Alles in einen Topf

Eine Einführung in die "Kochkunst" der philosophischen Anthropologie

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christian Thies, Philosoph an der Universität Rostock, hat ein neues Lehrbuch verfasst, dass unter Berücksichtigung des neuesten Forschungsstands in die philosophische Anthropologie einführen soll. Es richtet sich primär an Studierende der ersten Semester und verspricht, auf allgemein verständliche und übersichtlich gegliederte Weise im Fachgebiet Orientierungshilfe zu leisten. Zu diesem Zweck schließen die einzelnen Kapitel jeweils mit einer Zusammenfassung, Literaturhinweisen und didaktischen "Fragen und Übungen" ab.

Vermittelt wird der Eindruck, dass die zentralen Gegenstände der philosophischen Anthropologie bzw. "wesentliche Dimensionen des menschlichen Daseins" grundrissartig abgehandelt werden - und dass hinter dem abstrakt gehaltenen und auf Begriffsklärung bedachten Entwurf ein ganzer, einigermaßen kohärenter, wissenschaftlicher Bereich steht, der dem fortgeschrittenen Studierenden nach Absolvierung des Grundkurses dann offen steht. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch das argumentative oder eher terminologische, nicht wirklich historisch ausgerichtete Verfahren, zu philosophischen Aussagen über den Menschen zu kommen. Zwar ist ein gewisser Kanon geistesgeschichtlicher Werke präsent, aber mehr in einer das Gesagte illustrierenden und autorisierenden Form.

Es liegt auf der Hand, dass das geschilderte Vorgehen problematisch ist, weil es so etwas wie eine ausgebildete Disziplin der philosophischen Anthropologie gar nicht gibt. Im Vorwort wird zwar eingeräumt, dass die Anthropologie als philosophisches Teilgebiet "Identitätsprobleme" habe und dass die Besichtigung ihres Lehrbestands einem "Rundgang über ein Trümmerfeld" gleiche. Aus diesem Grund aber wählt der Autor das Verfahren, zunächst das Trümmerfeld frei zu räumen und anschließend den "Konstruktionsplan für ein neues Gebäude" zu zeichnen.

Dabei geht er eklektizistisch vor, greift auf die "fast unerschöpfliche Fundgrube der philosophischen Klassiker [und] der deutschen Philosophischen Anthropologie" zurück und bezieht sich auf die Erkenntnisse der empirischen Humanwissenschaften - von der Paläoanthropologie bis zur Neurobiologie. Spätestens im zweiten Teil des Buchs, in dem die "Grundbegriffe der philosophischen Anthropologie" abgehandelt werden, haben die Studierenden dann aber wieder vergessen, dass sie es mit einem ambitionierten Neuentwurf einer philosophischen Disziplin zu tun haben. Denn es ist nur schwer zu glauben, dass sich die terminologisch vorgehende Einteilung traditioneller Probleme und traditioneller Lösungen als Neuaufstellung einer Disziplin verstehen will. Ich wähle zur Bezeichnung des eklektizistischen Verfahrenstypus den Ausdruck "Terminologie", um anzudeuten, dass hier unzählige Begriffe der Tradition aufgegriffen und harmonisch zueinander geordnet, aber gerade nicht näher, mit Blick auf ihre systematisch häufig unvereinbaren Implikationen (z. B. existenzialistisch - transzendentalphilosophisch - entwicklungspsychologisch - dialektisch - hermeneutisch - psychoanalytisch - aristotelisch etc.), bestimmt werden. Dieses Verfahren ist ausgesprochen thetisch und täuscht eine komplexe Begriffsstruktur vor, die genauer besehen überhaupt nicht vorliegt. Der Autor sieht hier die zumeist unterschätzten "integrativen Möglichkeiten der philosophischen Anthropologie".

