Deutsch-jüdischer Eigensinn
Elisabeth Wagner porträtiert vier Mosse-Frauen überzeugend
Von Markus Joch
Beim Namen Mosse denken die meisten an das seit den 1870er Jahren aufgestiegene Verlagshaus Rudolf Mosse, die publizistische Speerspitze des Linksliberalismus in Kaiserreich und Weimarer Republik (unter anderem Berliner Tageblatt). Den Verzweigungen einer der prominentesten Familien des deutsch-jüdischen Großbürgertums widmete Elisabeth Kraus 1999 eine Pionierstudie, an die das Buch von Elisabeth Wagner explizit anknüpft. Anders als die Münchner Historikerin aber konzentriert sich die Berliner Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin auf vier weibliche „Schlüsselfiguren“ unter den vielen Personen, die Kraus in ihrer Tableau-artigen Geschichte der Mosses aufführte. Die neue Schwerpunktsetzung ist aus zwei sehr unterschiedlichen Gründen zu begrüßen.
Wie Wagner eingangs bemerkt, war in den 1997 an der Berliner Humboldt-Universität gestarteten Mosse Lectures, dem Veranstaltungsprojekt, das sie zwanzig Jahre lang beschäftigte, wenig von den Frauen der Familie zu erfahren. Eine erklärliche Disparität. Es lag zum einen daran, dass die Vorlesungsreihe den liberal-demokratischen Geist des jüdischen Zeitungsimperiums wiederaufleben ließ und damit zwangsläufig auf dessen Gründer verwies. Es hatte aber noch mit einem anderen Mann zu tun, einem Enkel von Rudolf, dem renommierten Historiker und Weltbürger George L. Mosse. Von ihm, der zusammen mit dem Germanisten Klaus R. Scherpe die Lectures gründete, erschien posthum und 2003 auf Deutsch eine Autobiobiographie („Aus großem Hause“ ‒ der Titel des englischen Originals, „Confronting History“, war weit treffender), die die deutsche Leserschaft förmlich hinriss. Denn der Autor erzählte von seiner Berliner Kindheit mit Chauffeur, der dramatischen Flucht vor den Nazis und seiner späteren Karriere als Hochschullehrer in den USA nicht nur fesselnd ‒ etwa, wie Mosses Standardwerke zu Nationalismus, Rassismus und Sexualität mit seinem Leben als Jude und Homosexueller, also doppelter Außenseiter, zusammenhingen. Hinzu kam, dass dieser Emigrant aus seinem von Geschichte hart getroffenen Leben verblüffend leicht und schelmisch berichtete. Nur hatte das Lesenswerte einen Nachteil: Unbeabsichtigt zog es von den Mosse-Frauen Aufmerksamkeit ab.
Deshalb kann man es fällig geschlechtergerecht nennen, wenn Wagner nun mehrere von ihnen heranzoomt, um „ihr eigenes Leben, ihre erfolgreiche Berufstätigkeit und ihre[en] Eigensinn“ auszuzeichnen. Und doch, noch etwas wichtiger an den biographischen Erkundungen wirkt eine kultursoziologische Begründung, die einleuchtet, weil Frauen aus drei Generationen porträtiert werden, deren Laufbahnen unterschiedlicher nicht sein könnten.
Emilie Mosse, Rudolfs Gattin, bringt es im wilhelminischen Berlin zur Repräsentantin des Verlags- und Pressekonzerns. Ihre Nichte Martha bekleidet in der Weimarer Republik als erste Frau das Amt eines preußischen Polizeirats, Marthas jüngere Schwester Dora wird Kunsthistorikerin erst im Warburg-, dann im Umfeld von Princeton. Emilies Enkelin Hilde schließlich (die ältere Schwester von George) gründet die erste Sozialpsychiatrie für die Schwarze Community von Harlem mit. Die auffällige Kluft zwischen den Lebenswegen erklärt Wagner im Licht von Bourdieus Warnung vor der „biographischen Illusion“, jenen allzu sinnigen Erzählungen von einer kohärenten Vita, in der sich Schritt für Schritt die ursprüngliche Intention eines Akteurs realisiere. In Wirklichkeit handelt es sich bei biographische Ereignissen um „Plazierungen und Deplazierungen im sozialen Raum“, der seinerseits „nicht endenden Transformationen unterworfen ist“. Den soziologischen Fingerzeig beachtend, nimmt Wagner beides in den Blick: Was die vier Frauen verbindet, einen großbürgerlich, jüdisch, weiblich bestimmten Habitus, und zugleich, dass ihre herkunftsbedingten Verhaltensweisen ganz unterschiedlich nachwirken, je nachdem, auf welche „jeweils gegenwärtigen Einflüsse, Konflikte und Machtverhältnisse“ sie treffen. Ein sich besonders dann aufdrängender Ansatz, wenn familiär erworbene Einstellungen zu Platzierungen in einem sozialen Raum führen, der sich so katastrophal wandelt, wie es Jüdinnen 1933 erlebten.
