Syllogismus des Sterbens

Eine philosophische Gutenachtgeschichte von Michael Weingarten

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass sich Philosophen mit dem Sterben beschäftigen, hat bekanntlich eine lange, vielleicht gute Tradition. Landauf, landab denkt man dabei an die stoische Haltung, das Unvermeidliche durch Einsicht zu ertragen. Auch der Marburger Philosoph Michael Weingarten hat sich in einer kleinen und dichten Studie diesem alten Thema zugewendet, vor dem aktuellen Hintergrund der "Technisierung des Todes" und den wiederkehrenden Debatten um die Sterbehilfe. Der Text richtet sich an philosophisch Gebildete, die insbesondere an Thema und Denkstil der Bioethik ihre Freude haben. Das Buch gibt sich also nicht als Erbauungslektüre.

Der Text beginnt damit, "drei Eckpunkte der philosophischen Behandlung des Sterbens" herauszustellen, indem er Tolstois Erzählung "Der Tod des Iwan Iljitsch" als ein "Reflexionsmittel" gebraucht, mit dessen Hilfe verschiedene "Stufen" eines "Prozesses der Bewusstwerdung" durchlaufen werden können. Auf der ersten Stufe wird die (ihrerseits unspezifische) Differenz zwischen theoretischen und praktischen Sätzen erkennbar. An dieser von Josef König übernommenen Unterscheidung hängt das begriffliche Gerüst der Überlegungen des Autors. Demzufolge ist der im modus ponens vorliegende Syllogismus (Alle Menschen sind sterblich. Ich bin ein Mensch. Also bin ich sterblich.) als "inhomogen" zu bezeichnen, da der (theoretische) Obersatz auf die Gattungsallgemeinheit und der (praktische) Mittelsatz auf den individuellen Lebensvollzug bezogen ist. Problematisch ist nun, so Weingarten, dass die logische Formgleichheit die Differenz verbirgt, die zwischen den "logischen" und den "natürlichen", wirklich existierenden Individuen besteht. Das zeigt sich überall dort, wo die Theorie unbefugt (ohne intersubjektive Klärung der Rechtfertigung ihrer Zwecksetzungen) auf die Praxis übergreift, indem sie etwa den Prozess des Sterbens naturwissenschaftlichen Beschreibungen unterwirft.

In diesem Sinne wird Iwan Iljitsch auf zweiter Stufe des "Lug und Trug" ansichtig, "mit dem ihn die Ärzte und seine Familienangehörigen umgeben, indem sie sein Sterben als Krankheit ansprechen und so die Illusion der Behandelbarkeit und Heilbarkeit erzeugen." Das medizinische Wissen richtet sich auf den menschlichen Körper als Ding, das prinzipiell, wenn Funktionsstörungen (z. B. durch Abnutzung der Teile) auftreten, "repariert" werden kann. Dieses Reparaturwissen geht nicht nur am Sachverhalt des sterbenden Iwan vorbei, sondern verbindet sich mit dem Verhalten der Angehörigen, die "die entsetzliche Tatsache seines langsamen Sterbens [...] auf die Stufe einer zufälligen Unannehmlichkeit, [...] gewissermaßen einer Unschicklichkeit [herabwürdigen]."

Dagegen verhält sich Gerassim, der dem Sterbenden helfende Pfleger, ganz anders. Dieser "natürlich-unverdorbene Bauernbursche" beschäftigt sich in praktischer Weise mit dem Menschen (Iwan), der "unvertretbar" sein ureigenes Leben zu Ende führt. Tolstoi lässt ihn sagen: "Alle werden wir sterben. Warum sich nicht ein bißchen Mühe geben?" So wird es Iwan leichter, die dritte Stufe des "in der Reflexion statthabenden Entwicklungsprozesses" zu erreichen, nämlich das Sterben zu "akzeptieren", weil es sinnvoll ist. Weingarten interpretiert diesen Aspekt wie folgt: "Iwan Iljitsch erkennt nun, dass der Wunsch (immer weiter) zu leben grundsätzlich verfehlt ist, weil er - bezogen auf sein individuelles Leben - auf die Fortsetzung eines Lebens im falschen Zustand hinauslaufen müsste: Er kann sein Leben nicht wirklich neu beginnen, sondern könnte sein altes, verfehltes Leben nur ohne grundsätzliche Änderung fortsetzen." Zwar schreit er zuletzt "anhaltend", aber schwerer wiegt die doppelte Einsicht in den lebensgeschichtlich abgeschlossenen und zwischen den Generationen bestehenden Sinnzusammenhang. Entsprechend modifiziert der Autor den klassischen Syllogismus im Anschluss an ein Zitat von Robert Walser (gemäß der neu gewonnenen modaltheoretischen Charakterisierung der Sterblichkeit als "notwendige Möglichkeit"): "Wenn schon gestorben sein soll, dann sterbe ich eher gern als ungern, wenn ich durch mein Sterben einem Anderen die Möglichkeit des Neuanfangs eröffne."

