Ein Sommerstück

Wie das Romandebut einer 62-Jährigen völlig entspannt eine Geschichte erzählt

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literaturszene kennt sie vor allem als Übersetzerin. Jetzt debütiert die bislang nur Gedichte publizierende Karin Kersten mit einem Roman, der gegen viele Regeln verstößt und gerade deswegen so wundervoll leicht daher kommt. Es ist ein Sommerstück. Der Plot ist schnell erzählt. Zwei Cousinen, Karla und Ella, haben mit Hilfe von Karlas mittlerweile verstorbenem, aber vermögendem Bruder einen Mühlenhof gekauft, für dessen Renovierung ihnen das nötige Geld fehlt. Wie also an dieses Geld kommen?

Zunächst findet Karla eine Leiche. Dann bringt Ella sie dazu, den 'Großen Groschenroman' zu schreiben, nachdem sie Kontakt mit einem finnischen Literaturagenten hatte, der das Werk in Russland vermarkten will. Doch zuvor muss Karlas Schreibblockade gelöst werden, und zwar durch eine Fahrt in die Kindheitslandschaft, die Lüneburger Heide. Was jedoch misslingt, da sie zu viele schlechte Erinnerungen mit der Gegend verbindet. Also zurück in die Casa Pferdefuß. Karla erledigt die Aufgabe des 'Großen Groschenromans' dann in zwei Tagen und Nächten, Frau Krickel stirbt und hinterlässt Ella einen Koffer mit Geld und Auflagen, für die Herr Tergeune, Berater für alle Lebenslagen, zum Schluss die passende Lösung findet.

Im Grunde ist das alles unspektakulär, die Figuren sind mittleren oder höheren Alters, die Schauplätze sind Berlin-Dahlem und ein wenig Heide. Von Großstadt ist nicht die Rede, weshalb der Untertitel "Ein Großstadtroman" auch nicht recht passen will.

Die Geschichte fängt irgendwo an und hört irgendwo auf, bewegt sich ruhig voran. Eine stringente Handlung mit Nebenschauplätzen wird nicht geboten, so etwas wie eine formale Einheit ist nicht gegeben. Eingesprenkelte Gedichte, Traumsequenzen, ein Schulaufsatz und Auszüge aus dem 'Großen Groschenroman' zeigen das großzügige Umgehen der Autorin mit Gattungs- und Genrevorgaben, das in diesem Fall glückt und im Zusammenspiel mit der ironisch-frischen Sprachlust in Richtung Schelminnenroman zielt. Der durch die Postmoderne etwas in Vergessenheit geratene auktoriale Erzähler tritt auf, um das Lesepublikum ob der schlingernden Geschichte und der Langsamkeit des Erzählens zu beruhigen: "Bleiben Sie bitte bei uns. Wir haben den Faden keineswegs verloren, er ist eben nur nicht so kurz und gänzlich frei von Verschlingungen wie eine Bügeleisenschnur." Da ist Weiterlesen die einzige Möglichkeit. Gerade der unkonventionelle Umgang mit poetologischen Regeln, wie ihn auch Karla im Buch vertritt, gibt dem Roman eine Leichtigkeit, die das Lesen zum Vergnügen macht. Der Roman unterhält, ein Glanzstück innerhalb der Debüts, und nicht nur dort.

Es mag etwa verwirren, wenn z. B. der Fund der Leiche seitenlang beschrieben, aber diese selbst überhaupt keine Rolle spielt und nicht wieder auftaucht. Oder wenn der Neffe der verstorbenen Frau Krickel den Bösewicht machen muss, aber von den beiden resoluten Frauen vertrieben wird.

Der Lebensabschnitt zwischen noch nicht und fast hochbetagt, die so genannte 'Generation 50plus', wird hier jenseits der aktiven, reise- und sportlustigen Junggebliebenen porträtiert. Im Roman von Karin Kersten geht es um anderes: den Alltag, das pralle Leben mit vielen Gefühlen, Dramatik, Aufregung, Sorgen, Liebe, Leid und Last, Leidenschaften, Unvernunft und Abenteuer. Und so bleibt am Ende zu hoffen, dass Karla den Roman 'Der feurige Saum' schreibt, bevor sie den nächsten 'Großen Groschenroman' beginnt, die Transaktion mit dem Geldkoffer die Renovierungen ermöglicht und Herr Tergeune sich weiterhin im Mühlenhof so wohl fühlt wie bisher, auch wenn er oft belauscht wird und sich mit Herrn Halblang streitet.

Es ist auch ein Stück literarische Utopie, das hier skizziert wird, das Zusammenleben von Menschen im mittleren und höheren Alter in einem zwar nicht alternativen, aber unkonventionellen Projekt, das Freiheiten ermöglicht und ebenso den altbekannten Gruppendruck mit sich bringt. Die liebevolle Schilderung der Figuren mit ihren Macken und Eigenheiten, das Zusammenleben oder besser: -raufen - all das macht Lust auf eine Casa Pferdefuß, mitunter auch im realen Leben.

Titelbild

Karin Kersten: Die Aufgeregten. Ein Großstadtroman.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2005.
270 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3937667660

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