Tod in Berlin
Mit „Innerstädtischer Tod“ beendet Christoph Peters seine sich an Wolfgang Koeppen orientierende „Trilogie des gegenwärtigen Scheiterns“
Von Dietmar Jacobsen
Nach Der Sandkasten (2022) und Krähen im Park (2023) liegt nun mit Innerstädtischer Tod der letzte Band von Christoph Peters‘ (Jahrgang 1966) Trilogie des gegenwärtigen Scheiterns vor. Der 2018 mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis ausgezeichnete, heute in Berlin lebende Autor bedankt sich damit auf ganz eigene Weise für die ihm widerfahrene Ehre. Denn den literaturgeschichtlichen Referenzpunkt seiner drei Romane bildet die zwischen 1951 und 1954 erschienene Trilogie des Scheiterns, mit der Wolfgang Koeppen zu einem der wichtigsten wie literarisch innovativsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur wurde. Innerstädtischer Tod nun transportiert Themen, Motive und Figurenkonstellationen aus Koeppens Roman Der Tod in Rom in die gegenwärtige Zeit.
Während Koeppens zentrales Thema das Versagen der einstigen Täter und Mitläufer sowie vieler Angehöriger der nachfolgenden Generation bei der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit ist, hebt Peters mit seiner um die Familie des Berliner Künstlers Fabian Kolb gruppierten Konflikten auf die immer tiefer werdenden Risse in unserer Gegenwart ab. Da er den Hauptteil seines Romans zeitlich am 9. November 2022 ansiedelt – die beiden Vorgänger-Bücher spielten jeweils am 9. November der Jahre 2020 (Der Sandkasten) und 2021 (Krähen im Park), also zu den Hochzeiten der Corona-Pandemie, während diesmal der russische Angriffskrieg auf die Ukraine das bedrohliche Hintergrundgeräusch für die Handlung abgibt -, macht er erneut auf die Schicksalhaftigkeit dieses Datums in der deutschen Geschichte aufmerksam.
Für Fabian Kolb jedenfalls, gerade dreißig geworden und im „Existenzialisten-Look der 1960er Jahre“ mit einem Hauch Brian Ferry ohne das „großmäulig Auftrumpfende“ der Jüngeren durchaus ein Blickfang, soll dieser neunte November den großen, internationalen Durchbruch bringen. In der Berliner Dependance seines Galeristen Konrad Raspe, die sich in einer umgebauten ehemaligen Gründerzeitkirche befindet, will er mit einer spektakulären Ausstellung seiner Objekte den Schritt „vom begabten Newcomer zu einem Künstler von Weltrang“ machen.
Raspe, der Galerist mit Niederlassungen rund um den Globus, hat alles getan, um Kolb groß herauszubringen. Namhafte Kunstkritiker und ein erlauchter Kreis einflussreicher Privatsammler wurden zur Vernissage eingeladen. Presse wie Fernsehen sind vertreten, um den Künstler und sein Werk – „Körper aus Holz, Eisen, Leder in Gestalt nachgebauter Turnböcke, Pauschenpferde, Sandsäcke, Kadaver“, die der Künstler von Handwerkern in Marrakesch anfertigen lassen hat, bilden den Mittelpunkt der Schau – einer größtmöglichen Öffentlichkeit zu präsentieren Und der geheimnisvolle Titel der Ausstellung – „Windhauch, alles ist Windhauch“ – passt nicht nur zu Kolbs ursprünglicher Vision, mit seiner Installation auf die Corona-Krise zu reagieren, sondern auch zu den Europa und die Welt neuerdings erschütternden Geräuschen eines neuen, großen Krieges im Osten: „Tag für Tag das Pfeifen der Raketen im Sinkflug, die Donnerschläge der Bombenexplosionen […], Maschinengewehrfeuer, Schmerzensschreie, Todesschreie.“
Auch Kolbs Familie aus dem fernen Krefeld, wo der kunstferne Vater des Künstlers – „letzte[r] Krawattenfabrikant der einstmals großen Seidenweberstadt“ – auf Grund der durch den Wirtschafts-Boykott abgebrochenen Handelsbeziehungen zu Russland momentan mehr schlechte als rechte Geschäfte macht, ist zu dem Ereignis angereist. Indem er sie und andere, eher randständige Personen wie den Berliner Erzbischof oder die Galeristen-Gattin Eva-Kristin Raspe, mit der sich Kolb am Morgen der Vernissage noch auf ein kurzes erotisches Intermezzo einlässt, in die Handlung seines Romans einbezieht, eröffnet sich Christoph Peters, ähnlich wie er das bereits in den beiden vorangegangenen Bänden der Trilogie getan hat, die Möglichkeit, einen nicht nur den begrenzten Bereich der Kunstwelt umfassenden Blick auf die heutige Gesellschaft zu werfen.
