Wissenschaften wiederherzustellen, etwa mit der finanziellen Sicherstellung der Grundlagenforschung, die für ihn eine öffentliche Aufgabe ist, vergleichbar mit dem Bau von "Autostraßen und Abwässeranlagen". Dies wäre für den Pädagogen ein Weg, "wie wir ein besseres Verhältnis zu dieser Schicksalsmacht [Wissenschaft] gewinnen könnten - ein Verhältnis, in dem der vernünftige Gebrauch von Wissenschaft, ihre aufklärende Rolle, ihre kritische Kraft wiederhergestellt und vor dem Umschlagen in Priesterweisheit oder in bloß instrumentelle Rationalität bewahrt werden."

Titelbild

Hartmut von Hentig: Wissenschaft. Eine Kritik.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
296 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446203761

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hartmut von Hentig: Bildung. Ein Essay. 5. Aktualisierte Auflage.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2004.
210 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3407221584

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