Aktuelle Tendenzen der Kinder- und Jugendliteraturforschung

Einblicke in Neuerscheinungen zwischen „verjüngter Antike“ und „religiösen Spuren“

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wissenschaftliche Disziplinen und Felder sind von sogenannten Paradigmenwechseln geprägt: Wissen wird oftmals durch Studien generiert, durch Projektverbünde vertieft, durch Lehrbücher gesichert und durch inter- sowie transdisziplinären Austausch in Relation gesetzt zu benachbarten Domänen. „Alte“ Fragen und kaum wahrgenommene Perspektiven stellen sich vor einem gewandelten theoretischen und methodischen Hintergrund, ferner durch neu entdeckte oder neu beachtete Korpora in bislang kaum gekannter Prononciertheit, Innovative Ansätze brechen sich Bahn, bislang wenig etablierte Positionen werden durchdacht, entwickelt und erkenntnisleitend ausgestaltet. Das gilt auch und besonders für das weite Forschungsfeld der Kinder- und Jugendliteratur. Darin war in der Vergangenheit bereits oftmals vom maßgeblich-paradigmatischen Stichwort „turn“ zu lesen, nicht selten sogar im Plural gebraucht. Neuerdings wird immer öfter ein „religious turn“ konstatiert, bisweilen auch ein „classical reception turn“.

Mit dem letztgenannten „turn“ ist verwiesen auf einen Sammelband und eine Studie aus dem Jahr 2017. Im Vorwort des von Markus Janka und Michael Stierstorfer herausgegebenen Sammelbandes Verjüngte Antike. Griechisch-römische Mythologie und Historie in zeitgenössischen Kinder- und Jugendmedien liest man dementsprechend: „Der Gegenwartsbezug der antiken Tradition verleiht sich derzeit seinen stärksten Ausdruck in der Populärkultur, obwohl auch in hochkulturellen und bildungspolitischen Zusammenhängen immer wieder von der ‚Aktualität‘ der Antike zu hören und zu lesen ist […]. Man könnte geradezu von einer Kreativitätsexplosion sprechen, die einen ‚Classical Reception Turn‘ begründet.“ Die beiden Herausgeber konstatieren einen Boom der griechisch-römischen Mythologie in alltagskulturellen Kontexten. Damit verbunden sei in Filmen, Computerspielen sowie in Kinder- und Jugendromanen eine Renaissance von antiken beziehungsweise antikisierenden Götter- und Heldengeschichten. Sie beschreiben so differente Phänomene wie „antikenhaltige All-Age-Literatur“ in Form von Kriminalromanen oder „Fabelwesenwelten“ in Form von Kinderromanen. Ziel des Sammelbandes ist daher das Kartieren eines riesigen Forschungsfeldes durch eine interdisziplinäre Herangehensweise, um dem Nach- respektive Fortleben der Antike nachzuspüren. Leitfrage ist dabei, „inwieweit die Erschließung der für jugendliche Adressaten […] popularisierten Antike an vorhandene Konzepte der Erforschung von Antikenrezeption einerseits und Kinder- und Jugendmedien andererseits anknüpft.“

Dazu ist der Band entlang einer multimodalen Betrachtungsweise von Antikenrezeption gegliedert, die jeweils stofflich-inhaltliche, formal-ästhetische, ethisch-didaktische und mediale Spezifika besonders beleuchtet. Der Antike kommt insgesamt die Funktion als Reservoir an Wissensbeständen, Motiven, Figuren und Kulturphänomenen zu, die – wie mehrfach betont wird – nicht zuletzt aktualisiert wird durch jährlich 700.000 Lateinschüler an weiterführenden Schulen in Deutschland.

