Zeitreise ins mittelalterliche Rheinland
Marion Kemmerzell entführt in „Gestern, im Jahr 634“ auf authentische Weise in die Vergangenheit
Von Johanna Maria Falchi
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMarion Kemmerzell präsentiert mit Gestern, im Jahr 634 einen gut recherchierten und spannend rekonstruierten historischen Roman. Die 1955 in Offenbach am Main geborene Autorin erzählt die Lebensgeschichte der beiden Kinder Grimo und Ermengundis. Diese beruht auf einem Grabfund aus dem Jahr 1992 im Frankfurter Dom und dem bislang ältesten erhaltenen Testament des frühen Mittelalters, dessen Inhalt die Rheinlande berührt. Aus dem Testament des Verduner Diakons Adalgisel-Grimo aus dem Jahr 634 geht großer Landbesitz im Maas-Mosel-Raum hervor, sodass die Frage aufkommt, wer dieser Mann war.
Zwischen der Pest und blutigen Kriegen um die Thronfolge im Jahr 600 fliehen die Geschwister Grimo und Ermengundis im Kindesalter zusammen mit ihrer Tante Oda aus der Stadt Trier. Sie entkommen dem Schwarzen Tod, müssen jedoch ihre sterbende Mutter zurücklassen. Beide Geschwister kommen zur Ausbildung in verschiedene Klöster, sodass sich ihre Wege trennen – über die Jahre laufen ihre Pfade wieder zusammen, um sich erneut zu trennen und nochmals wiederzufinden. Die verschlungenen Lebenswege erzählt Kemmerzell nüchtern und, bedingt durch die Leerstellen und Perspektivwechsel, fesselnd. Besonders interessant ist die Glaubensspaltung der Menschen zwischen Christentum und Heidentum. Denn während die Kirche bereits großen Einfluss hat, glauben viele Menschen noch an die alten Götter und bringen Ihnen Opfer dar. Die Protagonistin Ermengundis erlebt diesen Zwiespalt am eigenen Leib.
Ja, sagt Richilde. – Manche Leute meinen, sagt Richilde, der Tod des kleinen Martin sei ein Opfer für das Wohl der anderen Kinder gewesen. Dass Gott nehmen würde, um zu geben.
Gott ist kein Krämer. – Oder? – Und Säuglingsblut, verzeih mir, das trinken nur der Baal oder Herodes. – Als ich zu lieben beschlossen habe, geschah das ohne Gott. Und wenn ich mich bemühe, ganz ehrlich zu dir und auch zu mir zu sein: dann eher gegen ihn. Vielleicht ist meine Angst vor allzu großem Glück daher auch obsolet: weil ich schon verloren bin.
Obwohl sie selbst eine Frau Gottes geworden ist, fühlt sich Ermengundis Leben nicht erfüllt an. Diese überraschend schwermütige Phase ihres Lebens wird auf einem abgelegenen Hof kuriert. Die heidnische Pächterin rettet nicht nur Ermengundis Leben und später das ihres Kindes, mit Kräutern und Ritualen unterstützt sie die Sinnfindung der Gottesfrau.
Der Erzählstil ist nüchtern, direkt und klar; Kemmerzell drängt sich dem Leser nicht auf und lässt ihn mit seinen Gedanken allein. Der personale Erzähler gibt keine expliziten Kommentare oder Wertungen ab. Die Erzählstimme versetzt durch die leicht altertümlich anmutende Sprache und die ausschweifenden Natur- und Landschaftsbeschreibungen in die Szene hinein. Dadurch fühlt sich der Leser der Schönheit der Natur und der Welt wirklich nahe. „Der Baum steht auf einer Anhöhe vor zerklüftetem Gestein, ein Bach schlappt entlang einer Wiese, die voller Buschwindröschen und Schlüsselblumen in der schon tiefen Sonne liegt. Der Schatten der Eiche zeigt nach Osten.“ Direkt im Gegensatz dazu werden die Grausamkeit und Rohheit des Mittelalters gesetzt; Tod, Mord und Krankheit werden ungeschönt und detailliert in Szene gesetzt. Diese Gegensätze schaffen eine dreidimensionale Beschreibung des Geschehens und lösen Schwermut und Trostlosigkeit aus. Richilde schildert ihrer Freundin Ermengundis von der Nacht, in welcher Theuderichs Heer über die Männer Merowechs bei Orleans siegte. Als Resultat ziehen die Sieger plündernd, vergewaltigend und mordend durch die Straßen. Die Hilflosigkeit gegenüber der Boshaftigkeit anderer Menschen geht beim Lesen nahe – einige Passagen sind nichts für schwache Nerven.
Auch wenn durch die Umstände und Geschehnisse Nähe zu den Figuren entsteht, wird der Leser doch immer ein Stück weit auf Distanz gehalten. Das liegt am Erzählstil; Kemmerzell lässt erzählen, beinahe nie ist der Leser wirklich dabei, wenn etwas geschieht. Die Perspektive wechselt immer zwischen den Geschwistern und die Erzählung erfolgt größtenteils linear, mit eingestreuten Blicken in die Zukunft; einen Überblick verschafft die Autorin hierbei durch Nennung von Ort und Jahreszahl an jedem Kapitelbeginn. Die Darstellung von historischen Hintergründen ist teils etwas langatmig. Ein Kommentar am Ende des Buches hilft, geschichtliche und geographische Ereignisse einzuordnen. Ein Herrscherstammbaum, eine Liste der realen historischen Personen sowie ein Begriffsglossar füllen Wissenslücken und bilden eine Gedankenstütze für die vielen heutzutage ungewöhnlich klingenden Namen. Als gute Ergänzung wäre noch eine historische Karte des Rheinlandes denkbar, um die Pfade der Protagonisten besser nachvollziehen zu können.
Kemmerzell gelingt das Kunststück, den Leser auf eine Zeitreise zu entführen. Sie erzählt nicht von heutigen Menschen, die sie ins Mittelalter versetzt, sondern lässt den Leser an Geschichten des Lebens von Männern, Frauen und Kindern vor mehr als 1500 Jahren teilhaben. Dabei wird klar, dass die Menschen im Mittelalter sich nicht wesentlich von uns unterschieden haben – dass sie schon immer mit Ängsten, Zweifeln und geistlichen Krisen zu tun hatten. Dies geschieht faktisch so real, dass das Buch sich nicht wie ein einfacher Roman liest. Vielmehr ist das Buch eine imaginierte Zeitreise. Der Roman ist nicht nur historisch fundiert, sondern auch überaus spannend geschrieben. Für Geschichts- und Mittelalterinteressierte hervorragend geeignet.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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