"Penelopearbeit des Eingedenkens"

Anja Lemke untersucht die "Gedächtnisräume des Selbst" in Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem seiner so genannten "Denkbilder" unter dem Titel "Ausgraben und Erinnern", das auch Eingang in die "Berliner Chronik" fand, ging Walter Benjamin davon aus, dass das "Gedächtnis" nicht als "Instrument zur Erkundung der Vergangenheit", sondern als "deren Schauplatz" aufzufassen sei, das der genauen Untersuchung durch den Erinnernden ebenso bedürfe wie die Untersuchung des "Erdreichs" durch den Archäologen. Das archäologische Bild metaphorisiert die chronologische Distanz als geologische "Lagerungen, Schichten", die es freizulegen gelte. Im Verfahren dieser archäologischen Erinnerungstätigkeit erscheinen die Bruch- und Fundstücke der Vergangenheit stellenweise im grellen Licht, manchmal verschwinden sie über eine längere Zeit, um dann plötzlich wieder auf den Schauplatz der Schrift zu treten, mit kleinen, aber äußerst effektvollen Verschiebungen und Entstellungen oder auch in vollkommen veränderten Konstellationen.

Aktive Rekonstruktion und passive Disposition der Vergangenheit werden von Benjamin dabei im Begriff des 'Mediums' zusammengeführt: "Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangenen ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen - ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt. [...] So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde".

Für die in vielen Texten der ästhetischen Moderne lesbar werdende Konstellation von 'Gedächtnis' und '(Körper-)Schrift' sind vor allem zwei Merkmale relevant: Erstens die Geste der 'Unverfügbarkeit' des Dargestellten, aber zweitens auch die Vorstellung eines dichten textuellen Verweissystems, eines labyrinthischen Gewebes aus Geschriebenem, das gleichzeitig imprägniert ist von dem Gedanken einer allegorischen 'Rettung'. Die Geste der Rettung gilt - das zeigt Anja Lemke in ihrer jüngst erschienenen Untersuchung zu Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" - jedoch nicht der Restitution einer verlorenen oder sogar ursprünglichen Einheit, sondern dem Versuch, das historisch und begrifflich Verschwindende und das Verschwinden selbst darzustellen, ihm in der Schrift einen Ort zu schaffen. Ihre Studie geht daher dem Zusammenhang von Erinnerungspoetik, Sprachphilosophie und Identitätskonzeption in Benjamins Text nach. In der Verknüpfung antiker Mnemotechnik mit psychoanalytischen Gedächtnismodellen liest Lemke die Erinnerungsbilder des Textes als topografisch strukturierte Schrifträume: "Die immanente Poetik des Erinnerns entfaltet sich [...] als ein labyrinthisches Netz einzelner Episoden, das sich der autobiographischen Darstellung als einer chronologischen Narration des eigenen Lebens entzieht. Der Text verweigert sich einer durch lineare Erzählung homogenisierten Ich-Bildung, rückt jedoch dadurch die Frage nach den noch verbleibenden Formen der Identitätsbildung in den Mittelpunkt des Schreibens." Der durch autobiografische Signale markierte Wunsch nach einem gelingenden Selbstentwurf qua schreibender Erinnerung wird von der durch die Erzählung in Gang gesetzte Gegenbewegung von Aufschub, Fragmentarisierung und Dispersion des Ich durchkreuzt.

Diese Dialektik von Konstruktion und Destruktion dringt in Benjamins Text bis in dasjenige Zeichen vor, das eigentlich keines ist, sondern autobiografische Identität signieren soll: der Name. Am Ende steht das Subjekt 'WB', das "zwei Hände" hat und eben deshalb fragt: "Bin ich der, der W.B. heißt? oder heiße ich bloß einfach W.B.? Das sind zwei Seiten einer Medaille, aber die zweite ist abgegriffen, die erste hat Stempelglanz. Die erste Fassung macht es einsichtig, daß der Name Gegenstand einer Mimesis ist. Freilich ist es deren besondere Natur, sich nicht am Kommenden, sondern immer nur am Gewesenen, das will sagen: am Gelebten, zu zeigen. Der Habitus eines gelebten Lebens: das ist es, was der Name aufbewahrt aber auch vorzeichnet".