Philosophische Anthropologie ist "erkenntniskritisch", "sprachkritisch" und "ideologiekritisch" zu betreiben, sie versteht sich "integrativ", "interpretativ" und "holistisch". Sie ist "dialektisch", schreibt der Autor, weil sie die "phänomenologische" Innen- und die "objektivierende" Außenperspektive umfasst. In Anlehnung an Kant und Hegel wird die Anthropologie als spezielle Disziplin den "Kerndisziplinen" der Philosophie nachgeordnet. "Die philosophische Anthropologie ist eine periphere Disziplin der Philosophie, die allerdings in den letzten Jahren zu Unrecht völlig vernachlässigt wurde. Sie sollte einen ähnlichen Stellenwert haben wie Naturphilosophie und Sozialphilosophie." Hiermit reagiert Thies u. a. auf die rezenten anthropologiekritischen Positionen der "Szientisten", "Sozialwissenschaftlicher" (Luhmann) und "postmodernen Philosophen" (Derrida und Foucault), der Frankfurter Schule (Adorno bis Habermas) und des Existentialismus (Heidegger). Deren Positionen sollen zwar ernst genommen, aber in eine "erweiterte" Fassung anthropologischen Denkens aufgenommen und aufgehoben werden. Das ist nicht schwierig, da - wie gesagt - die Anthropologie selbst irgendwie sozialphilosophische, kommunikationstheoretische, dialektische oder existentialistische Züge trägt, wobei allerdings jede einseitige Reduktion auf eine bestimmte Menschenwirklichkeit zu vermeiden ist.

Fraglich ist, ob hier nicht zu viele Zutaten und Gewürze auf einmal in den Topf geworfen werden, so dass die Suppe am Ende ungenießbar ist? Hinzu kommt, dass angesichts der gegenwärtigen Renaissance der philosophischen Anthropologie (v. a. der Arbeiten Plessners) kaum noch sinnvoll von ihrer "Vernachlässigung" gesprochen werden kann.

In Anlehnung an Scheler, Plessner und Gehlen zeichnet Thies die philosophische Anthropologie als spezielle Disziplin besonders aus, weil sie den biologischen Wissenschaften (und ihrer Leitfunktion?) nahe steht. In diesem Sinne schließt sie an die Tradition einer Lehre vom "ganzen Menschen" an, die besagt, dass der Mensch nicht nur von innen und nicht nur von außen, sondern von beiden Seiten aus betrachtet werden kann und muss. So soll die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften überwunden werden.

Philosophische Anthropologie bezieht sich demnach auf die Pluralität der empirischen Menschenwissenschaften, indem sie ihre regionalen Erkenntnisse miteinander vermittelt, und zwar im Lichte ihres einheitlichen Bezugs auf die eine menschliche Identität. Die Zusammenführung des Wissens über den Menschen wirkt der aktuellen Tendenz seiner Zerstreuung entgegen, berücksichtigt alle möglichen Typen von Erfahrungen und verbindet sie mit den konkreten lebensweltlichen Interessen. Philosophische Anthropologie liefert somit ein Orientierungswissen, indem sie sich (angeblich) einerseits jeglicher normativer Aussagen enthält und andererseits darauf ausrichtet, "die Gesamtheit der Eigenschaften [zu] thematisieren, die allen Menschen gemeinsam sind". Relativ unbedenklich wird selbst auf sozialstatistische Verfahren zurückgegriffen, da ja begrifflich ein für alle Mal festgelegt ist, dass die Normalität (als Durchschnittswert) und die Norm (als moralische, juridische Vorschrift) auf unterschiedlichen kategorialen Ebenen lokalisiert sind. Besonderes Gewicht haben hier zum einen die philosophischen Deutungen der empirischen Forschungen zur menschlichen Phylo- und Ontogenese, zum anderen die aristotelisch tradierte Bemühung um die Bestimmung menschlicher Grundkompetenzen. Im Rekurs auf Martha Nussbaum gibt Thies zu verstehen, dass der rationale Kern des Entfremdungstheorems genau darin liegt, Möglichkeiten des menschlichen Seinkönnens zu definieren, die in Abhängigkeit von den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen mehr oder weniger verwirklicht werden können.

Grundbegriffe oder "generelle Muster menschlicher Tätigkeiten" der philosophischen Anthropologie sind nach Thies: Existieren, Denken, Fühlen, Arbeiten, soziales Handeln, Sprechen. In diesen Bereichen gibt es anthropologische Universalien, z. B. elementare Sozialbeziehungen oder Basisstrukturen der sprachlichen Syntax, die den Menschen im Unterschied zum Tier charakterisieren. Ausgehend von der Innenperspektive, die letztlich allein die "Sonderstellung des Menschen" gewährleisten kann (und insofern einen philosophischen Vorrang genießt), wird zunächst als Grundbegriff der menschlichen Existenz Plessners "exzentrische Positionalität" des Ich eingeführt: Ich kann mich von mir selbst distanzieren und mich - in verschiedenen Einstellungen - auf mich selbst beziehen. Die Entstehung von Selbstverhältnissen lässt sich ebenfalls empirisch erforschen: Immer wieder werden die großen Affen als Vergleichsobjekte herangezogen.