Nur Fabian Kolbs Onkel, den Berliner Bundestagsabgeordneten Dr. Hermann Carius, prominenter Vertreter der Neuen Rechten – „dreiundsiebzig Jahre alt, gesundheitlich angeschlagen, schlecht gelaunt“ –, würde die restliche Sippschaft, zu der noch Carius‘ geschiedene Gattin Hildegard und sein Sohn Martin, der sich als katholischer Pfarrer mit den gegen seine Institution erhobenen Missbrauchsvorwürfen auseinanderzusetzen hat, gehören, aus begreiflichen Gründen gerne außen vor lassen. Doch der Mann hält sich zugute, seinen Neffen nach Kräften gefördert zu haben, als den noch niemand kannte. Deshalb schreibt er sich durchaus einen Anteil an dessen nun offensichtlich beginnendem Weltruhm zu. Dass er die Vernissage letzten Endes doch verpasst, liegt allerdings nicht daran, dass er die Meinung, die in seiner Familie über seine Rolle in der aktuellen politischen Szene Deutschlands herrscht, respektiert, sondern daran, dass dieser Figur sich in Peters‘ an Koeppens Roman anlehnendem Figurenensemble die Rolle vorbehalten ist, welche in Tod in Rom der ehemalige SS-General Gottlieb Judejahn spielt.
Allein es braucht das Auftauchen des Rechtsaußen-Onkels auf des Neffen Vernissage gar nicht, um den Event entgleisen zu lassen. Denn noch bevor die Veranstaltung beginnt, sorgt ein am selben Tag erschienener Presseartikel in der Hauptstadtzeitung für gehörige Störgeräusche. Kolbs Galeristen Konrad Raspe, der „Frauen hauptsächlich unter optischen Gesichtspunkten“ einzustellen scheint, wie der von ihm vertretene Künstler ahnt, droht offensichtlich ein Me-too-Skandal. Und seit man weiß, wie das enden kann – die Fälle von Harvey Weinstein und Kevin Spacey liegen nicht allzu lange zurück –, legt man auch hierzulande Wert auf eine vorsichtige Distanz zu Leuten, über die sich „hinter den Kulissen etwas zusammenbraute“. Und natürlich kommt es während der Veranstaltung dann auch zu dem erwartbaren Auftritt feministischer Aktivistinnen, der das Spektakel gehörig durcheinander und Fabian Kolb zum Nachdenken über sich und Sinn und Zweck seiner Kunst bringt.
Innerstädtischer Tod strotzt geradezu vor Gegenwärtigkeit. Häufig stößt man beim Lesen auf geschickt integrierte Passagen, die die große Welt in die vergleichsweise kleine Galeristen- und Künstlerszene Berlins hereinholen. Raketeneinschläge in Lwiw nahe der polnischen Grenze, Midtermwahlen in den USA und ein mögliches, zwei Jahre voraus liegendes Comeback Trumps – für Irmgard Carius „der widerwärtigste Mensch, der gegenwärtig durch die Weltpolitik geisterte“ –, die Folgen des Klimawandels und natürlich Corona, die Auseinandersetzung demokratischer Kräfte mit der AfD, die bei Peters als Neue Rechte firmiert, und die „Vogelschiss“ – Rede ihres Ehrenvorsitzenden Gauland, der deutlich Modell für den rechten Politiker Carius gestanden hat – der Roman lässt praktisch nichts aus, was zu den Signaturen unserer Zeit gehört.
Hinter etlichen Nebenfiguren erkennt man deren reale Vorbilder. Das Galeriegeschwätz der betuchten Vernissage-Besucher glaubt man, selbst an einschlägigen Orten bereits häufig gehört zu haben. Und ob es das wiederauferstandene Berliner Stadtschloss – für den Rechten Carius „eine missratene Hybride aus Rokoko und Brutalismus“, Fakenews und ihre oft verheerenden Folgen oder die Erfolge der Neuen Rechten im Osten des Landes sind – in Peters' Roman charakterisiert mit alldem unsere Gegenwart als eine Zeit, die sich im Übergang befindet und viele Symptome gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit aufweist.
Erzähltechnisch darf allein Fabian Kolb aus der Ich-Perspektive auf die ihm begegnenden Menschen und Dinge blicken. Dass der junge Künstler auch fleißig gendert, was wohl sein Bemühen um Korrekt- und Zeitgemäßheit unterstreichen soll, kann auf den Seiten des Romans zwar durch Sternchen verdeutlicht werden. Unproblematisch ist es dennoch nicht, weil man als Leserin oder Leser ja an den Denkprozesssen der Figur teilnimmt und Gendern beim Denkvorgang kaum mit den dafür üblichen orthografischen Sonderzeichen ausgerüstet sein dürfte. Alle anderen Figuren jedenfalls erfassen die Welt, durch die sie sich bewegen, aus einer etwas distanzierten personalen Erzählperspektive, schauen von außen auf das, was sich ereignet.
Ein Berliner Galeristenehepaar hat im Übrigen in letzter Zeit auf sich und das vorliegende Buch aufmerksam gemacht, indem es Innerstädtischer Tod gerichtlich verbieten lassen wollte. Man sah wohl den eigenen Ruf bedrohende Ähnlichkeiten zwischen sich und den von Peters erfundenen Figuren Konrad und Eva-Kristin Raspe. Die Gerichte – das Landgericht Hamburg und das Hamburger Oberlandesgericht – wiesen den Vorwurf der Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch ein Werk der erzählenden Kunst allerdings beide Male zurück. Ein Triumph der Kunstfreiheit, zumal die Ähnlichkeiten zwischen Kunstfiguren und realen Akteuren der Berliner Kunstszene in Peters‘ Roman allenfalls marginal sind.
![]() | ||
|
||
![]() |