Berauschende Wasserspiele

Alice Münscher erzählt von der Liebe im und der Liebe zum Wasser

Von Stefanie Regine BrunsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Regine Bruns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Glauben Sie an das Wasser?" Diese Frage steht am Anfang einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Der junge Andrea stellt sie der Ich-Erzählerin, die er soeben in einem Münchner Café kennengelernt hat. Damit ist ihre Neugierde geweckt: Was mag das für ein seltsamer Mensch sein, der ihr erst von seiner Vorliebe für französische Bohnen und kaum hörbare Obertöne erzählt und dann auch noch wissen will, wie sie über das Wasser denkt?

Einige Zeit später treffen sich die beiden an einem kleinen Bach wieder. Hier beginnt ihre lange Reise, die sie um die halbe Welt führen wird, immer auf der Suche nach den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Wassers. Zunächst erkunden sie München und Umgebung, sie besuchen Bäder, Brunnen und Seen und scheinen selbst trockengelegte und zugeschüttete Wasserläufe noch zu spüren. Später geniessen sie den leichten Regen in den Pyrenäen, fahren an den Lido in Venetien, waten durch die Pariser Kanalisation und staunen über die "kleinen Steinhaufen" namens Azoren mitten im weiten Ozean. Auch in Aquitanien, Sanssouci, Prag, Granada und am Starnberger See übt das Wasser auf das Liebespaar eine magische, erotische Anziehungskraft aus. Weltvergessen träumen sie davon, sich in Fische zu verwandeln, spielen das Märchen von Melusine nach, der Sirene mit dem Fischschwanz, und finden fast überall Gelegenheit, sich leidenschaftlich zu lieben. Immer wieder geben sie sich ausschweifenden Gaumenfreuden hin, die meist aus Fisch- oder Bohnengerichten bestehen. Deren Zubereitung und Geschmack wird ausführlich erklärt, so dass die ohnehin schon sehr sinnliche Geschichte um eine kulinarische Komponente erweitert wird.

Zwischen diesen Reiseerlebnissen spielen sich auf einem Schiff traumhafte, mysteriöse Episoden ab, in denen immer neue Personen auftreten, die meist wild durcheinander schreien oder fernsehen. Als sich die Ereignisse auf dem Schiff mit den Fernsehbildern überschneiden, endet der Traum schliesslich im Chaos.

Jedesmal, wenn der Schauplatz der Geschichte wechselt oder eine Traumepisode die Rahmenerzählung durchbricht, folgen kurze Texte unterschiedlichster Gestalt. Seien es Bemerkungen über die physikalischen Eigenschaften von Wasser, historische Anekdoten, eine Buchempfehlung, eine Internetadresse, technische Daten zur Wasserversorgung oder Erkenntnisse wie "People want to see the winner and they want to see the loser, das ist das Geheimnis des Grand Prix d'Eurovision", oft bleiben diese Prosa-Vignetten völlig rätselhaft.

Alice Münscher erzählt von einer rauschhaften, intensiven Liebe, die durch die gemeinsame Leidenschaft für das Wasser am Leben gehalten wird. Mit allen Sinnen geniessen Andrea und die Ich-Erzählerin ihre Beziehung, die schliesslich ebenso plötzlich endet wie sie begann. Andrea verlässt seine Geliebte und lässt sie mit der faszinierenden Anziehungskraft des Wassers, die er in ihr geweckt hat, allein. Die zunächst spielerisch-leichte Liebe der beiden ist erkaltet, wie durch das Bild des Eises, von dem sich die Erzählerin im Traum umgeben fühlt, deutlich wird.

Die Autorin findet sehr viele unterschiedliche Bilder für das Wasser und verbindet sie mit einer Liebesgeschichte, die auf der gemeinsamen Leidenschaft für das Wasser basiert. "Die Anomalie des Wassers" ist ein Roman, der den Leser für die Schönheit des kühlen Elements sensibilisieren kann, sofern er sich vom experimentellen Gestus der Prosa nicht stören lässt.

Titelbild

Alice Münscher: Die Anomalie des Wassers. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
147 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3927743429

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