Zur Anatomie der Imagination

Ein Sammelband beschäftigt sich mit der Einbildungskraft im klassischen Zeitalter

Von Hans von SeggernRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans von Seggern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Begriffe Reiz, Imagination und Aufmerksamkeit führen in den Brennpunkt einer Reihe von Debatten der aufklärerischen Anthropologie. Ob "Vernunftschwärmer" oder Empiristen - im Rahmen der "Rehabilitierung der Sinnlichkeit" (Panajotis Kondylis) behauptet im Zeitalter des Rationalismus das Nachdenken über die genannten Begriffe bzw. "Vermögen" einen kardinalen Stellenwert. Habitualisierung der Sinne, Kanalisierung und Konditionierung der Affekte und Leidenschaften, freier oder kontrollierter Gebrauch der Einbildungskraft sind Problemfelder, die den Theorie-Output des Säkulums beflügeln. Hierbei treten - je nach Perspektive des Betrachters - Steuerung oder Therapie von Phänomenen wie Schwärmerei, Melancholie und Hypochondrie, Geisterglauben und offenem Wahn, somnambuler Aktivität und Traum, Onanie und Lesesucht in den Fokus der Aufmerksamkeit von Disziplinen wie etwa Medizin, Pädagogik, Philosophie oder auch der noch jungen Ästhetik.

Dieser Problemhorizont steht im Zentrum des von den Bochumer Literaturwissenschaftlern Jörn Steigerwald und Daniela Watzke herausgegebenen Bands, der die Beiträge einer Tagung des DFG-Forschungsprojekts "Imagination und Kultur" versammelt. Sind in jüngster Zeit eben diese Phänomene vornehmlich mit diskurs- und systemtheoretischen Prämissen untersucht worden, geht es den Beiträgern des vorliegenen Bands um eine präzise Rekonstruktion des anthropologic turn in Wissenschaft und Literatur des âge classique, ohne dabei den historischen Text zum Exempel einer Theorie, die sich dann als mehr oder minder dünnflüssig, stets aber kurzlebig erweisen wird, herabzuwürdigen.

Endogene wie exogene Reize können Inzitament der Einbildungskraft werden, die wiederum ihrerseits nicht nur als "reizbare", sondern eben auch als "reizende", also aktivisch, vorgestellt wird. "Unter der reizenden Einbildungkraft wird deren aktive Seite verstanden, wenn sie die Empfindungen und Vorstellungen ohne gegenwärtigen Sinneseindruck hervorbringt. Dabei verfährt sie, als ob äußere Gegenstände die Sinnesorgane reizten", wie Gabriele Dürbeck feststellt. So wird das imaginative "Vermögen" als Schnittstelle zwischen Körper und Psyche zum Streitfall der aufgeklärten Subjekte zwischen Selbstermächtigung und Pathologie, zwischen "Erhabenem" und "Schwindel". Diesen Diskurs in seiner ganzen Bandbreite und feingliedrigen Diversität weitgehend jargonfrei zu präsentieren, ist das bleibende Verdienst des vorliegenden Bands, dem viele aufmerksame Leser zu wünschen sind.

Titelbild

Joern Steigerwald / Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Über Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830).
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003.
279 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3826023137

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