Nomadische Linien

Die "Schriften" des Kunsthistorikers Wilhelm Worringer

Von Florian FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Worringer war einer der einflussreichsten Theoretiker des Expressionismus. Der Erfolg seiner Dissertation "Abstraktion und Einfühlung" (1907) und insbesondere seines Buches "Formprobleme der Gotik" (1911) lag wohl nicht zuletzt darin begründet, dass der Kunsthistoriker eine abstrakte, "spirituelle" gegenüber einer traditionellen Kunst der Einfühlung favorisierte und die (Spät-)Gotik gegenüber der Renaissance zur genuin "deutschen" Kunst (v)erklärte. Worringer lieferte die ästhetische und historische Rechtfertigung einer deutschen Kunst auf Weltkunstniveau, die sich von der französischen und mediterranen Tradition eindeutig unterschied. Gotik und Expressionismus waren für Deutschland eine Gelegenheit, "mit seiner spezifischen künstlerischen Muttersprache sich Gehör zu verschaffen in der europäischen Gesamtleistung."

Zweifellos gehört Worringer zunächst in den Kontext der neuromantisch-altdeutschen Richtung innerhalb der Kunstwissenschaft mit ihrer typischen Präferenz für alles Altdeutsche. Ein Jahr nach "Formprobleme der Gotik" erschien die Dissertation "Deutsche Sondergotik" von Kurt Gerstenberg, in der die Spätgotik bereits zum "Ausdruck der germanischen Rasse" und zum "Rassestil" stilisiert wurde. Gegen einen obsoleten Positivismus und Empirismus rebellierend, fasst Woringer die 'Intuition' als Erkenntnismethode im Gegensatz zu Bergson (und dem späten Georg Simmel) völkerpsychologisch bzw. "divinatorisch". Auch bei dem Stilpsychologen Worringer ist die Gotik weniger Stil als "Formwillen des nordischen Menschen." Allerdings steigerte er sich nie zu dem religiös gefärbten Irrationalismus, dessen sich viele seiner Kollegen befleißigten. Bei Worringer überwiegt noch eindeutig das Romantisch-Träumerische.

Gleichwohl: Der entscheidende Einwand von Ernst H. Gombrich ("Kunst und Illusion") gegen eine solche völkerpsychologisierende Kunstgeschichte wird auch in den ausführlichen Kommentaren der "Schriften" leider nicht wirklich aufgegriffen - ebenso wenig die vernichtende Kritik an Worringers "Weltkunstkonzept". Gombrich kritisierte jeden Versuch, die Entstehung eines Stils überhaupt und schon gar nicht mit universellen Bezugsrahmen zu erklären - wie auch schon 'Leben' (selbst bei Warburg oder Riegl). Aus der Perspektive einer strengen Kunstgeschichte ist Worringer daher natürlich unhaltbar.

In seinem Aufsatz "Künstlerische Zeitfragen" von 1921 beschäftigt sich Worringer mit der "Krise" seines vielgeliebten Expressionismus bzw. mit dessen "Ende." Der sich ankündigende Übergang zur Neuen Sachlichkeit ist für ihn allerdings nur "Vordergrundetikette" für ein viel grundsätzlicheres Problem. Die Luft für die bildende Kunst sei allgemein dünn geworden. Die zunehmende soziologische Bedeutungslosigkeit schneide die Künstler in ihrer "Aussprachemöglichkeit" massiv ein und produziere "tragische Sprengstücke eines vergeblichen Wollens" - wie schon Rodins Kampf gegen den Bedeutungsverlust der Plastik gezeigt habe. "Museumsluft" wehe um alle künstlerischen Erzeugnisse. Der "programmstolze" Expressionismus wollte eine äußerliche Geistigkeit erzwingen, die aber nur unter der "Voraussetzung einer geistigen Gebundenheit, die wir unwiederbringlich verloren haben", hätte funktionieren können "und darum bei uns nur in Programmen, nicht mehr in Seelen lebt." Selbstkritisch konstatiert Worringer daher, dass der Expressionismus nicht - wie gehofft - der Durchbruch einer neuen elementaren und geistigen Kunst gewesen ist, sondern in Wirklichkeit eine "Flucht nach vorne vor dem Nichts", also vor künstlerischer Bedeutungslosigkeit. Konsequenterweise beschäftigte sich Worringer dann in seinem nächsten und vielleicht schönsten Buch "Die Ursprünge der Tafelmalerei" (1924) nicht zuletzt mit Aspekten der Gebrauchskunst: Das Tafelbild wird aus seinem originär sakralen Zusammenhang (Kirche /Altar) gelöst und wandert in den alltäglichen Hausgebrauch ein.

Aus der "Bekenntnisstimmung dieser Verzweiflung" spricht allerdings eher eine an Weinheber erinnernde "Vergeblichkeitsmelancholie" (W. Hof) als ein heroischer Realismus resp. Pessimismus à la Oswald Spengler und schon gar keine Neue Sachlichkeit. Dass sieht selbst Lukács so, der Worringer in "'Größe und Verfall' des Expressionismus" "trotz aller Mystik in der Terminologie" eine "ziemlich klare Sprache" bescheinigte.

Zuletzt inspirierte Worringer einen postmodernen Links-Nietzscheanismus à la Deleuze, für den der 'Kunstschriftsteller' weit mehr als nur Definitionsmacht des Expressionismus ist. Für ein Denken in "Linien" wird das wuchernde gotische Ornament zur entscheidenden Figur. Die wandernde, nomadische Linie ist antirepräsentativ, sie schafft den "glatten Raum" ("Tausend Plateaus") und sprengt (ideell) das Kontinuum der Geschichte; sie hat "die Kraft eines Hindernisses und die Macht eines neuen Impulses" und deutet auf eine nicht homogene Erfahrung der Zeit: die Dauer - im Sinne Bergsons.

Titelbild

Wilhelm Worringer: Schriften. Zwei Bände. Mit CD-ROM.
Herausgegeben von Hannes Böhringer, Helga Gebing und Beate Söntgen.
Wilhelm Fink Verlag, München 2004.
1500 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 377053641X

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