Agent provocateur

Julian Rathbones Charles Boylan wirbelt als "Der Spitzel von Waterloo" durch die englische Geschichte

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1852 wird Charles Boylan verhaftet, weil er versucht, mit einer geladenen Pistole in den Westminster-Palast zu gelangen - er fordert das Geld ein, das ihm eine geheime Regierungsorganisation seiner Meinung nach noch für vor langen Jahren geleistete Dienste als Agent seiner (und später ihrer) Majestät schuldig ist. Doch statt des Geldes erhält er eine "Unterkunft" im Gefängnis von Pentonville. Das scheint Charlie allerdings zunächst einmal gar nicht so furchtbar viel auszumachen - garantiert die Unterbringung dem bis dato Obdachlosen doch wenigstens einen einigermaßen trockenen Schlafplatz, Essen und - ab und an - ein paar Schlucke Alkohol.

Darüber hinaus verschafft ihm der unfreiwillige Gefängnisaufenthalt aber sowohl die Gelegenheit, seine Lebensgeschichte zu erzählen, als auch einen etwas unwilligen Zuhörer: Thomas Cargill. Der Regierungsbeamte, den höhere Kreise zur Aufklärung des Falls Boylan hinzugezogen haben, könnte sich sicher Angenehmeres vorstellen, als den Faseleien eines angeblichen Spions zuzuhören - und ist doch fasziniert. So will der zwergwüchsige Gefängnisinsasse nicht nur eine ganze Reihe von Damen der Gesellschaft (der guten und der unterprivilegierten) mit seinem überproportional gut ausgebildeten Geschlechtsteil beglücken, sondern meint auch Shelleys Tod verursacht und ein Attentat auf Queen Victoria bei der Weltausstellung verhindert zu haben. Boylan gibt vor, George Eliot und Karl Marx getroffen zu haben und mit Charles Darwin über die Meere geschippert zu sein. Sogar einen gewissen Mr. Darcy will er kennen gelernt haben (zumindest hat er offenbar eine gewisse [allerdings erst über hundert Jahre später entstandene] BBC-Verfilmung gesehen...): Mr. Darcy "war mal ziemlich wohlhabend, hat aber ziemlich viel Geld verloren, als die Neger damals, achtzehnvierunddreißig, in Jamaika rumorten. Außerdem hat er, das war schon vorher, unterhalb seines Standes geheiratet, das heißt, seine Frau kam aus einer größtenteils armen Familie, hatte noch vier Schwestern. Es war eine Liebesheirat, weshalb sie einander auch sehr schnell überdrüssig wurden. Es hieß, er würde sie schlagen." Und Mr. Darcy benimmt sich nun, nach der Trennung von Elizabeth Bennet, "höchst merkwürdig. Er begibt sich aller seiner Kleider. Er stürzt sich völlig nackt in den See und ist, als er wieder auftaucht, mit Girlanden von Seerosenblättern und deren saftigen Stengeln bedeckt. Seine Hunde bellen ihn an. Das ist, meint Charlie, nicht das Verhalten eines wahren Gentlemans, mag er auch noch so vom Unglück verfolgt oder von der Rolle sein." Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Könnte man denken. Doch Charlie Boylan entwickelt so viel Spaß an der eigenen Geschichte, dass er immer weiter erzählt. Schehezerade nicht unähnlich, strickt er sein Gespinst aus Vorstellung, Erinnerung, Erfüllung von Erwartungshaltungen und Fabulierkunst weiter und weiter - dabei geht es zwar nicht um seinen Kopf, aber doch immerhin um ein paar Grad Wärme, einen gefüllten Magen und das Licht einiger Kerzen (auch wenn diese im Gefängnis stehen). Solange er erzählt (und die hohen Herren der Regierung ihm glauben), solange man nicht weiß, wie viel der angebliche Spion wirklich weiß, solange ist er sicher. Und das nützt Charlie weidlich aus.

"Der Spitzel von Waterloo" - im Original "A Very English Agent", was die Geschichte sicher noch etwas besser trifft - ist ein amüsanter und intelligenter Roman, dem man deutlich den Spaß seines Autors am Erzählen anmerkt. Dabei gelingt es Rathbone meisterhaft, Fiktion und Realität - sofern man diese denn kennt - miteinander zu verflechten, bis der Leser gar nichts mehr durchschaut. Zumal der Autor das Spiel mit historischer Wahrheit und Desinformation so weit treibt, dass er sich per Fußnote in den Textfluss einschaltet, um anzumerken, dass sich im folgenden Kapitel die Erzählperspektive "verwirrend" ändern wird und dass er - um die einleitenden Absätze von Dickens' "Little Dorritt" zu plagiieren, sowohl Charlie die Aussicht aus dem Hafen von Marseille falsch beschreiben als auch Cargill diesen Fehler als Zuhörer berichtigen lassen musste.

Darüber hinaus hat der englische Autor offenbar eine geradezu kindische Freude an Kalauern, Wortverdrehungen und (vor allem) Anachronismen: Charlie ist ein James Bond des 19. Jahrhunderts - mit der Lizenz zum Töten ausgestattet, reist er als Agent 003 durch England, unterstützt von Hauptmann Q(uex). Sein 'M' ist vielmehr ein 'W' - der Duke of Wellington persönlich sorgt dafür, dass Boylan nicht arbeitslos wird. Der durchschnittliche Geheimagent wünscht sich eine Suchmaschine, um schneller Informationen auswerten zu können und berichtet einem "Webmaster", der wie eine Spinne in einem Netz aus Agenten sitzt, über die Fortschritte als Spitzel. Und über was diskutiert man im England des 19. Jahrhunderts? Über Theorien der globalen Erwärmung.

Dass zwischen all dem Spaß durchaus Ernstes zur Sprache kommt, wird dem Leser vielleicht gelegentlich etwas zu aufdringlich klargemacht: Wenn Charlie anmerkt, dass die Regierung Reformen unter dem Vorwand abwehrt, Revolutionen zu verhindern, und schließlich meint: "Natürlich verstand ich. Liverpools Regierung war nicht die erste und wird nicht die letzte sein, die gelegentliche terroristische Vorkommnisse dazu nutzt, Gesetze auf den Weg zu bringen, die auf umfassende Weise repressiv sind", dann weist dies nicht allzu subtil auf die Aktualität des Romans hin.

Doch wer will schon kleinlich sein, wenn er 544 Seiten lang geschmunzelt und gelacht, Geheimnisse entschlüsselt, literarische Anspielungen aufgedeckt und Charlie Boylan dabei - trotz seiner Fehler - fast lieb gewonnen hat?


Titelbild

Julian Rathbone: Der Spitzel von Waterloo. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Haupt.
Europa Verlag, Hamburg 2004.
544 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3203816024

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