Am Anfang stand eine Maus

Das Walt Disney Filmarchiv öffnet seine Pforten

Von Isabelle MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabelle Mensel und Patrick MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Mensel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Name Disney übt magische Faszination aus – seit bald 100 Jahren, in jeder Generation aufs Neue. Er steht für Kreativität ebenso wie für das Streben nach technischer Perfektion und schier grenzenlosem Einfallsreichtum. The Walt Disney Company ist nicht nur weltbekannt, sondern auch weltumspannend. Ihre Anfänge waren indes mehr als bescheiden. Am Beginn standen zwei Brüder in einem winzigen Büro im Hinterhaus eines Geschäftes in Los Angeles. Sie zahlten zehn Dollar Monatsmiete, mieteten zudem ein kleines Gelände für Außenaufnahmen und erwarben für 200 Dollar eine Kamera. Das war Ende 1923 die Geburtsstunde des ersten Zeichentrickstudios in Kalifornien, wie Walt Disney später gern hervorhob.

Walt Disney und sein Bruder Roy stammten aus Chicago (Illinois) und wuchsen in einfachen Verhältnissen auf. Walt entdeckte schon als kleiner Junge sein Talent im Bereich der Unterhaltung und des Zeichnens: Er liebte Verkleidungen, unterhielt seine Umgebung und zeichnete für sein Leben gern. Die von ihm gemalten Daumenkinos können als seine ersten Animationen gelten: simple Zeichnungen, die beim Umblättern einen bewegten Eindruck erweckten. Er wurde freier Werbezeichner und arbeitete zu Beginn der 1920er-Jahre für die Kansas City Film Ad. Daneben entwarf er erste Zeichentrickfilme in seinem ersten Studio, der Laugh-O-gram Films Inc. Sein hochgestecktes Ziel war es, aus Cartoons, die bis dahin lediglich als Lückenfüller im Kino zwischen den Hauptfilmen dienten, echte Filme zu machen, die in den ganzen USA zu sehen sein sollten. Sein erstes Studio ging Konkurs, doch Walt ließ sich nicht davon beirren und ging 1923 nach Los Angeles, wo er mit seinem Bruder und Geschäftspartner Roy in der Kingswell Avenue 4651 das Disney Brothers Cartoon Studio gründete. Roy betrachtete seinen Bruder „als echtes Genie – kreativ, mit enormer Entschlossenheit, Fokussiertheit und Energie“. Er kam schnell zu der Überzeugung, dass nur einer von ihnen für das Studio stehen sollte, und so führte die Firma ab diesem Zeitpunkt den Namen Walt Disney Studio.

In Kansas hatte Walt den Pilotfilm Alice’s Wonderland produziert; er handelte kurz danach eine Vertriebsvereinbarung aus, die ihm erlaubte, Alice-Komödien zu gestalten. Es entstand eine Serie kurzer Stummfilme, die ein reales Mädchen vor der Kulisse einer Zeichentrickwelt in Szene setzten. Walt verantwortete die Bilder und führte außerdem Regie beim Dreh der Realszenen. Ende Dezember 1923 wurde nach Weihnachten die erste neue Komödie mit dem Titel Alice’s Day at Sea vollendet. Ub Iwerks, ein Trickfilmzeichner aus Kansas City, stieß zum Disney Studio dazu. Er brachte ein beachtliches Talent mit und so gab Walt im Sommer 1924 das Zeichnen auf. Er hatte erkannt, dass er – zur Verbesserung der Qualität seiner Filme und um sein Studio zu großem Erfolg zu führen – auf Künstler setzen musste, die seine Leistungen übertrafen.

Zwei Jahre später bestellten die Universal Pictures über Disneys Vertriebsmann Charles Mintz eine neue Zeichentrickserie. Hauptfigur sollte ein Hase sein. Disney präsentierte Mintz̕ Zeichnungen einer Figur, die er Oswald, der lustige Hase getauft hatte. Oswald erfreute sich schnell an Beliebtheit und diente auch als Vorlage für erste Fanartikel aus dem Hause Disney. Derart beflügelt forderte Walt Disney mehr Geld zur Verbesserung der Tricktechnik und Handlung. Ein Treffen mit seinem Vertriebsmann in New York stellte sich indes als herbe Enttäuschung heraus: Mintz hatte Disneys sämtliche Zeichner abgeworben; außerdem musste Disney erfahren, dass die Rechte an Oswald bei Universal Studios lagen und nicht bei ihm. Walt Disney lehnte eine Vereinbarung ab und kehrte seinem Vertriebsmann und auch der Figur Oswald den Rücken.