Neben den Selbstbezug (Jemeinigkeit) tritt der Bezug zum Anderen (Mitsein) und zur Lebenswelt. Schematisch werden drei Weltbezüge unterschieden, die bestimmten theoretischen Einstellungen entsprechen: Der objektive Weltbezug konstituiert die physikalische Außenwelt, der intersubjektive Weltbezug die idealen Werte und Normen und der subjektive Weltbezug die psychische Innenwelt. So erscheint das Selbst (und der Andere) als Körper, Person und Seele. Fraglich ist hier, wie der vom Autor gewählte phänomenologische Ausgangspunkt mit der These korrespondiert, dass die Anthropologie nur als periphere Disziplin der Philosophie in Frage kommt. Oder soll etwa der Begriff der "exzentrischen Positionalität" in einer philosophischen "Kerndisziplin" begründet werden? Da hilft auch kein Bekenntnis zur Kantischen Tradition, wenn bereits im Grundsatz die moralphilosophische Konstruktion der Person ad absurdum geführt wird, wenn gegen "den ersten Satz von Kants Anthropologie" ausgeführt wird: "Die Schimpansin Washoe, der die Zeichensprache der Taubstummen beigebracht worden war, antwortete, nachdem sie in einen Spiegel geguckt hatte, auf die Frage 'Was ist das?' mit: 'Ich, Washoe.'"

Zur Grundeigenschaft des Menschen zählt sodann das vernünftige Denken als eine Kompetenz, "über die potentiell jeder Mensch verfügt". Sie besteht darin, zu wissen, was wir wissen (bzw. zu wissen, dass wir viele Dinge nicht wissen), in der Fähigkeit unser Wissen kritisch und argumentativ zu prüfen sowie darin, zu allgemeinen Aussagen zu kommen. Gemäß seiner Vorliebe für Stufenmodelle, die sich entwicklungslogisch interpretieren lassen, unterscheidet der Autor - nun in der Nachfolge Piagets - Entwicklungsniveaus kognitiver Vermögen: das senso-motorische, das prä-operationale, konkret-operationale und (post/)formal-operationale Stadium. Hiermit werden ontogenetische Phasen beim Menschen differenziert, aber auch Beziehungen zum Tierreich (z. B. verfügen zwar viele Tiere über kognitive Fähigkeiten der ersten Stufe, aber "nur noch die Menschenaffen [vollziehen] den Schritt von der diachronen zur synchronen Identität, den Kinder mit 11/2 Jahren schaffen") und zu "primitiven" Völkern hergestellt ("Erwachsene aus schriftlosen Kulturen" kommen nicht über das konkret-operationale Stadium hinaus (sic!)). Das höchste, post-formale Stadium wird nur von den wenigsten erreicht: große Künstler, Politiker, Wissenschaftler und Philosophen. Die Ausnahmestellung des Menschen wird noch unterstrichen durch die Aussage, dass das menschliche Gehirn "im Vergleich mit den großen Affen [...] überproportional groß ist."

Auch im Bereich des Fühlens werden die Resultate der empirischen Forschung herangezogen, um bestimmte universale Eigenschaften zu bestimmen: Nicht nur lokalisieren die Hirnforscher bestimmte Gefühle in bestimmten Hirnregionen (z. B. im limbischen System), sondern darüber hinaus zeigen sie, "dass viele Ausdrucksbewegungen universal verbreitet sind". Im Bereich des Fühlens erster Ordnung ("Spüren") kommt auch hier ein Stufenmodell zur Anwendung, nämlich die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow, dem Begründer der "humanistischen Psychologie".

Diese ist so aufgebaut, dass sie von grundlegenden biologischen Bedürfnissen ausgeht, dann über soziale Sicherheits-, Bindungs- und Anerkennungsbedürfnisse bis zu den hoch entwickelten Bedürfnissen nach Selbstverwirklichung und "Transzendenz" reicht. Das Fühlen zweiter Ordnung ist insgesamt spezifisch menschlich, impliziert einen exzentrischen Selbstbezug, und dividiert sich in die Bereiche der Affekte und Leidenschaften (intentionale Gefühle) sowie der Stimmungen und Temperamente (nicht-intentional). Es ist bezeichnend, dass hiermit die Charakteristik samt ihrer physiologischen Begründungsanstrengungen (z. B. schlägt Thies vor, die Temperamentenlehre "durch die Erforschung der chemischen Botenstoffe zu rehabilitieren") wiederkehrt.