Auszugehen ist daher immer von mindestens zwei 'Händen', die am Schreibprozess der Erinnerung beteiligt sind. Die durch den Eigennamen vermeintlich verbürgte Individualität erscheint im Text und in der Sprache überhaupt nur im Modus des Aufschubs und der Abwesenheit. Die Konstitution und Genese des Textes ist gebunden an die Enteignung des Eigennamens und seine Einschreibung in die Textualität. Versteht man das Gepräge des Schriftzugs dagegen selbst als diese Individualität, vermittelt er nicht länger eine Schreibinstanz, sondern wird an sich zur grafischen Figur mit Ausdrucksgehalt. Dementsprechend heißt es in der "Berliner Kindheit" über den "Lesekasten": "Die Sehnsucht, die er mir erweckt, beweist, wie sehr er eins mit meiner Kindheit gewesen ist. Was ich in Wahrheit in ihm suche, ist sie selbst: die ganze Kindheit, wie sie in dem Griff gelegen hat, mit dem die Hand die Lettern in die Leiste schob, in der sie sich zu Wörtern reihen sollten."

Die Textur der Autobiografie wird von Benjamin - in Anlehnung an Marcel Proust - als "Penelopearbeit des Eingedenkens" beziehungsweise des "Vergessens" bezeichnet, wobei "Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel ist". Anja Lemke erinnert daran, dass sämtliche Räume der "Berliner Kindheit" sich innerhalb dieses Wechselspiels von Erinnern und Vergessen entfalten: "Statt einer Raummetaphorik im Sinne des Speichers zu folgen, wirkt hier die Differenz von Vergessen und Erinnern als Prinzip der Sprache an der Entfaltung und Einfaltung der Räume mit, so daß diese sich im Prozeß ihrer sprachlichen Auffächerung gleichzeitig in sich selbst zurückziehen, sich falten, Verwerfungen und Entstellungen entstehen lassen und den Gedächtnisraum als ursprünglich beschädigten ausweisen". Diese Einschrift der Differenz lässt bereits der Anfang von Benjamins a-linearen Prosa-Miniaturen erkennen: "Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln. Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren. Nein, nicht die ersten, denn vor ihnen war das eine, welches sie überdauert hat. Der Weg in dieses Labyrinth, dem seine Ariadne nicht gefehlt hat, führte über die Bendlerbrücke, deren linde Wölbung die erste Hügelflanke für mich wurde."

Um sich in Benjamins Text-Steinbruch zurechtzufinden, müssen in der Tat die Vergabelungen und Wegkreuze, die Geheimgänge und die Text-Eingänge seiner metaphorischen Topografie so gehandhabt werden, als ob sie sich auf einen leiblich empfundenen Raum hin orientieren ließen. Dies erfordert beim Lesen eine bestimmte Mobilität der Vorstellungskraft, eine Fähigkeit, beim Lesen die übereinander gelagerten Bilder zu entdecken, im Gedächtnis zu behalten und miteinander zu verknüpfen. Eine ungeheure Langsamkeit der Lektüre scheint geboten, um die Überdeterminiertheit der Vernetzung der Bilder und Texte nicht aus dem Auge zu verlieren. Das Bild des Labyrinths bestimmt nicht nur den Anfang, sondern auch den Fortgang des Textes; Benjamin evoziert es auf verschiedenen Ebenen: Neben dem Irrgarten, dem Labyrinth auf dem Löschpapier des Schülers und Ariadnes mythischem Labyrinth entsteht im Verlauf des Textes ein weiteres Labyrinth - ein hermeneutisches, das sich über die ringförmig ineinander greifenden Enden von Textanfang und Textende spannt. Ist die Allegorie im Trauerspielbuch Ausdruck der Gebrochenheit von Erfahrung, die sich im Auseinanderfallen zwischen Bild und Bedeutung zeigt, so kann sie als autobiografisches Verfahren nur Textruinen bereitstellen, denen der Verweis auf die Totalität des Lebens immer schon abhanden gekommen ist. Wesentlich dabei ist, dass die "Berliner Kindheit" durch andere Texte durchdrungen und durchbrochen ist, die ihrerseits die Geschlossenheit des Werks sprengen und neue Räume des Schreibens eröffnen. Benjamins Text etabliert sich damit als ein Feld von Lektüren, in dem immer wieder verhüllt Bezug auf die Tradition genommen wird. So entsteht eine Textur, in der Benjamins "Berliner Kindheit" einen Knotenpunkt für die Möglichkeiten einer surrealistischen Stadtwahrnehmung darstellt. Ist die Stadt ein Labyrinth, so wird der Aufenthalt in der Vergangenheit zu einem Aufenthalt im Labyrinth, in dessen Mitte kein erkenntnistheoretischer Minotaurus mehr sitzt, sondern in dessen verzweigte Gänge Erinnerungen unkontrolliert einströmen.