Der Sammelband basiert auf der Tagung „Medusa und Co. reloaded. Verjüngte Antike im Mediendialog. Transformationen griechisch-römischer Mythologie und Historie in Kinder- und Jugendmedien der Moderne und Gegenwartskultur“, die 2015 in München stattfand. Er enthält 17 Aufsätze von 20 Forscherinnen und Forschern unterschiedlicher Disziplinen und ist multiperspektivisch in fünf Themenblöcke gegliedert; fünf Beiträge sind dem Rahmenthema „Mythos, Geschichte und Didaktik“ zugeordnet. Darunter werden einerseits so heterogene Themen wie die Rezeption von Homers Froschmäusekrieg in der Neuzeit, der Telemach als literarisches Motiv in der österreichischen Jugendliteratur oder die Inszenierung der Schule in zeitgenössischen Mythenadaptionen subsumiert, anderseits werden didaktische Diskussionen darüber geführt, ob man den Roman Percy Jackson als Lektüre und Unterrichtsgegenstand im Deutschunterricht einsetzen kann beziehungsweise soll sowie Überlegungen zur Rezeption antiker Heldenbilder im postmodernen Literaturunterricht. Im letztgenannten Beitrag, der von der Münchner Literaturdidaktikerin Sabine Anselm verfasst wurde, findet sich geradezu das Leitmotto des Sammelbandes und zugleich eine Antwort auf die Frage, worin der fortlebende Reiz der Antike liegt: „Eine ‚veraltete‘ Antike gibt es nicht, sondern sie verjüngt sich durch die gegenwärtige Erinnerung der Lesenden. Dies hat Auswirkungen darauf, welche antiken Texte überliefert werden und welche Rezeption diese erfahren.“

Im zweiten Block zu „Postmoderne Mythenbricolagen als Arbeit am Mythos“ sind die meisten Beiträge (insgesamt sechs) subsumiert. Die Bedeutung von Ovids Metamorphosen einerseits als Ausgangstext für die aktuelle Darstellung von Patchworkfamilien, anderseits im intertextuellen Vergleich mit Cornelia Funkes Tinten-Trilogie, ferner die Funktion des unzuverlässigen Erzählens oder die Bedeutung der sagenhaften „Helena“ für zeitgenössische Kinder- und Jugendmedien werden hier wissenschaftlich sehr fundiert beleuchtet.

Der dritte Bereich des Sammelbandes mit nur drei Beiträgen ist der Thematik „Mythos und Film“ gewidmet. Neben der Betrachtung der „Wiederkehr griechischer Götter im Kino der Gegenwart“ und der „Rezeption des platonischen Atlantis-Mythos in Kinder- und Jugendmedien der letzten 40 Jahre“ wird auch die Rolle der griechisch-römischen Antike im sowjetischen Animationsfilm beleuchtet.

Drei Beiträge finden sich unter der Rubrik „Römische Geschichte reloaded“, darunter der anregende Aufsatz von Rüdiger Bernek zu Robert Harrisʼ historischem Roman Imperium. Berneks erkenntnisleitende Leitfrage macht neugierig und verweist zugleich auf die Gegenwartsbedeutung antiker Vorlagen respektive Stoffe:

Warum wählt Robert Harris als Protagonisten seines Romans eine historische Figur, die im Urteil der Nachwelt nur als Redner und Philosoph, nicht aber als Politiker Gnade gefunden hat? Die Antwort lautet: genau deswegen! Gerade Ciceros fragwürdige politische Bilanz macht ihn für Harris so interessant. […] ‚Imperium‘ ist also ein Roman über die Mechanismen von Politik. Der historische Referenzrahmen der späten römischen Republik veranschaulicht für Harris offenkundig das Versagen gesellschaftlicher Eliten, die ein politisches System der Partizipation durch das rücksichtslose Verfolgen ihrer Partikularinteressen lähmen und aushöhlen. […] Harris sieht in der Form des historischen Romans erklärtermaßen ein Werkzeug zur distanzierten Betrachtung und Analyse von als paradigmatisch empfundenen Phänomenen des zeitgenössischen Diskurses.

Des Weiteren spart der Sammelband auch nicht die „Kultfigur“ der populären Antikenrezeption aus: Ein eigener Beitrag ist Asterix gewidmet, wobei dieser als „Epopöe des Zivilisationsprozesses“ behandelt wird. Abgerundet wird der facettenreiche und durchweg auf gehaltvollem Niveau gestaltete Sammelband durch ein hilfreiches Indexverzeichnis mit Begriffen und Namen zur schnellen Leseorientierung.