Eine seltsame Logik spielt sich hier in den Vordergrund: "Das Sterben des Einen eröffnet dem Anderen als Nachgeborenem die Möglichkeit, neu anfangen zu können." Das allgemeine Sterbensollen (der Obersatz: Wenn schon gestorben sein soll ...) wird nicht länger als unpersönliche und problematische Forderung aufgefasst, sondern bruchlos als sinnvolle Handlungsmaxime dem (exemplarischen) "individuellen Lebensvollzug" eingeschrieben. Damit geht nicht nur der Witz der Walser'schen Formulierung baden. Darüber hinaus geht das Sterben des Einzelnen in einem Allgemeinen auf - und unter. Entgegen den Absichten des Verfassers setzt sich doch wieder ein theoretischer, vorab festgestellter universaler Sinn im menschlichen Handeln fest.

Dieses Problem schlägt sich auch an anderer Stelle nieder. Die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Sätzen soll es nämlich erlauben, zwischen dem Tod in Folge einer Krankheit (oder eines Unfalls) und dem (natürlichen) Tod in Folge hohen Alters "am Ende eines gelebten Lebens" zu differenzieren. Das ist für den Autor ein wichtiger Punkt, weil er einerseits der Entwicklung von Wissenschaft und Technik alle Möglichkeiten offen hält, das "zu frühe" Sterben mit allen Mitteln abzuwenden. "Denn das Sterben in Folge einer Krankheit, einer Verletzung, aber auch in Folge naturaler, bspw. mit der Zellteilung einhergehender Prozesse, bezieht sich auf eine Grenze, die mit dem faktischen Stand unseres medizinisch-technischen und biologischen Wissens und Könnens gegeben ist, von dem wir aber hoffen und erwarten dürfen, dass diese Grenze durch besseres medizinisches und biologisches Kennen und Können immer wieder überschritten wird." Andererseits gilt es aber, eine anthropologisch begründbare (und unüberschreitbare) Altersschranke des menschlichen Lebens zu behaupten, die sich aus der (lebenspraktisch gedeuteten) Sterblichkeit des Menschen ergibt, um der drohenden Verwissenschaftlichung und Technisierung des menschlichen Lebens Einhalt zu gebieten. Wenn dagegen praktische Sätze nivellierend als theoretische Sätze verstanden werden, so erscheint das Sterben generell (in beiden Fällen) als krankheitsbedingt und medizinisch heilbar. "Dies hat zur Folge, dass der Arzt sich verpflichtet fühlt, auch den alten und sterbenden Menschen mit allen technischen Mitteln 'am Leben' zu halten [...]. In dieser technischen Perspektive erscheint [...] das individuelle Leben prinzipiell unabschließbar und somit - zumindest perspektivisch und der Möglichkeit nach - ewig dauernd."

Der Autor vermeidet es nicht, seine Position von Max Weber, dem großen Gegenspieler der Eugenikbewegungen in der deutschen Soziologie, absegnen zu lassen. Er zitiert die folgende verfängliche Stelle, die sich auf die neuesten Medizintechniken zur bloßen Erhaltung des Lebens bezieht: "Der Mediziner erhält mit seinen Mitteln den Todkranken, auch wenn er um Erlösung vom Leben fleht, auch wenn die Angehörigen, denen dies Leben wertlos ist, [...] - es handelt sich vielleicht um einen armseligen Irren -, seinen Tod wünschen und wünschen müssen. Allein die Voraussetzungen der Medizin und das Strafgesetzbuch hindern den Arzt, davon abzugehen. Ob das Leben lebenswert ist und wann?, - danach fragt sie nicht."

