Der jüdische Kindertransport

Rebekka Göpfert berichtet über die Verschiffung von 10.000 Kindern nach England vor Ausbruch des 2. Weltkriegs

Von Heike BüsingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Büsing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 2. Dezember 1938 erreichte eine Fähre mit 196 Kindern an Bord die englische Küste vor Harwich. Eine 30stündige Reise, die in Berlin ihren Anfang genommen hatte, lag hinter den jungen Passagieren. Es waren in erster Linie jüdische Kinder, vor allem Jungen im Alter von 13 und 14 Jahren, die auf diesem Schiff in eine neue Zukunft fuhren. Sie sollten in England, getrennt von Eltern, Geschwistern und Freunden, ein Leben in Sicherheit finden. Die Verschickung der Berliner Kinder war der Beginn des jüdischen Kindertransports nach England. In den Jahren 1938 und 1939 konnten auf diese Weise insgesamt über 10 000 Kinder vor den Repressalien des Nazi-Regimes gerettet werden.

Der Kindertransport gilt als ein noch kaum erforschtes Gebiet in der historischen Aufarbeitung der NS-Zeit. Nur wenige wissenschaftliche Abhandlungen sind bislang zu diesem Thema veröffentlicht worden. Mit ihrer im Campus-Verlag erschienenen und bereits 1997 an der Universität Münster eingereichten Dissertation erweitert Rebekka Göpfert die bislang noch recht spärliche Literatur. Die Autorin stützt sich in erster Linie auf Archivalien und auf die von ihr geführten Erinnerungsinterviews mit 26 "Kindern". Sie verfährt hier nach dem Prinzip der "Oral History", der mündlichen Geschichtsüberlieferung, mit dem sie sich zugleich kritisch auseinandersetzt.

Zunächst jedoch stellt Rebekka Göpfert die britische Haltung gegenüber den Kindertransporten dar. Die englische Nation betrachtete sich als Land, das den Vertriebenen nur vorübergehend, auf dem Weg in ein anderes Zielland, Zuflucht bot und dabei eine Art Vorbildfunktion für anderer Länder ausübte. Dass es sich bei den Flüchtlingen um hilflose Kinder handelte, erregte in der englischen Bevölkerung großes Mitleid und belastete sie nicht mit der Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Während die Regierung die Einreisegenehmigung erteilte, sorgten jüdische Flüchtlingsorganisationen vor Ort für die Abwicklung der Einreiseformalitäten und die Grundversorgung der Kinder.

Die Autorin beschäftigt sich weiterhin mit dem neuen Leben der Kinder in England. In englischen Pflegefamilien oder in Waisenhäusern untergebracht, litten sie unter der Trennung von der Familie und der gewohnten Umgebung. Probleme bereiteten auch das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Religionen sowie die Tatsache, daß die jüngeren Mädchen und Jungen recht schnell ihre Muttersprache verlernten und nur noch in englischer Sprache mit ihren Eltern in Deutschland kommunizieren konnten. Schließlich beschreibt Göpfert sehr eindrücklich die neue Situation der Kinder bei Kriegsausbruch und die Auswirkungen des Kindertransports für die Interviewten bis in die Gegenwart.

Das Buch liefert eine Fülle von Zahlen und Fakten. Es ist jedoch in einem Stil geschrieben, der sich nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum richtet. Man vermisst allerdings eine Abschrift der geführten Interviews oder zumindest einen längeren Auszug daraus. Denn das Zitierte und die Kurzbiographien wecken den Wunsch, mehr über die Lebensgeschichten der Kinder von damals zu erfahren.

Rebecca Göpfert: Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39: Geschichte und Erinnerung.

Titelbild

Rebecca Göpfert: Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39. Geschichte und Erinnerung. Dissertation.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
217 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3593362015

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