Nicht von ungefähr hat Michael Stierstorfer mehrere Beiträge für den Sammelband als Autor beziehungsweise Co-Autor beigesteuert: 2017 erschien seine interdisziplinäre Studie Antike Mythologie in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Unsterbliche Götter- und Heldengeschichten? auf der Basis einer Verbindung von Deutsch- und Lateindidaktik mit Populärkulturforschung und Fantasy-/Phantastikforschung zur Frage des Zusammenhangs zwischen zeitgenössischem Erfolg von mythopoetischen Werken wie Percy Jackson und den Vorlagen der griechisch-römischen Mythologie. Für diese Studie, eine Regensburger Dissertation, hat Stierstorfer in akribisch-stupender Recherche und Auswertung rund 80 Kinder- und Jugendromane (von Kai Meyers Arkadien erwacht, über Marie Phillipsʼ Götter ohne Manieren bis zu Amanda Hockings Watersong) sowie 20 Filme (etwa Disneys Atlantis oder Wolfgang Petersens Troja) systematisch untersucht. Sein Forschungsergebnis lautet: „Insgesamt konnte diese Studie die These verifizieren, dass die griechisch-römische Mythologie als Fundus für die Fantasy und Phantastik fungiert.“ Dies wird differenziert und materialreich dokumentiert, wobei einerseits die „antike Mythologie der Fantasy und Phantastik vielfältige Vorlagen für prototypische Motive“ geliefert hat, anderseits diverse Aktualisierungs- und Abänderungsstrategien zu beobachten sind. Die um begriffliche Präzision bemühte Studie arbeitet sehr stringent mit den Termini technici „Mythologie“, „Mythos“, „Mythem“ sowie „Mythopoesie“ und hebt zwei Konzepte besonders hervor: die „Bricolage als Adaptionsweise von Mythopoesie“, wonach antike Mytheme in postmodernen Mythenadaptionen auf neue Art zusammengesetzt werden, und die „Hybridität“ als Spiel mit kulturellen Symbolen: „Anhand dieser Arbeit soll auch demonstriert werden, dass in postmodernen Adaptionen häufig mehrere mythologische Figuren miteinander hybridisiert werden, sodass neue, mythologisch motivierte Identifikationsfiguren, Heldenfiguren, Antagonisten und Seherfiguren kreiert werden“.

Bleibt abschließend ein Blick auf den „religious turn“. Im Sammelband Alle wichtigen Bücher handeln von Gott. Religiöse Spuren in aktueller Kinder- und Jugendliteratur konstatiert der Herausgeber Markus Tomberg einführend, dass die „aktuelle Kinder- und Jugendliteratur zu einem religionspädagogisch hochinteressanten Forschungsgebiet“ geworden sei. Religiöse Themen seien seit einigen Jahren in neuen Texten omnipräsent, die Vielfalt zeige sich in der intertextuellen Vernetzung, im Aufgreifen ethischer und multikultureller Fragestellungen beziehungsweise Problemen sowie in Rückgriffen auf biblische Motive und Bedeutungszusammenhänge. Basierend auf einer Vorlesungsreihe der Theologischen Fakultät Fulda enthält der Band vier Texte zum Thema.