Die nivellierenden Übergriffe der Theorie auf die Praxis werden zweifach konkretisiert. Zum einen wird konstatiert, dass im Kontext des Sterbens regelmäßig "in naturalistischer Absicht" auf biologisches Wissen zurückgegriffen wird. Das menschliche Leben wird auf diese Weise verdinglicht, indem es als kausal erklärbares Zusammenspiel naturaler Prozesse aufgefasst wird, die technisch manipulierbar sind. Die praktische Dimension des Lebensvollzugs, die (naturhermeneutisch und naturphänomenologisch greifbare) "Leiblichkeit" (und damit verbunden: die eigentliche Sterblichkeit) des Menschen erweist sich demgegenüber als sekundär und abgeleitet. Aus dem gegenwärtigen biowissenschaftlichen Stand des Wissens, a) "dass Lebewesen durch externe Einflüsse sterben können", b) "dass (bisher, faktisch) einige Formen von Lebewesen sterben müssen" (Mehrzeller-Individuen) und c) dass Sterben "nicht konstitutiv für Lebendiges ist", kann demnach, so Weingarten, gefolgert werden, dass es im Prinzip möglich ist, den biologischen Mechanismus, der Altern und Tod von höher entwickelten Lebewesen bislang bedingt, beispielsweise die Verkürzung der so genannten "Telomere" bei Zellteilungsvorgängen, außer Kraft zu setzen. Somit wird das Sterbenmüssen zu einem Sterbenkönnen reduziert, "solange nämlich die notwendigen Reparaturmaßnahmen noch nicht bekannt sind und / oder noch nicht funktionieren."

Analog dazu wird die kulturwissenschaftliche Thematisierung des Sterbens behandelt. Zwar lehnt sich Weingarten an die historische These von der neuzeitlich zunehmenden Verdrängung von Sterben und Tod im öffentlichen Bewusstsein an, gleichzeitig wehrt er sich aber im Rekurs auf eine Überlegung von Derrida gegen die bei Philippe Ariès oder Norbert Elias zu beobachtende implizite und als selbstverständlich getarnte Verwendung eines praktischen Wissens um das Sterben in theoretischen Zusammenhängen. Dieses praktische Wissen gilt es eigens zu problematisieren und vom theoretischen Wissen definitiv abzugrenzen - siehe oben. (An dieser Stelle nehmen Leserin und Leser verwundert zur Kenntnis, dass Josef König und Georg Misch das philosophiegeschichtliche Verdienst zuerkannt werden soll, die Unterscheidung theoretischer und praktischer Sätze erstmals "zum Gegenstand der Reflexion gemacht" zu haben!) Die feindlichen Übergriffe werden dort lokalisiert, wo Ariès unbewusst normative Folgerungen aus dem historischen Material zieht, Elias seine Thesen vor dem Hintergrund evolutionsbiologischer Spekulationen aufstellt und auch Bloch das Personenbewusstsein des Menschen in seinem Klassenbewusstsein aufhebt - und im gleichen Zuge den Menschen theoretisch als Exemplar (token) einer Gattung (type) begreift. Wiederum zeigt sich, dass die lebensweltliche Marginalisierung des Sterbens mit seiner technischen Strukturierung und Pathologisierung zusammenhängt.

Fraglich ist allerdings, inwiefern die moderne Technisierung der Lebenswelt - beispielsweise die von Walter Benjamin beschriebene Fragmentierung der Erfahrung - den von Weingarten herausgeschälten Begriff der Praxis kontaminiert. Dieses "Reservat" des menschlichen Handelns entnimmt er der vita activa Hannah Arendts. Ausgangspunkt dieser Anknüpfung ist unter anderem die Bestimmung des Sterbens als ein Tun, das im Unterschied zum Arbeiten und Herstellen nicht auf die Realisierung von Zwecken angelegt ist. Denn auf diese Weise würde es immer als sinnlos erfahren werden müssen. Stattdessen eröffnet Arendts Begriff des Handelns die Möglichkeit, den individualisierenden und intersubjektiven Aspekt des Sterbens herauszustellen. "Nur im Handeln können sich die Menschen als Angehörige einer Gattung und zugleich als je Besondere, sich von allen anderen Unterscheidende verstehen, nämlich auf Grund der Besonderheit ihres Handelns." Im Sterben als Handeln wird die Lebensgeschichte als Einheit eines individuellen Lebens abgeschlossen, das damit als sinnvoll (oder sinnlos) beurteilt werden kann. Sinnvoll ist dieses Handeln aus sich heraus, weil die Natalität seiner Möglichkeit zugrunde liegt.

