Die Größe der kleinen Form
Alfred Polgars Kritiken
Von Andrea Neuhaus
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSoll sie leidenschaftlich sein oder akademisch-gelehrt, aufgeregt oder nüchtern, soll sie ihren Gegenstand umarmen, zu durchschauen versuchen oder gar unters Seziermesser legen? Die Rede ist von der Kritik, und wer Alfred Polgars Besprechungen kennt, weiß: Genau so soll sie sein. Von stilistischer Eleganz, weiser Ironie und vornehm-subtilem Lob, während die Verrisse oft von genialer Kürze sind und die Seitenblicke auf den so genannten "Kulturbetrieb" und die Widrigkeiten des Kritikerdaseins von zeitloser Aktualität.
Alfred Polgar (1873-1955), in Wien als Sohn eines Musiklehrers geboren, war Theaterkritiker, Essayist und Übersetzer. Er begann bei der "Wiener Allgemeinen Zeitung", fand seine literarisch-journalistische Heimat in der Wiener Kaffeehauskultur, wurde gerühmt von Karl Kraus und Robert Musil und war verfeindet mit Arthur Schnitzler. 1925 verlegte er seinen Arbeitsschwerpunkt nach Berlin, 1933 flüchtete er mit seiner Frau nach Prag, 1940 ging er schließlich ins Exil in die USA.
Nach "Alfred Polgar. Das große Lesebuch" trägt Harry Rowohlt in dem Band "Lauter gute Kritiken" weitere Meisterstücke des großen Feuilletonisten zusammen, die sein Schaffen zwischen 1904 und 1953 dokumentieren. In diesen kleinen Preziosen zu Literatur, Film und Theater verbindet sich eine scharfe Wahrnehmung mit der Kunst, Dinge gegen den Strich lesen. So begrüßte der Kritiker den Beginn der Tonfilm-Ära keineswegs, weil gerade der Stummfilm der Fantasie des Zuschauers weite Räume eröffnet: "Vorbei mit der vollkommenen Melodie, die wir den holden Frauen des Films auf die Lippen legten, denn jetzt, wenn sie den Mund aufmachen, kommt leider etwas heraus." Die Möglichkeiten dieses Mediums reflektierend, dessen Anfänge er miterlebt hatte, stellt er mit Bedauern fest: "In der Stummheit des Films lag ein wirkender, unerschöpflicher Zauber, da waren die Wurzeln seiner Kraft, die Ratio für das Irrationale der bewegten Schattenbilder, die Rechtfertigung für das Fehlen einer dritten Dimension. Nun, da seine Stummheit endete, endete mit ihr seine beispiellose Beredsamkeit."
Ob er sich über Film, Theater oder Literatur äußerte: So knapp und beiläufig er auch formulierte, so präzise traf er ins Ziel. Auch die Eitelkeiten des Zeitungsbetriebs, die er durchschaute und verachtete, waren vor seiner spitzen Feder nicht sicher. Den Zeitungsrezensenten, von so vielen gefürchtet, beschreibt er wie folgt: "Viele, insbesondere die Schauspieler, sehen ihn als strengen Prüfer, vor dem die zitternden Schüler - Dichter und Darsteller - ein Examen ablegen. Aber die Falte, die seine Stirne furcht, ist oft genug keine des bedrohlichen Professors, sondern eine des bedrohten Kandidaten." Nüchtern und uneitel ist auch sein Urteil über die Buchkritik: "Ihren einzig unbestreitbar guten Sinn hat die Buchkritik für den Buchkritiker. Sie gibt ihm Gelegenheit, durch Feststellen von Minderwertigkeiten anderer seinen eigenen Minderwertigkeits-Gram zu besänftigen und in der Verdunklung fremden Geistes das Licht des eigenen leuchten zu lassen."
Polgar brauchte oft nicht mehr als ein, zwei Federstriche, um vor den Augen des Lesers ein deutliches Bild erstehen zu lassen. Er beherrschte wie kaum ein anderer die Kunst, seinen Texten durch Aussparungen klare, strenge Konturen zu verleihen. Schon deshalb sollte "Lauter gute Kritiken" zur Pflichtlektüre für jeden Feuilletonisten werden. Aber auch, weil der Band einen Blick hinter die Kulissen erlaubt. Dem Trend zur Zweitverwertung und den Erfordernissen wirtschaftlichen Arbeitens konnte selbst der große Theaterkritiker nicht entgehen. So finden sich in verschiedenen Texten zuweilen wörtlich dieselben Gedanken - Gedanken, die man gerne und mit großem Gewinn mehrmals liest. Schließlich ist Alfred Polgar, der schon früh als "Meister der kleinen Form" galt, zweifellos ein ganz Großer dieses Fachs.