Mehr Licht!

Anne Hoormann untersucht die Lichtspiele der künstlerischen Avantgarden in der Weimarer Republik

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuweilen begegnet man Büchern, die einen ganzen kulturhistorischen Bezirk, über den schon alles gesagt zu sein scheint, in ein neues Licht rücken. Über die Weimarer Republik etwa existiert eine unübersehbare, gerade in den letzten Jahren enorm an Umfang gewinnende Menge an wissenschaftlicher Literatur, die scheinbar jede kulturelle und historische Ecke sowohl großräumig wie auch kleinteilig ausgeleuchtet hat, und man sollte meinen, dass es gerade über die Neudefinition der Künste unter dem Eindruck neuer naturwissenschaftlicher, technischer und medialer Entwicklungen in dieser Zeit nichts Neues mehr zu sagen gäbe. Der Eindruck verfestigt sich, wenn man bedenkt, dass die verschiedenen Kulturwissenschaften nicht nur die Künstler selbst, sondern auch deren zeitgenössische Beobachter und Kommentatoren wie Benjamin, Kracauer oder Bloch eifrig analysiert haben und dies nach wie vor tun. Dem Bedarf an der Füllung monografischer oder theoretischer Lücken tut dies zwar keinen Abbruch, denn wann hat man jemals eine Epoche ganz ausgeforscht; aber es scheint unmöglich geworden zu sein, dem kulturellen Geschehen in der Weimarer Republik neue Aspekte grundlegenderer Art abgewinnen zu können.

Ein Irrtum, wie Anne Hoormanns an der Bauhaus-Universität in Weimar vorgelegte Habilitationsschrift über die vielfältigen Konnotationen von Licht in Kunst und Kultur der Weimarer Republik deutlich macht, zudem ein Irrtum, der darüber staunen lässt, dass die von Hoormann aufgearbeiteten Desiderate nicht schon früher in Angriff genommen wurden. Hinter dem scheinbar nichts Neues verheißenden und eher tiefstapelnden Titel "Lichtspiele. Zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik" verbirgt sich eine so umfassende wie tiefgehende Analyse der Bedeutung von "Licht" in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und vor allem der 20er Jahre. Das Ziel dieses Buches besteht in nichts Geringerem als der Rekonstruktion der künstlerischen, medialen, technischen und naturwissenschaftlichen Dispositive des Lichtes und ihres jeweiligen material-technischen wie metaphorisch-symbolischen Einwirkens aufeinander. Die Autorin macht dabei das "Lichtspiel" als eine Schnittstelle von Kunst, Technik, "Hoch"- und Massenkultur, Politik und Utopie, und nicht zuletzt von Diskursen über Intermedialität und Paragone aus.

Dies ist nur möglich mittels eines im umfassenden Sinne interdisziplinären und kulturhistorischen Ansatzes, wobei, um der Arbeit einen Fokus zu geben, ein klar konturiertes disziplinäres Standbein weder schadet noch wirklich zu vermeiden ist. Bei Anne Hoormann ist dies die Kunstgeschichte. Sie hat also in erster Linie den künstlerischen Umgang mit und das Verständnis von Licht im Blick, welches in den 20er Jahren zum Entstehen einer Licht-Kunst führte, deren Impulse und Rezeptionen bis heute nachwirken. Die neuen Kunstentwicklungen der Zeit sind nur zu verstehen vor dem Hintergrund neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse wie der Relativitäts- und der Quantentheorie sowie der Entdeckung von Strahlen als immateriellen Energien, neuer medialer Entwicklungen wie dem Film, dem Radio und der Leuchtreklame und den damit verbundenen technischen Neuerungen. Daraus konstituierte sich zudem ein utopisches Potenzial der neuen Kunst, worüber sich die Künstler als Boten einer neuen Zeit verstanden. Exemplarisch führt Hoormann dies an László Moholy-Nagy, Ludwig Hirschfeld-Mack, El Lissitzky und Wassily Kandinsky vor, ohne deren Einbettung in Künstlerkollektive und Institutionen aus dem Auge zu verlieren. Damit ist an erster Stelle das Bauhaus angesprochen.

Das Buch ist gegliedert in vier Hauptkapitel und einen Epilog. Die Kapitelüberschriften "Licht als Medium der Kunst", "Licht und Malerei", "Das Lichtspiel zwischen Film, Musik und Bühne" und "Licht als Massenmedium" verdeutlichen den umfassenden Anspruch der Arbeit. In der Fülle der außerkünstlerischen Faktoren, die für ihre breite Diskussion zu berücksichtigen ist, scheint Hoormann gelegentlich die Kunst selbst aus den Augen zu verlieren. Dies mindert jedoch nicht die hohe Qualität der Arbeit, sondern verweist eher auf die Notwendigkeit solcher interdisziplinären Untersuchungen. Das Buch erfreut die geneigten Leser durch eine klare und verständliche Sprache, die auf dem Gebiet akademischen Schrifttums leider keine Selbstverständlichkeit ist. Man merkt daran, dass die Autorin an der Vermittlung ihrer Erkenntnisse tatsächlich interessiert ist.