Immer wieder betont der Autor, dass "die Sinnhaftigkeit eines von einem Individuum gelebten Lebens [...] nur vom abgeschlossenen Leben, dem Gestorbensein, [...] beurteilt werden kann." Während eines Lebens kann es nur sporadische Ausblicke auf die Gesamtheit der Biografie geben, das "Gelungene" des eigenen Lebens bleibt stets fraglich. Das Lebensende anderer sowie Lebensgeschichten, die wie in Romanen auf den "Sinn des Lebens" reflektieren, bieten nur indirekte Hilfsmittel für die Antizipation des eigenen Lebens im Futur 2. Das ist die Auffassung von Weingarten, der noch im Falle des Sterbens die praktischen Sätze des individuellen Lebens bewahren möchte vor der Ohnmacht des Sterbenmüssens, wenn wir dem ausgeliefert wären, was uns widerfährt. Denn das Sterbenmüssen transformiert, so Weingarten, mein besonderes Tun in etwas Allgemeines, sofern es - theoretisch - auf einer Vorschrift basiert, der ich mich zu beugen habe, wodurch ich vom Individuum zu einem bloßen Exemplar einer Gattung degradiert würde.

Vielleicht ist es weniger schlimm, dass hier am Ende die erkenntnistheoretischen Parameter durcheinander gehen. Niemals werden wir de jure ein Leben von außen betrachten können. Schwerer wiegt dagegen das falsche Pathos, das Weingarten bemüht. Die betont innerweltliche Betrachtung des Sterbens, die nicht nur philosophisch in jeder Hinsicht wünschenswert ist, hat nämlich einen Haken: das wirkliche Sterben - das nur wirklich sein soll, weil eine individuelle Lebensgeschichte abgeschlossen wird - wird umgehend (per definitionem) als Sinn stiftender Vorgang begriffen. Die hierin liegende Verharmlosung des Sterbens und Verschanzung in einem bis zuletzt selbstmächtigen handelnden Ich wiederholt nur die Bestürzung, die uns angesichts des Sterbens überfällt. Sicher gibt es Romane, die sich als Bildungsgeschichte eines Individuums erzählen und lesen lassen, aber sind das noch unsere Romane? Wenn Astrid Lindgren in Die Brüder Löwenherz - das Beispiel ist von Weingarten - ein "unendlich perpetuierbares Leben in immer anderen und neuen Welten" beschreibt, werden dann "Sterben und Tod abstrakt negiert", weil sie "nicht eigentlich stattfinden"? Oder gelingt Astrid Lindgren womöglich, was Tolstoi und Goethe etc. niemals gelingen könnte, nämlich eine wirkliche "Entdramatisierung" von Sterben und Tod, soweit es möglich ist, indem sie die Scheu vor dem tödlichen (weil stets fragmentierten) Leben fahren lässt, ohne einen allzu großen und festen Tod als Gegensatz eines allzu großen und festen ("individuellen") Lebens zu bestimmen, der sich dann als solcher in unserem Leben breit machen kann?

Das Problem des Sterbens als Problem eines Syllogismus zu fassen, wirkt nicht recht überzeugend. Da hilft es auch wenig, wenn seiner synthetischen Form (im modus ponens) eine inhomogene Eigenart nachgewiesen wird, in der allzu unbestimmt bleibenden Unterscheidung theoretischer und praktischer Sätze. (Wenigstens Kant, Hegel und Nietzsche haben detaillierte Bestimmungen des Verhältnisses von Theorie und Praxis diskutiert.) Letztlich hat Michael Weingarten eine philosophische Gutenachtgeschichte geschrieben. Da Kinder aber - zum Glück! - keine im engeren Sinne philosophischen Geschichten lesen - man(n) sollte auch nicht versuchen, ihnen eine vorzulesen -, stellt sich die Frage: Wer soll sie lesen? Vielleicht gibt es auf diese Frage nur eine Antwort: Ihre Leser sind die Freunde der einschläfernden Denkbewegung des Syllogismus (bio-ethisch)!

Titelbild

Michael Weingarten: Sterben (bio-ethisch). Bibliothek dialektischer Grundbegriffe. Band 13.
Herausgegeben von Andreas Hüllinghorst.
Transcript Verlag, Bielefeld 2004.
50 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3899421868

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