Auf der Rückfahrt nach Los Angeles erschuf er im Zug eine neue Figur, die zum Emblem der Marke werden sollte: eine kleine, quirlige Maus mit großen, runden Ohren. Sie sollte Mortimer heißen. Walts Frau gefiel der Name nicht und sie taufte die Maus kurzerhand in Micky um. Walt Disney berichtete Ub Iwerks von seiner neuen Idee. Dieser ging sofort ans Werk und 1928 wurde der erste Micky-Maus-Film Crazy Plane vorgestellt, den Iwerks ganz ohne Hilfe animiert hatte. Micky trat in der Rolle des wagemutigen Piloten Charles Lindbergh auf. Doch kein Filmvertrieb war bereit, sich für diese unbekannte Maus eines unabhängigen Produzenten aus dem Fenster zu lehnen. Walt ließ sich davon nicht entmutigen; er glaubte an seine Figur und produzierte entschlossen einen zweiten Micky-Stummfilm, Der galoppierende Gaucho, den dasselbe Schicksal ereilte wie sein Vorgänger. Der Tonfilm entwickelte sich und Walt schuf einen dritten Micky-Zeichentrick mit dem Titel Steamboat Willie, der Toneffekte und Musik nutzte, um Mickys Verrücktheiten als Steuermann in Szene zu setzen. Die Betreiber der New Yorker Filmtheater, denen Walt den Cartoon präsentierte, verkannten das Potenzial des Films. Allein der Geschäftsführer des Colony Theatre versprach, ihn vorzuführen – und dies mit einem Riesenerfolg: Film und Maus wurden von heute auf morgen zum Hit. Damit war eine Legende geboren. Alle weiteren Micky-Cartoons spielten sensationelle Ergebnisse ein, das Publikum konnte nicht genug bekommen von der sympathischen Maus und ihren Freunden. In künstlerischer und technischer Hinsicht setzten die Micky-Zeichentrickfilm Maßstäbe: Sie schlugen andere Zeichentrickfilme um Längen. Micky Mouse entwickelte sich zum weltweiten Star, der bis heute für die Disney Company steht und wohl ihre bekannteste und beliebteste Figur ist. Walt Disney wurde später gern mit folgendem Satz zitiert: „Ich hoffe, dass wir eines nie vergessen – alles begann mit einer Maus.“

Mit Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 19211968 bringt der Taschen Verlag einen Schatz aus der von Disney geschaffenen einzigartigen Trickfilmindustrie in Buchform heraus. Das 620-seitige, im Groß-Folio-Format erschienene Werk wiegt schwer, sowohl im realen als auch übertragenen Sinne. In 31 Kapiteln werden die Anfänge von den Laugh-O-Grams bis zum Dschungelbuch behandelt. Analytische Betrachtungen wechseln einander mit Zitaten von Größen aus der Film- und Disneygeschichte ab. Ein Schwerpunkt liegt naturgemäß auf der Darstellung der visuellen Entwicklung der Cartoons, die detailliert nachvollzogen werden kann. Die Entstehungsgeschichte so bekannter Klassiker wie Silly Symphony, Schneewittchen oder Pinocchio lässt sich hautnah mitverfolgen, so reichhaltig ist das Material aus zum Teil unveröffentlichten Entwürfen, fertigen Zeichnungen, Fotos, Filmausschnitten, Plakaten, transkribierten Dialogen aus den Storykonferenzen und natürlich den Beiträgen der 13 Autoren, allesamt ausgewiesene Film- beziehungsweise Disneyexperten, Wissenschaftler, Journalisten, Disney-Angestellte. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Mitwirkung von Dave Smith, dem mittlerweile emeritierten leitenden Archivar der Walt Disney Company, der über 40 Jahre lang das Archiv des Studios führte und als Disney-Legende gilt. Die Kreativität und Faszination der Disney-Künstler und -mitarbeiter wird überall greifbar.

Das gesamte Werk ist auf Englisch verfasst. Die deutsche Übersetzung wurde in einem gesonderten Heft beigefügt, das auf Bildmaterial verzichtet. Wer noch kein Fan sein sollte – hier kann man es werden.

Titelbild

John Lasseter / Russell Merritt / Charles Solomon / Robin Allan / Didier Ghez / J. B. Kaufman / Katja Lüthge / Brian Sibley: Das Walt Disney Filmarchiv. Die Animationsfilme 1921–1968.
Taschen Verlag, Köln 2016.
620 Seiten, 150,00 EUR.
ISBN-13: 9783836552899

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