Vergleichsweise undramatisch gestaltet sich das Leben von Emilie, der Gründerin eines Mädchenhorts für Töchter bedürftiger Mütter, dann der Mosseschen Erziehungsanstalt für Knaben und Mädchen, des späteren Mosse-Stiftes. Ihre philanthropische Tätigkeit, finanziert durch das Zeitungsunternehmen und typisch für den überproportionalen Anteil von Juden an Spenden in Preußen, wurzelt in der Tradition der jüdischen Zedaka, der religiösen Verpflichtung zur ausgleichenden sozialen Gerechtigkeit, wie im Wunsch nicht-christlicher Aufsteiger nach gesellschaftlicher Anerkennung. Auch Aktivitäten in der bürgerlichen Frauenbewegung und nicht zuletzt Emilies Rolle als gewandte Gastgeberin im Mosse-Palais am Leipziger Platz tragen zu ihrem Renommee bei. 1909 erhält Berlins seinerzeit wohl bekannteste Gesellschaftsdame für 25 Jahre Einsatz in der Kinder- und Jugendfürsorge den königlichen Wilhelm-Orden ‒ sehr zum Ärger von Antisemiten, denen schon die gemischte, halb jüdische, halb christliche Einrichtung des Stiftes ein Dorn im Auge war.
Von ikonographischem Spürsinn Wagners zeugt es, wenn sie an Das Gastmahl der Familie Mosse,einem monumentalen Wandbild, das den Speisesaal des Palais schmückte, die unscheinbare Spur einer heiklen Angelegenheit beleuchtet, indirekt die Kinderlosigkeit der Ehe von Rudolf und Emilie Mosse betreffend. Während in der Ölskizze des bei Anton von Werner in Auftrag gegebenen Werkes unten rechts noch ein Knabe zu sehen war, hat der Künstler im endgültigen Gemälde an der gleichen Stelle und offensichtlich wunschgemäß eine Mädchenfigur eingefügt. Zu sehen ist nun Felicia, hervorgegangen aus einem Seitensprung von Rudolf mit einer Hausangestellten. Der mit dem Gemälde symbolisch vollzogenen Aufnahme der unehelichen Tochter in die Familie entspricht Emilies Praxis, für eine standesgemäße Erziehung Felicias zu sorgen, sie auf ihre Rolle als vermögende Erbin vorzubereiten wie auch frühzeitig in die wohltätigen Verpflichtungen einzubeziehen.
Womöglich gestaltete sich das Verhältnis der beiden Frauen etwas weniger harmonisch, als es Wagner schildert. Dafür spricht zum einen der von ihr selbst erwähnte Umstand, dass Emilie Felicia erst mit zwanzig Jahren Verzögerung offiziell adoptierte. Zum anderen hat George seiner Großmutter eine „tyrannische[e]“ Art nachgesagt.
Vielleicht war das eine Vergeltung dafür, daß sie die uneheliche Tochter ihres Mannes an Kindes statt angenommen hatte, es könnte aber einfach auch ein Aspekt ihrer starken Persönlichkeit gewesen sein.
Mag man die Zuverlässigkeit der Auskunft auch anzweifeln ‒ in Emilies Todesjahr war der Adoptivenkel erst sechs –, zitieren hätte man den unvorteilhaften Teil der Erinnerung ruhig dürfen. Schwerer allerdings wiegt Wagners Leistung, den langen Weg von der Tochter eines kleinen Aachener Ladenbesitzers zur jüdischen Repräsentantin in der Reichshauptstadt akribisch nachzuzeichnen. Dadurch wird verstehbar, warum Emilie Mosse trotz der demütigenden Verfehlung ihres Ehemanns bereit war, Felicias Erziehung in die Hand zu nehmen. Zum Verantwortungsgefühl kam, dass sie in dem Mädchen eben nicht nur ökonomisch die Erbin sehen konnte, sondern auch die ihrer ureigenen, ideellen Investitionen.
Dass Nichte Martha sich zunächst als Sängerin versucht, entspricht noch der üblichen Praxis höherer Töchter, sich auf musischem Gebiet zu betätigen, und die nach dem Abbruch der Ausbildung begonnene, ehrenamtliche Arbeit in der Jugendfürsorge kann man vor dem Hintergrund der Zedaka sehen. Aus den traditionellen Bahnen jüdischer Weiblichkeit schert Martha jedoch aus, wenn sie einen erst 1908 eröffneten Möglichkeitsraum ‒ Preußen erlaubt Frauen zu studieren ‒ in ungewöhnlicher Weise nutzt. Motiviert durch die Einsicht in die rechtlichen Unzulänglichkeiten der erzieherischen Sozialarbeit, wählt sie das von Frauen noch wenig frequentierte Jurastudium. Dass sie die Option überhaupt erwog, verdankte sich zwei Vorbildern, einer älteren Juristin in der Fürsorge-Zentrale wie auch dem Vater, Oberlandesgerichtsrat Albert Mosse. Mit der Promotion von 1920 zum Erziehungsanspruch des Kindes, trendgerecht in einer Republik, die Fürsorge von privater Wohltat auf staatliche Institutionalisierung umstellt, wird Martha im Familienverband die erste Akademiker-Frau, voll berufstätig und selbständig.
Wie Wagner leicht süffisant bemerkt, dürfte das juristische Fortkommen es dem Vater erleichtert haben, „ihre Positionierung als unverheiratetes Fräulein Dr. Mosse hinzunehmen“ ‒ eigene Wege geht Martha auch als lesbische Frau. Professioneller wie privater Eigensinn sind mit einem konservativen Zug durchaus vereinbar. So selbstgewiss die Polizeirätin mit einer Frau zusammenlebt, so rigoros bekämpft sie 1928 Auslagen erotischer Schriften und Bilder in der Öffentlichkeit, besonders solche, die der eigenen sexuellen Präferenz nahestehen. Wagner schreibt die Strenge einer anti-exhibitionistischen Grundhaltung zu, geprägt von einem Elternhaus, das „großen Wert auf das Dezente, Taktvolle, in heiklen und sehr persönlichen Dingen auf Verschwiegenheit [legte]“. Ja, gutes Beispiel für das Eigengewicht eines „bourgeoisen Habitus“.
Nach der nazistischen Machtübernahme wird sich genau die Kombination, die sich heute so gut macht ‒ auf heteronormative Erwartungen pfeifen, beruflich in eine Männerdomäne einbrechen ‒ insofern fatal auswirken, als sie eine gelinde gesagt kontroverse Platzierung nach sich zieht. Aus Rücksicht auf ihre nicht-jüdische Lebensgefährtin bleibt Martha Mosse auch nach dem Tod der Mutter (1934) in Deutschland. Ihr guter professioneller Ruf wiederum führt dazu, dass sie, die 1933 wegen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom Dienst Suspendierte, im Oktober 1934 eine Anstellung bei der Jüdischen Gemeinde findet, deren Vorstände sie im Mai 1939 mit der Leitung der sogenannten Wohnungsberatungsstelle betrauen. Sich darauf einzulassen, offenbart den preußisch gefärbten Glauben, noch unter NS-Bedingungen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn einbringen zu können ‒ ein Irrtum. „[T[he most difficult office in the administration of the community“, wie sich Leo Baeck später äußerte, hat die Aufgabe, für die Berliner Juden, die ihre Wohnungen räumen müssen, Ersatzunterkünfte als Untermieter in den wenigen verbleibenden Quartieren zu finden. Zwei Jahre später stellt sich heraus, dass das dabei angelegte Kataster von der Gestapo zu nichts anderem genutzt wird, als die Deportationen in den Osten zu organisieren.
Als abwegig erweist sich in diesem Zusammenhang die Behauptung des F.A.Z.-Rezensenten, Wagner habe Marthas Funktion beschönigt, „fahrlässig“ gar, und auch ihre vergleichsweise privilegierte Rolle in Theresienstadt (seit Juni 1943) mit unzureichendem Problembewusstsein verhandelt. Realiter hält sich die Autorin an Fakten und Forschungsstand. Wie zwei Vorstandsmitglieder der Jüdischen Gemeinde wurde Mosse im Oktober 1941 von der Gestapo gezwungen, über den wirklichen Zweck der aktuellen „Wohnungsräumungs-Aktion“ zu schweigen ‒ sonst wären die Funktionäre selbst deportiert und die „Umsiedlungen“ von SA und SS ins Werk gesetzt worden. Mit Beate Meyer beschreibt Wagner die verhängnisvolle Entscheidung zur Kooperation korrekt als „Entscheidung zum Mitmachen, Schweigen und Täuschen unter Todesdrohung“. Von „unlösbaren Konflikten“ Marthas zu sprechen (so schon die Einleitung), dürfte nur angemessen sein und kein Zeichen von „Überidentifikation“ (F.A.Z.).
Wie schon Kraus dokumentiert auch Wagner, dass im Ehrengerichtsverfahren von 1946/47, das die nach dem Krieg von anderen Juden angefeindete Mosse selbst anstrengte, ihre Fürsprecher vor allem eins betonten: Die von NS-Dienststellen initiierten und vorgeschriebenen Maßnahmen zur „Evakuierung“ der Juden und später zu ihrer Deportation wurden von den jüdischen Organisationen lediglich bearbeitet. Die Angestellten Letzterer hatten keinerlei Auswahl- oder Entscheidungsrecht bei den Transporten, daher seien sie nicht für sie verantwortlich zu machen. Angesichts der geläufigen Verteidigungslinie ist es widersinnig, wenn der F.A.Z.-Kritiker moniert, dass Wagner eine Studie von Susanne Willems, Der entsiedelte Jude, unberücksichtigt lässt. Dort nämlich gibt es eine Information, die das Entlastungsargument gerade stützt ‒ und Falschbeschuldigungen auf ein Missverständnis zurückführt:
Weil die Wohnungsberatungsstelle bei allen Wohnungsräumungen des GBI [Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, MJ] gegen Berliner Juden, gleich ob die Exmittierten in Berlin blieben oder deportiert wurden, den Betroffenen die Räumungsverfolgung mitzuteilen hatte, entstand der trügende Eindruck, die Jüdische Kultusvereinigung hätte Berliner Juden zur Deportation ausgewählt.
1946 bezeugte ein Anwalt die verzweifelten Versuche von Mosse, im ein oder anderen Fall Rückstellungen von Deportationen zu erreichen. Obgleich Wagner seine Stimme zitiert, betet sie Mosses Darstellung von 1958, die Jüdische Gemeinde habe mit der Gestapo kooperiert, „um noch Gutes im Interesse der Betroffenen“ bewirken zu können, mitnichten nach. Sie qualifiziert die Absichtsbekundung als „vage Hoffnung“ und 1941/42 illusorische, nennt den realen Handlungsspielraum „marginal angesichts der Wucht des Terrors“. Und zum Einsatz der Juristin in der Jüdischen Selbstverwaltung von Theresienstadt liest man: „Martha Mosses Tätigkeit als Untersuchungsrichterin war weitaus zweifelhafter und angreifbarer als sie in ihrem betont nüchternen Bericht“ vom August 1945 „zu erkennen gibt.“ Zu wenig Problembewusstsein? Zumindest nicht bei Wagner.
Warum die umstrittene der Mosse-Frauen ins sogenannte Altersghetto Theresienstadt kam, Auschwitz entging, ist der Forschung seit Längerem bekannt. Im Winter 1942/43 schaltete Hanna Solf, die Witwe des früheren deutschen Botschafters in Tokio, Wilhelm Solf, die japanische Botschaft ein, um zu verhindern, dass Martha in ein Vernichtungslager verschleppt wird. Erfolgreich war die Intervention, weil Solf die Verdienste geltend machte, die sich Albert Mosse von 1886 bis 1890 um die Einrichtung einer modernen Regionalverfassung in Japan erworben hatte.
Bei Wagner nun wird erstmals der Hintergrund der Arbeit in Fernost beleuchtet, die Martha und Dora eine frühe Kindheit in exotischem Ambiente bescherte, samt (wie wir hier sehen) schmucken Kimono- und Kamakura-Fotos. Vom Auslandseinsatz versprach sich der Rechtsgelehrte Mosse einen Zuwachs an Renommee, der ihn dem Ziel, Oberlandesgerichtsrat in Berlin zu werden, näherbringen sollte. Eine trügerische Hoffnung. Da nach der Rückkehr Antisemiten in der hauptstädtischen Justiz die angestrebte Beförderung blockierten („Wir müssen das Kammergericht reinhalten“), reichte es ,nur‘ zum Leitungsposten in der Provinzhauptstadt Königsberg. Einzelheiten, mit denen Wagner auf eine denkwürdige Wendung von Familiengeschichte aufmerksam macht: Ein Engagement, das der Vater selbst, bei aller Wertschätzung durch seine japanischen Kollegen, als Karriereumweg und malerisches Intermezzo abgehakt haben wird, ermöglicht viereinhalb Jahrzehnte später die Rettung seiner älteren Tochter.
Der Abschnitt zur jüngeren, Dora, handelt über weite Strecken von ihren Schwierigkeiten, Anerkennung als Kunsthistorikerin zu erlangen. 1915, als sich die Studentin für das bei Töchtern ,aus gutem Hause‘ beliebte Fach entscheidet, ist sie bereits im 30. Lebensjahr, der Mann hingegen, in den sie sich verliebt, Erwin Panofsky, sieben Jahre jünger und in der gleichen Disziplin schon promoviert. Dass Dora deutlich unterhalb der akademischen Flugbahn ihres Überfliegers bleiben wird, ist früh absehbar ‒ was die Verfasserin unumwunden hätte aussprechen können. Nach der Heirat und der Geburt zweier Söhne ist an kunsthistorische Studien nicht mehr zu denken. Verschärft wird Doras Problem dadurch, dass sie in der Rolle als Mutter und Hausfrau alles andere als ,aufgeht‘, im Gegenteil Frau Panofsky familiäre und haushälterische Pflichten zuwider sind. Ein von Wagner aus guten Gründen herausgestellter Punkt, berührt er doch über eine individuelle Haltung hinaus eine großbürgerliche Macht der Gewohnheit.
Mit dem Haushalt haben es die Mosse-Frauen nicht so. Wie Schwester Martha (und Cousine Felicia) wuchs Dora „in Verhältnissen auf“, in denen es normal war, „Personal um sich zu haben. eine Kinderfrau, eine Köchin oder Besorgerin“. Damit erklärt sich die Selbstverständlichkeit, mit der die jüngere der Schwestern eine Haushaltshilfe engagiert, Berta Ziegenhagen, und sich bei der älteren deren Partnerin um die Häuslichkeit kümmert. Im Vergleich, zu dem das Buch einlädt ‒ schon deshalb ist es klug angelegt ‒, lässt sich auch das Ausmaß von Doras Unzufriedenheit ermessen. Während Martha ihr Studium abschließt, beruflich schnell reüssiert und in ihrer Beziehung für den Lebensunterhalt aufzukommen vermag, sieht die Jüngere sich trotz der Unterstützung durch Ziegenhagen noch viel zu sehr an die traditionelle Rollenverteilung gekettet.
1926, Erwin ist inzwischen in Hamburg berufen worden, hat Dora dank seiner Beziehung zur Bibliothek Warburg dort immerhin eine indexalische Aufgabe gefunden. Allein, nach zwei Jahren wird sie von ihr entbunden: „Wenn Frau Panofsky ihn [einen künftigen Index] macht, wird er entweder zu ausführlich (dauert dann Jahre) oder zu dünn.“ Was für ein Rückschlag! Interessant an Aby Warburgs wenig schmeichelhaften Worten ist zum einen das „zu ausführlich“ ‒ m. E. ein Zeichen dafür, dass Doras Sachkenntnis respektive Ehrgeiz die ihr zugedachte, reine Hilfsfunktion überbordete. Zum anderen, dass Wagner das Negativurteil als „sachlich nicht gerechtfertigt“ zurückweist, dies jedoch einer ihrer ganz wenigen kritischen Kommentare zur Männerwelt bleibt. Aufs Klagelied von der untergebutterten Frau zu verzichten, findet man als männlicher Leser zwar prinzipiell angenehm. Allerdings will einem scheinen, dass die Autorin mit einem Herrn denn doch zu konziliant umgeht, mit Erwin Panofsky.
Ständig betont sie, er habe Dora an seinen kunstwissenschaftlichen Reisen und Erfahrungen „teilhaben“ lassen. Schön, aber in welchem Ton? Aus Chartres schreibt er 1925:
Heute tust Du mir noch mehr als sonst leid, daß Du nicht mit bist. […] Wenn man sie [die Kathedrale] nicht kennt, sollte man eigentlich nicht von Plastik und Architektur reden. Die Gotik ist hier noch ganz frisch mit einem ganz leichten Hauch von Schüchternheit in der Handhabung des neuen, wunderbaren Systems.
Eine folgenreiche Betrachtung; wie „System“ erkennen lässt, bildete sie den Nukleus jenes Buchs zur gotischen Architektur, das 1951 „System“ durch „Habitus“ ersetzt ‒ den Terminus, den Bourdieu 1967 adaptieren wird, um seinerseits auf den Begriff zu bringen, was einen Künstler „mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet“. Des Theorieimpulses wegen bleibt Panofsky einer meiner Helden, nur legt der Brief auch seine unsympathische Seite offen. Wie instinktlos muss man sein, die Ehefrau erst zu Hause zu lassen und ihr dann auch noch Mitleid zu bekunden, eine Form der Herablassung? Mal ganz abgesehen von der Daueraffäre mit einer Doktorandin, die die Autorin ebenso wenig werten mag.
Mit Glacéhandschuhen behandelt Wagner bisweilen auch Aktivitäten der Protagonistin selbst. Plausibel ist die wiederholt geäußerte Vermutung, dass Dora in Hamburg die ausbleibende Anerkennung ihrer Arbeit zu schaffen macht. Dann wundert man sich aber über ihre Bereitschaft, Aufsätze nicht etwa nur des Gatten abzutippen (das wäre lediglich Selbstausbeutung auf Brecht-Sekretärin-Level), sondern auch die seiner Kollegen, ja selbst die handschriftliche Dissertation eines Panofsky-Schülers (!). War solcherart Dienstbarkeit nicht geeignet, die leidige subalterne Stellung zu zementieren? Der naheliegenden Frage zieht Wagner mit „sie macht sich nützlich“ eine freundliche Beschreibung vor.
Kompositorisch hat die Kritikaskese ihren Sinn. Eine Viktimisierung Doras soll vermieden, dafür eine Selbstbehauptungsgeschichte erzählt werden. Und diese überzeugt letztlich, sehr sogar. Inwiefern?
Zwar geht mit der durch die Rassengesetze der Nazis erzwungenen und durch Erwins Princeton-Kontakte erleichterten Emigration 1933/34 ein Riss durch Doras Lebenswelt, muss sie von der Familie in Berlin, den Freunden in Hamburg Abschied nehmen, zuvorderst von einem heftig, wenn auch nur platonisch verehrten Jungmaler. Auch wird in den ersten US-Jahren, bei allem gemeinsam genossenen materiellen Komfort, das soziale Gefälle zwischen dem Starprofessor und seiner Frau noch steiler. Er erfreut sich der Wertschätzung seiner neuen Kollegen („wahres Paradies“), sie fühlt sich einsam und ausgeschlossen. Den amerikanischen Akademiker-Ehefrauen ist diese Deutsche zu witzig und bissig, äußerlich zu extravagant (Kurzhaarschnitt und Fliege/Schlips), zu großbürgerlich halt. Schon von oben zu kommen, wird zum Nachteil.
Doch gerade auf der Folie der mit der Deplatzierung einhergehenden Probleme kann die Verfasserin Zähigkeit akzentuieren: Beginnend mit einer Sammlung von Pathosformeln nach dem Vorbild von Warburgs Mnemosyne-Atlas, kommt Doras Forschung in Gang ‒ nicht zufällig, als die Söhne aus dem Haus sind, und umso respektabler, als ihr Schaffen zunehmenden körperlichen Beschwerden und Depressionen abgerungen ist. Mit enormer Präzision und Expertise, dank der Illustrationen auch sehr anschaulich, einfach brillant zeichnet Wagner nach, wie eine lange verhinderte Kunsthistorikerin seit ihren späten Fünfzigern aufholt. Wie es ihr in „The Textual Basis of the Utrecht Psalter“ gelingt, „die gravierenden Diskrepanzen in den verschiedenen Illustrationen bestimmter Psalmenverse aufzuzeigen“, sie die Fähigkeit zeigt, „entfernte Texte und Artefakte […] aufeinander zu beziehen“; später der Verknüpfung divergenter mythologischer Figuren (Bacchus, Narziss, Echo) bei Poussin nachgeht. Wie detailliert sie ‒ dies der umfangreichste Aufsatz ‒ die physiognomische und gestisch sichtbare Absonderung der Pierrot/Gilles-Figur verfolgt, sicher auch, weil das bei Watteau so eindrückliche Motiv sozialer Isolation ihr eine Identifikationsmöglichkeit bietet. Und wie sie schließlich, nicht ohne feministischen Einschlag, den Bedeutungswandel des Pandora-Mythos rekonstruiert, zusammen und endlich auf Augenhöhe mit Erwin Panofsky. Im gemeinsamen Buch (1956) wird die intellektuelle Gemeinschaft, die er, so mein Eindruck, vorher lieber beschwor als praktizierte, doch noch Wirklichkeit.
So bescheiden sich ihre Publikationsliste quantitativ ausnimmt, das Porträt von Dora Panofsky-Mosse schärft uns ein, dass sich wissenschaftliche Leistung immer auch an den Widrigkeiten bemisst, die man zu überwinden hat. Eindeutiger die Bilanz der 1912 geborenen Hilde Lachmann-Mosse, die, 1933 in Bonn als jüdische Medizinstudentin exmatrikuliert, 1938 in Basel promoviert, im New Yorker Exil Kinderärztin wird und nach einer Zusatzausbildung Psychiaterin: mehr als hundert Aufsätze, Essays, Statements und Rezensionen, zig Vorträge dazu. Zumal sie neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit im Krankenhaus und ihrer privaten psychoanalytischen Praxis auch noch Zeit findet, sich am sozialen Experiment der Lafargue Clinic zu beteiligen ‒ wie gesagt: eine psychiatrische Einrichtung für die unterversorgte, überwiegend Schwarze Bevölkerung von Harlem ‒, liegen ihre Verdienste auf der Hand.
Ist dem aber so, beginnt Wagners übermäßige Freude am Loben zu stören. „Selbsttätig schon in ihrer Schulzeit“, „tatkräftige Selbstermunterung“, „jugendliche Selbstverpflichtung zu Anteilnahme und Fürsorge“, „stets hilfsbereit“, „mit ihrer Entschlossenheit, ihrer markanten Urteilskraft und ihrem in mancherlei Konflikten bewährten selbstbewussten Handeln“ ‒ das ist ein bisschen üppig und vor allem unnötig. Aus dem reichen Faktenmaterial, das die Autorin zusammengetragen hat, gehen die persönlichen Vorzüge ja zur Genüge hervor.
Im Übrigen wird spätestens durch Hildes Auftritt das weibliche Quartett zum Ensemble mit bezeichnenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden, womit das Konzept des Buchs aufgeht. Die Neigung zur Sozialarbeit, die die Tochter von Hans Lachmann-Mosse, Rudolfs Schwiegersohn und Nachfolger als Verleger, schon in Berlin zeigt, lässt zunächst eine Verbindung zu den Großmüttern erkennen, zu Emilie mit ihren Erziehungs- und Fürsorgeprojekten wie auch zu Hedwig Lachmann, die jahrzehntelang ehrenamtlich im Berliner Jüdischen Krankenhaus mithalf. Da liegt die Kontinuität, lernen wir, die Nachwirkung der Zedaka, der „habituelle Fundus“. Zugleich sorgt Hilde für Diskontinuität, denn sie gehört zu den Bürgerkindern mit linkem Nerv. Für ihren sozialen Impetus liefert sie Ende der 1920 Jahre zwar auch eine (säkularisiert) religiöse Begründung: „Das Judentum sagt: […] den anderen zu helfen, durch Werke, durch Erziehung unserer Kinder […], das ist die eigentliche Unsterblichkeit.“ Überlagert wird es jedoch von einem Programm, das sich in der sozialistischen Jugendhilfe-Organisation der Zugscharen festigt: „[M]ein Leben soll ein Kampf gegen den Egoismus sein.“
Auch wenn die Millionärstochter Sozialismus eher idealistisch als marxistisch versteht und im Grunde nur sozialdemokratisch tickt, reichen die egalitären, vom Wirtschaftsliberalismus der Mosses abweichenden Vorstellungen, den Verlegervater zu ärgern. Im Kontext der Mosse-Frauen fällt indes eine andere Differenz ins Auge. Mit dem politisierten Verständnis von Jugendhilfe positioniert sich Hilde, ohne sich dessen bewusst zu sein, gegenläufig zu Martha. Die Tante zweiten Grades stand zwar auch in der Tradition der Zedaka und war ebenfalls an Jugendfürsorge interessiert, grenzte sich aber, wie Wagner unterstreicht, von der Linken ab. Vom Rechtsanspruch verwahrloster Jugendlicher auf Bildung, den die Dissertation stark machte, versprach sich Martha gerade, dass die Unterprivilegierten nicht ins Lager der Sozialisten und Kommunisten abdriften. Was lehrt der Abstand zwischen linker und konservativer Zedaka-Interpretation? Ein Habitus begünstigt viel und determiniert nichts.
