Irrwege eines Taugenichts

Yann Apperry schickt Homer auf eine Odyssee durch die Provinz

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Odysseus war ein gestandener Mann, als er zu seiner zehn Jahre währenden Irrfahrt durch die Ägäis aufbrach. Ein Wanderer zwischen der wirklichen und der fantastischen Welt, den der griechische Dichter Homer lebensgefährliche Abenteuer bestehen ließ. Gut 3.000 Jahre später hat der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Jungautor Yann Apperry die wohl älteste Dichtung der abendländischen Kultur im Amerika der 1970er Jahre angesiedelt und komplett in ihr Gegenteil verkehrt.

Im neuesten Roman des anglophilen Franzosen verwandelt sich der tatendurstige und listenreiche Odysseus in einen müßiggängerischen und unreifen Homer. Seine Abenteuer besteht er nicht fern der Heimat auf stürmischer See, sondern in den einsamen Wäldern Nordkaliforniens. Genauer gesagt in dem verschlafenen Nest Farrago, wo Homer als Waisenjunge aufgewachsen ist und jeden Baum, jeden Pfad und jeden Einwohner kennt.

Fausto, den philosophierenden Lebensmittelhändler, Elijah, den geistig verstockten Schmied und Duke, den altersweisen Bewohner einer Mülldeponie rechnet er zu seinen Freunden. Reverend Poach und der Sheriff hingegen zählen zu seinen Intimfeinden, die ihm das Leben, sprich die Faulenzerei schwer machen. Über all diesen Personen schwebt die rothaarige Hure Ophelia, deren vollendete Brüste und unkalkulierbares Temperament ihn oft genug um den Verstand bringen.

Es ist eine kleine und überschaubare Welt, die für Homer aus den Fugen gerät, als er ein Licht zu sehen vermeint, "das nirgends war und überall zugleich." Er ist felsenfest davon überzeugt, nun beginne die zweite Hälfte seines Lebens, während die erste wie im Zeitraffer noch einmal vor seinem inneren Auge abgelaufen und dann auf Nimmerwiedersehen verglüht sei. Das sich nun offenbarende Nichts wird nicht nur durch die Gespräche mit seinem Freund Fausto verdrängt, dessen Lebensklugheit er bewundert und sich zu eigen macht, sondern auch von einer Reihe abenteuerlicher Begegnungen mit Einheimischen, Umweltsündern, Journalisten, Zuhältern und Filmproduzenten.

Jene Zusammentreffen enden, wie er betrübt feststellen muss, meist im Streit oder im Chaos. Einen klaren Weg durch seine zweite Lebenshälfte weisen sie ihm nicht. Auch wenn er immer wieder versucht, Zusammenhänge zwischen den kuriosen Ereignissen herzustellen und eine Lehre daraus zu ziehen. Dabei meint es das Schicksal eigentlich gut mit ihm. Die angebetete Ophelia erwartet ein Kind von ihm und ein Job als Förster ist bereits in Aussicht. Sein Leben droht schon bald geordnete Züge anzunehmen.

Homer flieht und sucht zugleich diesen Halt im kleinbürgerlichen Koordinatensystem. Mit dieser Haltung steht er vollends im Gegensatz zu den Tagedieben der romantischen Epoche, die der rationalistischen Welt endgültig den Rücken kehren wollten. Apperrys sympathischer Antiheld kann den bürgerlichen Zwängen auch als notorischer Taugenichts nicht entfliehen. Die Gesellschaft und ihre Außenseiter sind aufeinander angewiesen und legitimieren sich gegenseitig.

Diese an sich traurige Erkenntnis vermittelt Apperry mit offenherziger Ironie und am Beispiel der merkwürdigsten Lebensläufe. Dass der Ich-Erzähler Homer mental auf der Stufe eines Achtjährigen stehen geblieben ist, wie Ophelia einmal ihrem Tagebuch anvertraut, und in Gedankenspielen und Gesprächen darüber hinauszuwachsen versucht, macht die eigentliche tragikomische Note dieser Charakterstudie aus. Weder Aufklärung noch Belehrung beherrscht den eigensinnigen Entwicklungsroman. Die Lust am Philosophieren und die Erkenntnis, dass es das wahre Leben gar nicht gibt, stehen im Mittelpunkt. "Nicht auf das Leben kommt es an, sondern wie man es erzählt", gibt Fausto seinem Freund Homer einmal zu bedenken. Apperry erzählt und reflektiert es auf ebenso poetische wie unterhaltsame Weise.

Titelbild

Yann Apperry: Das zufällige Leben des Homer Idlewilde. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger.
Aufbau Verlag, Berlin 2005.
391 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3351030509

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