In strukturell klar systematisierter Form mustert der Augsburger Religionspädagoge Georg Langenhorst das aktuelle Spektrum kinder- und jugendliterarischer Werke mit Blick auf religiöse und religionswissenschaftliche Aspekte. In seinem kenntnis- und materialreichen Bericht konstatiert er, dass heutige Autorinnen und Autoren religiöse Dimensionen neben anderen Motiven, Themen und Fragestellungen in ihre Texte integrieren. Vorrangig seien dies „die Frage nach Gott; die Darstellung einer mehr und mehr pluralen religiösen Landschaft in unserer Lebenswelt; die Auseinandersetzungen mit Leiden und Tod“. Ausgehend von Jutta Richters Kinderbuch Der Hund mit dem gelben Herzen oder die Geschichte vom Gegenteil werden zahlreiche fiktionale und faktuale Texte – von Cornelia Funkes Der verlorene Engel (2009) und Elisabeth Zöllers Lara Lustig und der liebe Gott (2006), über Marlene Röders Zebraland (2009) und Catherine Cléments Theos Reise (1997) bis zu Holly-Jane Rahlens Prinz William, Maximilian Minsky und ich (2002) – in den Blick genommen und hinsichtlich der Genreentwicklung eingeordnet. Erhellend ist einerseits die differenzierte Ursachenforschung für den „religious turn“, den Langenhorst auf den gegenwärtig erfolgenden, radikalen Traditionsbruch in den Bereichen Religionsausübung, Glaubensweitergabe und Umgang mit Spiritualität in der Gesellschaft zurückführt. Anderseits ist der Blick auf die Lernchancen interessant, die sich durch die soziokulturellen Brüche eröffnen und die Langenhorst in den didaktischen Bereichen Subjektivität, Perspektivität, Alterität, Authentizität, Personalität sowie Reflexivität und Expressivität verankert sieht, wodurch fächerübergreifende Aspekte wie literarisches, kulturelles und ästhetisches Lernen tangiert werden.

Die Perspektive auf das theologisch-religiöse Lernen richtet Markus Tomberg in der Auseinandersetzung mit literarisch ambitionierter Kinder- und Jugendliteratur. Dazu analysiert er anhand eines großen Korpus, wie in den entsprechenden Texten biblische Themen, Motive und Geschichten fiktionalisiert werden, wie der Umgang mit der Gottesfrage gestaltet wird, wie adressatenorientierte Einblicke in religiöses Innenleben eröffnet werden und wie wahrheitsfähig die dabei konstruierten Texte (beispielsweise Ulrich Hubs An der Arche um Acht, Michael Gerard Bauers Running Man oder Kirsten Boies Der durch den Spiegel kommt) sind. Komplettiert wird die inspirierende Musterung durch didaktische Perspektivierungen. Tomberg hebt unter Bezug auf das Stichwort der „Welt-Metamorphose“ hervor, dass Kinder- und Jugendliteratur einen semantischen Resonanzraum eröffne, „in dem der Bedeutungsgehalt des all- wie des sonntäglich Gesagten rekonfiguriert, überprüft, neu bestimmt wird.“

Konkretisiert werden die beiden Überblicksbeiträge durch lesenswerte religionspädagogisch reflektierte Praxisbeispiele von Anne Holterhues zu „Adam und Eva, Hazel Grace und andere Protagonisten aktueller Jugendliteratur im Religionsunterricht“ sowie von Christina Heidler zu „Religiöse Elemente in aktueller Fantasy-Literatur am Beispiel von J. K. Rowlings ‚Harry Potter‘ und Cornelia Funkes ‚Tintenwelt‘“.

Resümierend betrachtet belegen die drei Bände erneut die Vielfalt zeitgenössischer Kinder- und Jugendliteraturproduktion. Zugleich zeigen sie, dass vorrangig die differente Herangehensweise wissenschaftlicher Disziplinen wie Klassischer Philologie, Germanistik, Kultur- und Medienwissenschaften sowie Theologie mit genuinen Methoden und Frageperspektiven neue Paradigmen ermöglicht, ja unabdingbar macht. Weitere inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekte sind absolut zu begrüßen.

Titelbild

Markus Janka / Michael Stierstorfer (Hg.): Verjüngte Antike. Griechisch-römische Mythologie und Historie in zeitgenössischen Kinder- und Jugendmedien.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
392 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783825367152

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Michael Stierstorfer: Antike Mythologie in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Unsterbliche Götter- und Heldengeschichten?
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
495 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783631714577

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Markus Tomberg (Hg.): Alle wichtigen Bücher handeln von Gott. Religiöse Spuren in aktueller Kinder- und Jugendliteratur.
Fuldaer Hochschulschriften.
Echter Verlag, Würzburg 2016.
206 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783429039646

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