Im Kontext des Arbeitens (im Bereich des "Werkzeugverhaltens") und des sozialen Handelns (Kohlbergs Stadientheorie hinsichtlich der Entwicklung des sozial-kognitiven Horizonts: vom egozentrischen, über das soziozentrische bis hin zum post-konventionellen Stadium universaler Normativität) werden ebenfalls Stufenmodelle ins Spiel gebracht, die für ontogenetische und evolutionsbiologische Belange relevant sein sollen. Zuletzt wird mit Blick auf das animal symbolicum ein Stufenmodell der Kommunikation der Lebewesen entworfen. Auch hier gilt, dass die "großen Affen ungefähr den Entwicklungsstand eines dreijährigen Kindes erreichen", d. h. sie bewältigen zwar die ersten Entwicklungsschritte, verfügen aber nicht über "Sprache" im typisch menschlichen Sinne, d. h. im Sinne einer Ablösung vom Leib bzw. von einer konkreten Situation als unmittelbare Referenz. Das unterste Niveau bildet hier die leibliche Kommunikation (vermittelt über Anzeichen, Symptome, unwillkürliche leibliche Ausdrucksbewegungen wie Erröten etc.), die zweite Stufe eine Kommunikation über Signale, Gebärden (Mimik, Gestik), die dritte Stufe eine Verständigung über materielle (z. B. rituelle) oder bildförmige Symbole ("weil der Mensch das einzige Wesen ist, das Bilder herstellt, kann man ihn als homo pictor bezeichnen" - Thies bezeichnet die Felsbilder der Cro-Magnon-Menschen als "naturgeschichtliche Zäsur") und die vierte Stufe eine genuin "sprachliche" Kommunikation (im engeren Sinne), die sich diskursiver Symbole, nämlich empirischer oder reiner Begriffe bedient. Zwischen den verschiedenen Stufenmodellen werden zudem Verbindungen hergestellt, so etwa vom Gebrauch reiner Begriffe, zur formal-operationalen Phase der Entwicklungspsychologie Piagets.

Es sind die diversen Entwicklungsmodelle, die Thies zufolge den zentralen Lehrbestand der philosophischen Anthropologie ausmachen. An diesem Punkt steht das vorliegende Buch durchaus in der problematischen Tradition der Disziplin. Hier zeigt sich aber auch, dass die intendierte Integration anthropologiekritischer Positionen nicht gelingt. Schließlich sind es vornehmlich die biologisch gestützten Konstruktionen menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten, die sich von den anderen Lebewesen unterscheiden und so bestimmen, die zum ersten Gegenstand der Kritik avancieren, weil sie sich strukturell der Beschreibungsebene einer durchgreifenden gesellschaftlichen Determination und Normalisierung entziehen.

Im Schlussteil erörtert der Autor "klassische anthropologische Grundfragen" und verbleibt dabei gänzlich im Rahmen einer "Einführung" in ein philosophiehistorisches Themenfeld. Die allgemein gehaltenen Ausführungen über die philosophischen Diskussionen über angeborene und erworbene Ideen, über die gute oder böse Natur des Menschen sowie über die zentrale oder marginale Stellung des Menschen im Kosmos sind nur schwer im Fahrwasser der anfangs erwähnten Ambitionen zu situieren: nämlich im Feld der philosophischen Anthropologie aufzuräumen und neu zu konstruieren. Trotz aller vergeblichen Emphase bleibt so zuletzt ein begrifflich ziemlich solide hantierendes Einführungsbuch in eine Terminologie, die traditionell enge Beziehungen zur "philosophischen Anthropologie" aufweist, und zu einem bislang kaum strukturierten Sammelsurium philosophischer Arbeiten in einem Feld, das seit Kant vor allem das Verhältnis der Philosophie zur Psychologie, später auch zur Physiologie, Medizin, Biologie und Soziologie bearbeitet. Die Blütezeit der philosophischen Anthropologie in Deutschland (nach Thies: von 1928-1958) hat zwar dazu geführt, dass an vielen deutschen Universitäten heute philosophische Anthropologie gelehrt wird, aber das heißt gerade nicht, dass sich mit dem Begriff ein kohärentes Lehrgebiet mit gesicherten Erkenntnissen verbindet. Im Kochtopf von Anthropologen - das verrät das "wilde Denken" - schwimmt so allerlei im Trüben, was man kaum vermutet.


Titelbild

Christian Thies: Einführung in die philosophische Anthropologie.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2004.
166 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3534154703

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