In der Einleitung erläutert sie den Begriff des Lichtspiels, der, ursprünglich allein auf den Film gemünzt, eine Bedeutungsausweitung auf alle mit Licht arbeitenden Medien erfuhr. In den folgenden Kapiteln analysiert Hoormann nun systematisch die verschiedenen "Lichtkünste", ihre Genese und ihre zeitgenössischen Quellen. Im ersten Kapitel bereitet sie den historischen, sozialen und theoretischen Boden für die Analyse der Lichtkunst in der Weimarer Republik, indem sie den Blick zurückrichtet bis zur Jahrhundertwende. Sie diskutiert den Einfluss der neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen auf die künstlerischen Avantgarden wie Futurismus, Konstruktivismus, Expressionismus und Dada, was einherging mit der Rezeption esoterisch-lichtmystischen Gedankenguts. Die Vermischung von Naturwissenschaft und Okkultismus war eine durchaus verbreitete Erscheinung, der auch die Wissenschaftler selbst nicht abgeneigt waren. Ein weiteres Thema sind die Diskussionen über die Natur des Lichts, nämlich ob Licht als Material oder als Welle zu begreifen sei. Ein letzter Abschnitt widmet sich dem mit den "Lichtkünsten" verbundenen Aufkommen technischer Massenmedien, welche die Künstler nicht nur zur Auseinandersetzung mit moderner Technik veranlasste, sondern sie auch ihre Position zwischen zunehmend als elitär verstandener Ausstellungskunst und Massenkunst reflektieren ließ.

Das zweite Kapitel fokussiert die mediale Konfrontation von Malerei, Film und Fotografie als eine Neuauflage des Paragone: Künstler orientierten sich am "Lichtspiel", Filmemacher an der Malerei. Neben ihrer gegenseitigen Rezeption traten die verschiedenen Medien aber in ein Konkurrenzverhältnis zueinander, das sich an der Frage über die Natur des Lichts und der Farbe entzündete. Hoormann legt hier den Schwerpunkt auf Robert Delaunay, der in seiner Kunst zu einer Neufassung des Verhältnisses von Licht, Farbe und Bewegung kam, und der Malerei und den fotografischen Experimenten Moholy-Nagys, der nach den Möglichkeiten einer reinen Malerei mit Licht suchte.

Das dritte Kapitel geht noch tiefer auf die neuen Medien ein: das Lichtspiel im Film, auf der Bühne und in der Musik. Hier stehen die technischen Utopien im Mittelpunkt, die in der Art eines Gesamtkunstwerks eine Synthese der Künste projektierten: Ludwig Hirschfeld-Macks Farbenlicht-Spiele, Moholy-Nagys multimediale Lichtspiel-Experimente und Gropius' Totaltheater. Hierher gehören auch die avantgardistischen Experimente mit dem abstrakten Film; Hoormann greift dabei Viking Eggeling, Hans Richter, Walter Ruttmann und erneut Moholy-Nagy auf.

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Hoormanns Buch nicht nur die panoramatische Analyse einer künstlerischen und technischen Umbruchszeit ist, sondern auch im monografischen Sinne ein neues Licht (!) auf das Werk eines einzelnen Künstlers wirft. Die Verbindung macht Hoormann insofern fruchtbar, als sie Moholy-Nagy herausarbeiten kann als einen Künstler mit einem neuen Selbstverständnis als Künstler-Techniker und Experimentator, der im Zentrum der zeitgenössischen Mediendiskurse stand.

Das vierte Kapitel thematisiert die massenmedialen Aspekte der neuen Künste auf der sozialen und ästhetischen Folie der Großstadt. Auch hier fasst Hoormann ein sehr weites Spektrum ins Auge: Ausstellungen abstrakter Kunst, etwa Lissitzkys Abstraktes Kabinett, die Leuchtreklame mit ihren soziologischen und künstlerischen Aspekten sowie die filmische Rezeption der Großstadt. Die Großstadt präsentiert sich als ein Raum, in dem und für den die modernen Lichtkünste entwickelt wurden. Außerdem radikalisiert sich hier eine Revolution der Wahrnehmung von Gegenständen und von Bewegung, die durch die enorme Verbreitung des künstlichen Lichts ausgelöst wurde, die man heute, da wir ständig und überall davon umgeben sind, gar nicht mehr nachvollziehen kann.

Genauso wie Hoormann die Vorbedingungen der Licht-Kunst diskutiert, betrachtet sie die sich aus ihr ergebenden weiteren Entwicklungen. Dass sie dabei im besten wissenschaftlichen Sinne ohne Scheuklappen vorgeht, zeigt ihre Herleitung des Lichtdoms von Albert Speer aus den avantgardistischen Projekten der Moderne. Der Epilog wiederum thematisiert die Neudefinition der Lichtkunst in der Nachkriegszeit durch die Gruppe Zero in den 60er Jahren, der sich am Ende eine kurze Betrachtung aktueller Entwicklungen anschließt.

Anne Hoormann hat es unternommen, ein kulturhistorisches Panorama der Weimarer Republik aus dem Blickwinkel künstlerisch-technischer Diskurse zu entwerfen. Damit ist ihr nicht nur in thematischer Hinsicht ein großer Wurf gelungen. Wer sich mit der klassischen Moderne und ihren Avantgarden beschäftigt, wird um ihre Studie nicht herumkommen.

Titelbild

Anne Hoormann: Lichtspiele. Zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
369 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-10: 377053770X

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