Die Liebe in Zeiten des Altenheims

Alice Munros Erzählung "Der Bär kletterte über den Berg" als Hörbuch

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erzählung "Der Bär kletterte über den Berg" der kanadischen Erzählerin Alice Munro ist Teil der Erzählungensammlung "Himmel und Hölle", die bei S. Fischer erschienen ist. Alice Munro, geboren 1931, gilt seit Jahren als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis, in Deutschland sind ihre Bücher, es handelt sich überwiegend um Erzählungen, seit über 20 Jahren in Übersetzung erhältlich, allerdings in wechselnden Verlagen. Nun liegt das erste Hörbuch vor, und es ist ein Glück, dass sich Christian Brückner mit seiner Edition parlando des Projektes angenommen hat.

"Der Bär kletterte über den Berg" ist eine Ehegeschichte. Es geht um Fiona und Grant, deren Ehe in das vielleicht letzte Stadium tritt. Fionas Geisteszustand, körperlich ist sie in guter Verfassung, führt dazu, dass sie sich entschließt, in ein Betreuungsheim zu ziehen. Bereits nach kurzer Zeit - in den ersten 30 Tagen dürfen neu aufgenommene Bewohner nicht besucht werden - muss Grant feststellen, dass seine Frau - und sie hatten eine gute Ehe, auch wenn er sich immer wieder Seitensprünge erlaubte - ihn manchmal nicht erkennt oder erkennen will, vor allem aber erschreckt und bedrückt ihn, dass sie sich sehr innig einem anderen Mann zuwendet. Als dieser von seiner Frau wieder nach Hause geholt wird, leidet Fiona, und die Heimleitung erwägt, sie in die Abteilung für Patienten zu verlegen. Grant versucht, obwohl es sich ja bei Aubrey um einen Nebenbuhler, einen Konkurrenten handelt, diesen zu einem Besuch bei Fiona im Heim zu bewegen, doch dessen Frau winkt ab. Die Geschichte bekommt eine unerwartete Wendung.

Alice Munro hat einmal geschrieben: "Eine Geschichte ist nicht wie eine Straße, der man folgt, sie ist mehr wie ein Haus. Man geht hinein und bleibt eine Weile, wandert hin und her, und entdeckt, wie die Räume und Flure zueinander in Verbindung stehen, auch wie die Außenwelt sich dadurch verändert, dass man sie aus diesen Fenstern sieht." Diese Definition passt sehr gut auf die hier vorgestellte Geschichte, zumal Außen- und Innenwelt der Figur Grant sich aneinander reiben. Jonathan Franzen ist begeistert von Munros Texten, die er mit der Literatur Anton Tschechows vergleicht, und Judith Hermann, selbst ja ausgewiesene Autorin von Erzählungen, findet die Arbeiten der Kanadierin schlicht "beglückend". Die feinen Beobachtungen, die treffenden Beschreibungen alltäglicher Dinge und Handlungen und welche Gedanken, Gefühle sie auslösen können, sind außergewöhnlich, man entdeckt tatsächlich Verbindungen, wandert mit der Autorin oder hier mit dem Sprecher, mit Christian Brückner, durch diese erzählerische Architektur und staunt immer wieder über die Konstruktion, die jedoch so kunstvoll ist, dass man sie als solche nicht wahrnimmt. Wer die Autorin noch nicht kennt, hat mit "Der Bär kletterte über den Berg" die ideale Möglichkeit, in diesen erzählerischen Kosmos einzusteigen.

Titelbild

Alice Munro: Der Bär kletterte über den Berg. Himmel und Hölle - Erzählungen. 2 CDs.
Vorgelesen von Christian Brückner.
Übersetzt aus dem Englischen von Heidi Zernig.
Parlando Verlag, Berlin 2005.
120 Minuten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3935125453

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