Anja Lemke untersucht im ersten Kapitel ihrer Arbeit diese Verräumlichungsstrategien im Text in ihrer Bedeutung für eine Poetik der Erinnerung. Ihrer Ansicht nach weisen alle räumlich strukturierten Episoden "eine Zweiteilung in eine heimliche und eine unheimliche, dunkle und helle, durch Ordnung und durch Chaos beherrschte Sphäre auf. Diese Zweiteilung, durch die sich die Welt des Traums und des Unbewußten in den Text mit einschreibt, erlaubt es, die Regeln der Mnemotechnik an die psychoanalytischen Überlegungen zur topographischen Gedächtnisstruktur anzuschließen. [...] Durch diese Verschränkung zeigt sich, wie sich die Topographie der Erinnerung, die Benjamin in den einzelnen Episoden entfaltet, als sprachlicher Ort der Schwelle, des Übergangs und der Differenz generiert." Das zweite Kapitel untersucht Benjamins Poetik der Erinnerung unter Rekurs auf die zeitgleich zur "Berliner Kindheit" entstandenen sprachphilosophischen Schriften "Lehre vom Ähnlichen" und "Über das mimetische Vermögen" am Leitbegriff der "entstellten Ähnlichkeit": "In einer Vielzahl der autobiographischen Episoden steht die kindliche Fähigkeit zur Wahrnehmung und Erzeugung von Ähnlichkeiten und Analogien zwischen Ding- und Zeichenwelt im Mittelpunkt. Der kindliche Erfahrungsraum zeigt sich als eine Welt, in der prinzipiell jedes Ding zum Zeichen werden und jedes Zeichen seine materielle, dinghafte Seite aufscheinen lassen kann. Durch dieses Vermögen ist das Kind in der Lage, dem Leser Anschlußmöglichkeiten an vorrepräsentative Formen der Weltdeutung aufzuzeigen." Die "vor Ähnlichkeit entstellte Gedächtnisschrift" lässt ein sprachliches Ich entstehen, das sich über die flüchtige zeitliche und räumliche Anverwandlung an das Fremde konstituiert und auf diese Weise die identifizierende Logik stabiler Identitätsbildung unterläuft und damit auch Formen und Ziele traditionellen autobiografischen Schreibens unterminiert. Das Medium der Schrift, so resümiert Lemke, ist nicht länger Garant gelingender und ichstabilisierender Repräsentation von Erinnerungen, sondern bringt diese im Schreiben erst selbst hervor.

Das mag auch der Grund sein, warum eine Publikation dieser Prosa-Miniaturen, an denen Benjamin zwischen 1932 und 1938, nach mittlerweile fünf Jahren im Exil, gearbeitet hat, als Buch zu seinen Lebzeiten nicht zu erreichen war. Ähnlich wie viele andere Texte Benjamins blieben seine Kindheitserinnerungen nicht nur ein opus infinitum, sondern mehr noch ein opus inconclusum. Erst 1950 erschien die "Berliner Kindheit" als erste postume Buchpublikation Benjamins, besorgt von Theodor W. Adorno, herausgegeben von Peter Suhrkamp, nach dessen Aussage sie alsbald zu den am schlechtesten verkauften Büchern des Verlags avancierte.

Über dreißig Jahre später entdeckte man in der Pariser Nationalbibliothek unter einer Anzahl von Papieren, die Benjamin dort 1940, vor seiner Flucht aus der Stadt, von Georges Bataille hatte verstecken lassen und die seither als verschollen galten, die 1938 entstandene Fassung letzter Hand der "Berliner Kindheit", in der sich auch eine vom Autor selbst herrührende Disposition des Textes fand. Eine weitere Version wurde erst 1988 zugänglich, die fünfzig Jahre nach der Erstausgabe - benannt nach ihrem damaligen Aufbewahrungsort - als "Gießener Fassung" publiziert wurde. Um die Jahreswende 1932/33 entstanden, repräsentiert die Gießener Fassung das Frühstadium der Arbeit Benjamins an der "Berliner Kindheit", deren "von innen heraus leuchtende Prosa" Rolf Tiedemann mit einigem Recht den Texten Kafkas an die Seite stellte. Die in seinem "zerschlagenen Buch" - so Benjamin in einem Brief an Gershom Scholem vom 24. Oktober 1935 - formulierten Versuche, "Ich zu sagen" sind nicht mehr von dem Begehren bestimmt, das im Text aufscheinende Ich in eine Identitätsbildung mit dem schreibenden Ich zu stellen, sondern vielmehr, wie Anja Lemke mit einigem Recht unterstreicht, von dem Versuch, "deren Differenz als Bedingung der Möglichkeit für die Erinnerung sichtbar zu machen".

(vgl. auch die Rezension "Heimweh nach der entstellten Welt" von Thorsten Palzhoff in dieser Ausgabe)


Titelbild

Anja Lemke: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert".
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
170 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3826026918

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch