Zubeißen, bis die Knochen knacken
In ihrem neuen Roman „Wo Milch und Honig fließen“ nähert sich C Pham Zhang den Abgründen der Gegenwart mit den Mitteln der Kulinarik – und macht sich auf Sinnsuche zwischen Wollhaarmammutbraten und Goldschimpansenschenkel
Von Thomas Jordan
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZwischen dem 5. und dem 9. Dezember 1952 starben in London mehrere tausend Menschen. In der Folge traf es auch das Ruhrgebiet und Städte wie Paris, Peking oder Neu-Delhi. Die Ursache für das massenhafte Sterben war dabei stets die Gleiche: Die Schadstoffkonzentration in der Luft, ausgelöst durch Industrie- und Verkehrsabgase, war so hoch geworden, dass sich ganze Großstädte in Todeszonen verwandelten. Mensch und Tier drohte der Sauerstoff auszugehen. Das Sonnenlicht verschwand, die Sicht wurde trübe. Man japste nach Luft. Wie lebt man inmitten einer solchen Katastrophe? Und: Was macht das mit dem menschlichen Zusammenleben? Diese Fragen bilden die Grundlage für den neuen Roman von Pham C Zhang, in dem die amerikanisch-chinesische Autorin das Szenario weiterspinnt und eine Smogwolke, ausgehend von den USA, den ganzen Erdball verdüstern lässt.
Kalifornien, der amerikanische Garten Eden, verdorrt zur Wüste. Wo einst kilometerlange Obstplantagen wuchsen, hat der lebensfeindliche Nebel den Pflanzen das Sonnenlicht geraubt und Amerika und Ostasien in eine Hungersnot gestürzt. Die namenlose amerikanisch-chinesische Protagonistin strandet als Köchin in einem mittelmäßigen Londoner Restaurant, wo sie sich immer häufiger mit sonnenlichtarm erzeugtem Mungoproteinmehl als Ersatzprodukt behelfen muss. Mit dem Mangel greift auch ein kulinarischer Nativismus um sich, die Abkehr von allem Fremdartigen wird zum Trend: In England heißt es wieder Fish and Chips statt Curry – Nationalgerichte statt Fusion-Food. Getrieben von einem unbezwingbaren Hunger nach frischem Obst und Gemüse bewirbt sie sich als Köchin in einer privaten Forschungsgemeinschaft hoch in den italienischen Alpen. Dort, in einem der letzten noch von Sonnenlicht beschienen Fleckchen Erde, sollen smogresistente Pflanzen gezüchtet und zu außergewöhnlichen Gerichten verarbeitet werden, um so die biologische Vielfalt der Welt zu erhalten.
Vibes wie aus „A Handmaid‘s Tale“
Schnell wird klar: Das spätmoderne Arche-Noah-Szenario ist in Wahrheit eine dystopische Horrorshow. Denn der Preis für die fast schon vergessene Fülle an Delikatessen aus aller Welt ist die totale Unterordnung unter die allgegenwärtige Macht des Forschungsleiters: ‚A-Handmaids-Tale-Vibes‘ machen sich breit, wenn die asiatischstämmige Köchin zur schweigenden Dienerin der Geschäftsinteressen ihres Patrons degradiert wird:
Du wirst heute Abend nicht sprechen. (…) Und du verstehst auch nicht, was gesprochen wird, nicht mal das Englische. Deine Aufgabe ist nur, stumm zu servieren. Und freundlich, betonte er. Wenn es so weit ist, wirst du das Tischgebet leiten.
Kurz flackert in der Begegnung mit Aida, der Tochter des Patrons, und ihrem Projekt, in unterirdischen Berglabors ein neues Ökosystem mit längst ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten zu errichten, Hoffnung auf. Es ist auch ein Dialog zwischen der Generation Z und der Generation Y, wenn die 19-jährige Aida der dreißigjährigen Protagonistin den Grund für ihre Arbeit am perfekten Biom erklärt: Während die Ältere gelähmt ist von all den Diskriminierungserfahrungen in ihrem Leben, ist die Jüngere schon einen Schritt weiter. Eine neue Welt der Biodiversität soll entstehen, als radikale Konsequenz aus dem durch Monokultur-Landwirtschaft beschleunigten Artensterben und der eigenen, lebenslang erfahrenen Ablehnung als Tochter eines reich gewordenen Sinti und einer Asiatin: „Hast du das nicht satt?“ „Was?“ „Dich in Arschlöcher reinzuversetzen, für die du sowieso nie dazugehören wirst.“. Für die Protagonistin, Tochter einer chinesischen Putzfrau aus den Armenvierteln von L.A., bleibt aber auch in dieser schönen neuen Welt nur die Möglichkeit der radikalen Selbstaufgabe, um ihr Überleben zu sichern: Im engen, weißen Seidenkleid muss sie in die Rolle der verstorbenen Ehefrau des Bergpatrons schlüpfen, potenzielle Investoren beeindrucken und ihre eigene Identität für dessen kulinarisches Überwältigungstheater opfern.
Hyperkapitalistische Horrorshow
Immer wieder macht der Roman deutlich, dass es die in Berg und Tal allgegenwärtige Mischung aus Rassismus, Sexismus und sozialer Lage ist, die die Köchin dazu zwingt, sich jedem noch so demütigendem Wunsch ihres Auftraggebers zu beugen. Dem neuen Nationalismus und der nicht nur kulinarischen Fremdenfeindlichkeit in den verdunkelten Jammertälern der ganzen Welt steht eine hyperkapitalistische Horrorshow auf dem globalen Höhenkamm gegenüber. Denn das Ziel hinter dem hochalpinen Land, in dem Milch und Honig fließen, ist nichts anderes als ein brutaler Selektionsmechanismus – Darwin mit den Mitteln der Kulinarik. Aus einer wiederentdeckten, uralten Saatgutdatenbank erwecken Aidas Forscher längst ausgestorbene Tierarten zu neuem Leben, die dann auf den Tellern der Investoren ihres Vaters landen. Nur wer sich überwindet, wer zubeißt bis die Knochen knacken und bis an die Grenzen des Menschlichen geht, hat die Chance auf einen Platz im spätmodernen Neuen Atlantis. Es sind diese Ansätze einer Sinnesanthropologie der Gegenwart, in denen C Pham Zhangs Roman seine stärksten Passagen hat. Etwa wenn die Protagonistin nach dem Auftragen des von ihr zubereiteten, eigentlich längst ausgestorbenen, sibirischen Wollhaarmammuts bemerkt:
Und dann kam der Moment, in dem der Ekel der Gäste sich verwandelte wie rohes Fleisch in der heißen Pfanne, wie roher Fisch, als ihn einst die Reichen, Berühmten, Weißen für sich entdeckten; ich werde diesen Anblick nie vergessen. Abscheu, die umschlägt in Begierde.
Wenn die Beschreibung eines im Ganzen gegrillten Goldschimpansen die Protagonistin mal an ihre Mutter, mal an Kindskörper erinnert, und dazu von fern das Stampfen der Füße zu archaischen Rhythmen erklingt, dann erschließt der Roman die Abgründe der Gegenwartsgesellschaft mit extremen Mitteln. Und spätestens wenn die Investoren im Roman vor der Entscheidung stehen, ob sie ihrem nächsten evolutionären Verwandten einen Unterschenkel abnagen sollen, um sich als die stärkere Art zu erweisen und einen Platz im smoggeschützten Bergidyll zu ergattern, wird klar: Die Katastrophe ist jetzt. Und die Horrorshow sind wir alle.
Leben nach der Zunge
Der Preis für dieses sinnenfreudige Erzählverfahren wird allerdings auch bald klar: So wie die Tische der endlosen Dinner und Grillfeste auf dem Berg unter all den zweifelhaften Delikatessen schwanken, biegt sich auch C Pham Zhangs Sprache (deutsche Übersetzung Eva Regul) unter der Last der Bilder, Symbole und Alliterationen. In einer Art Gastro-Expressionismus wimmelt es dort nur so von Sätzen wie diesen: „Druckkochtöpfe schnaubten schaumige Brühe“ oder „Der Mond leuchtete als reife Blutorange hinter der Glasscheibe, umgeben von den Nadelstichen der Sterne.“ Und wenn die Protagonistin nach ihren 12-Stunden-Tagen in der Großküche den Weg ins Bett der Tochter ihres Chefs findet, schrammt das hart an der Parodie entlang:
Ja zum heißen Messer meiner Hand zwischen glaskalten Schenkeln. Ja zu salzig glattem Prosciutto, zu reifen, berstenden Avocados. Unsere Zähne prallten aufeinander. Ich schmeckte Blut und Schokolade. Ja zu Triefenddicksüßem, zu Sahne, aufsteigendem Schaum, knusperzarter Ohrmuschel und samtweicher Kniekehle, zur sanften, köstlichen Mulde zwischen ihren Beinen.
Auch die Figuren im Roman ächzen schwer unter dieser sprachlichen Überfülle: Sie können kaum tiefere Charakterzüge entwickeln, und bleiben Statisten in einer präzise durchkalkulierten hedonistischen Orgie, die als einzige Möglichkeit des Existierens in einer Welt der unüberwindlichen Enttäuschung ein „Leben nach der Zunge“ propagiert, „treu ergeben einzig einem lebenswerten Jetzt.“ Zusammengehalten wird diese spätmoderne Stammesgesellschaft nur von den Jagdpartien und Grillfesten auf dem Berg. Selten ist sinnlicher vom Weg in den Abgrund erzählt worden.
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