Die relevanteste Gemeinsamkeit im Ensemble zeigt das Buch an den beiden Mosse-Frauen in Amerika. „[V]or allem die Diskriminierung und Aussonderung als Jüdin und die Bewältigung der als Heimatverlust erlebten Exilierung aus Deutschland haben Hilde zweifellos für ihre Arbeit in Harlem sensibilisiert und motiviert.“ Keine Frage, auch das, nicht die egalitäre Verve allein, erklärt ihr gutes Verhältnis zu den Patienten aus der afroamerikanischen Nachbarschaft der Lafargue Clinic wie zu den Schwarzen Studierenden am New Yorker Medical College, wo sie Kinder- und Jugendpsychiatrie lehrte. Ein No-Go war Rassismus auch für Dora, die mit gleichem Erfahrungshintergrund aus Nazi-Deutschland kommende. Zu ihrer wichtigsten Vertrauten und Gesprächspartnerin wurde eine kultivierte Afroamerikanerin mit College-Ausbildung, Emma Epps, ihre neue Haushälterin und später Pflegerin. „Die beiden“, kann Wagner einem Interviewband mit Epps entnehmen,
aßen mittags zusammen in der Küche […]. Und Dora erzählte von Deutschland, dem Antisemitismus und ihrer Vertreibung, wenn Emma ihrerseits von den vielen Benachteiligungen und Diskriminierungen berichtete, die sie in ihrer Jugend erfahren hatte.
Wobei die betreffenden Abschnitte klar machen, wie falsch es wäre, freundliche oder gar Herzensbeziehungen auf so etwas wie ,Opfergemeinschaft‘ zu reduzieren. Eine Respektsperson im Hause Panofsky blieb Epps 34 Jahre lang aus dem gleichen Grund, aus dem Hilde ihren ersten Aufsatz zusammen mit ihrem Schwarzen Lebensgefährten verfasste, dem Dozenten und Projektleiter Clesbie Daniels ‒ wegen einer Mosse-typischen Wertsetzung: Bildung wichtig, Hautfarbe unwichtig, ganz einfach.
Und dann gibt es noch eine Schlusspointe. Unnachgiebig, gegen die herrschende Lehrmeinung, verfocht Hilde in den USA die Position der Sozialpsychiatrie: Individualtherapie greift zu kurz, da auch rassistische Gewalt und Rassentrennung psychische Schädigungen verursachen. Es hat etwas von dunkler Ironie, dass ausgerechnet eine Jüdin mit solchem Profil 1964, wohl aufgrund eines Vortrags in der Schweiz zu missbräuchlichen Schizophrenie-Diagnosen, vom falschen Deutschen zu einer Gastprofessur nach Marburg eingeladen wurde. Von einem Professor für Kinderpsychiatrie, der wie sein Förderer, der den Schizophrenie-Aufsatz abdruckte, schwer belastet war durch seine maßgebliche Beteiligung an rassehygienischen Forschungen der Nazis. Wie Hilde Mosse reagierte, als sie dahinterkam, und was sie von den Nachkriegsdeutschen überhaupt hielt, werde ich Ihnen aber nicht verraten.
Was war die Voraussetzung für diese 400 hoch informativen Seiten? Interesse an eigensinnigen Protagonistinnen und gründliche Recherche natürlich. Aber auch eine Haltung, die nicht-jüdische und nicht-bourgeoise Deutsche, zu denen die Autorin laut Eigenauskunft zählt, leider selten an den Tag legen, wenn es um wohlhabende und/oder erfolgreiche Jüdinnen geht. Elisabeth Wagner schreibt ohne Ressentiment, vor allem deshalb gelingt ihr ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Kulturgeschichte von Rang.
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