Die Anatomie des Sozialen

SoziologInnen lassen sich von Georg Simmel inspirieren und errichten ihm ein weiteres Denkmal

Von Maurizio BachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maurizio Bach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georg Simmels Soziologie ist Denken wie mit dem Skalpell. Die Gesellschaft wird von ihm seziert, ihre Anatomie bis in die letzten Fasern und Nervenzellen freigelegt, schonungslos, unvoreingenommen. Er dringt dabei tief in das soziale Menschennetzwerk ein, lässt die Objekte und die ihnen eigene Dynamik in virtuoser Beschreibung selbst sprechen, spürt noch die letzten Antriebe, Emotionen und Tönungen des sozialen Handelns auf, um zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens vorzudringen.

Was Simmel aus dem Kreis der Gründungsväter der Soziologie besonders heraushebt, ist sein unersättliche Neugierde für die gesellschaftlichen Erscheinungen in ihre ganzen Fülle und Nuancierungsvielfalt. Dabei interessiert er sich vor allem für ihre jeweilige Bezogenheit auf die „Ganzheit des Lebens“, für deren „Wirkungen auf die innere Welt: auf das Lebensgefühl der Individuen, auf die Verkettung ihrer Schicksale, auf die allgemeine Kultur“, wie er es selbst einmal ausdrückte. Daher Simmels so einzigartiger, quasi chirurgischer Blick für die Grundformen und Grundspannungen der menschlichen Existenz, für die überindividuellen Lebensmächte, deren Prägungen und Einflüssen wir als Gesellschaftswesen so unentrinnbar unterworfen sind. Ob die Liebe oder die Weiblichkeit, die Lüge oder das Geheimnis, die Koketterie oder die Armut, der Tausch oder das Geld, der Tod oder die Religion, der Schmuck oder das Briefeschreiben – kaum eine der großen und kleinen Ausdrucksformen der menschlichen Existenz, die Simmel nicht mit Akribie, Scharfsinn und Methode zu entschlüsseln versucht hätte. Simmel wollte nichts weniger als die Philosophie als empirische Menschen- und Lebenswissenschaft grundlegend erneuern. Was dabei herauskam, war Soziologie, seine ganz spezielle Soziologie, die angesiedelt ist an den Schnittstellen von Anthropologie, Psychologie, Philosophie, Ästhetik und Ökonomie. Simmels Denken wurde bald stilbildend für Generationen von Soziologinnen und Soziologen weltweit. Keines anderen Klassikers Schriften sind besser geeignet, um dem besonderen Reiz und Charme des unverfälschten, ursprünglichen soziologischen Denkens nachzuspüren, als diejenigen Simmels.

Der von Rüdiger Lautmann und Hanns Wienold herausgegebene Sammelband Georg Simmel und das Leben der Gegenwart will einmal mehr Bilanz ziehen, nach mehr als drei Jahrzehnten Forschung zum deutschen Gründungsvater der Soziologie. Der Band präsentiert sich als ein Dokument des Dankes: Gedankt werden soll in erster Linie Simmel für sein großartiges Werk und dessen unermessliche Inspirationskraft, hundert Jahre nach seinem Tode im Jahre 1917. Gewürdigt werden soll aber gleichzeitig auch Otthein Rammstedt, der in mehr als dreißigjähriger, mühevoller redaktioneller Arbeit die Georg-Simmel-Gesamtausgabe (Suhrkamp Verlag Berlin) möglich gemacht hat. Der letzte, der vierundzwanzigste Band ist exakt in dem Jahr erschienen, in dem der Herausgeber seinen achtzigsten Geburtstag feierte.

Dennoch handelt es sich dabei – zum Glück für Verlag und Leser! – nicht um eine der üblichen Festschriften für in die Jahre gekommene Professorinnen und Professoren. Das Konzept dieses Bandes ist ambitioniert und schlüssig: Die Aufgabe für die beitragenden Autoren, überwiegend einschlägig ausgewiesene Experten aus dem deutschen Sprachraum, bestand darin, Einzelthemen aus Simmels Werk jeweils mit Gegenwartsproblemen oder -forschungen auf vergleichbaren Gebieten zu konfrontieren. Das riecht nach Tautologie, denn Klassiker sind ja nur deshalb und nur solange Klassiker, wie sie aufgrund ihrer Themen, Methoden, Konzepte und Einsichten Aktualität besitzen – andernfalls wären sie schlicht tote Autoren. Jener Herausforderung bei Simmel zu entsprechen, ist freilich nicht schwierig, zählt er doch zu jenen Denkern der vorletzten Jahrhundertwende, „welche die Diversität, Komplexität und Unentscheidbarkeit des […] Modernismus fassbar machte[n]“ (Ralph Leck). Das versetzte ihn in die Lage, die Tendenzen der modernen Gesellschaft und Kultur klarer und schärfer zu erkennen als die meisten seiner Zeitgenossen.

Die Art von Soziologie, die uns bei Simmel begegnet, so die Herausgeber treffend, ist eben „kein System, keine Formeln, nicht Geschlossenes. Wir werden nicht über die Ordnung und Statik der Gesellschaft informiert, sondern über Spannungen und Brüche. Das Fragmentarische, Unfertige, Fließende, das Simmel an der Welt seiner Gegenwart wahrnimmt, prägt auch die eigene Gedankenführung.“ Simmels Auseinandersetzung mit der Moderne wies bereits über sich selbst hinaus. Indem er in der Radikalität seines Denkens das postmoderne Lebensgefühl vorwegnahm, steht er uns heute tatsächlich näher als jeder andere Soziologe seiner Zeit.

Dass Simmel in diesem Sinne ein eminenter Gegenwartsautor ist, bedarf somit keiner forcierten Argumentationsakrobatik, wie sie häufig in der hagiographischen Literatur über längst verstorbene Soziologen zu finden ist. Das wird auch bei fast allen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes mehr oder weniger plastisch fassbar. Ein außerordentlich breites Spektrum von Simmels gesellschaftstheoretischen Paradigmen findet sich entfaltet. Um hier nur einige der Themen zu nennen: Geld, Großstadt, Armut, Konflikt, Tausch, Sexualität und Erotik, Prostitution, Geheimnis und Lüge, Religion, Individualisierung, Krieg. Bereits deren meist erstmalige Thematisierung durch Simmel spricht für ihn als Vordenker und Visionär, ganz zu schweigen von der damit verbundenen und bahnbrechenden Hinwendung zur Mikroanalyse von Alltags-, Beziehungs-, Empfindungs- und Körperlichkeitsdimensionen – Themen und Probleme, die heute zum Grundkanon soziologischen Denkens gehören.

Frappierend ist Simmels intellektuelle Pionierarbeit auf dem Gebiet der Liebe, Erotik, Ehe, kurz: der Geschlechterbeziehungen, um hier nur einen Gegenstandsbereich herauszugreifen. Ohne Frage, Simmel hat als erster in der Soziologie die Geschlechterfrage aufgeworfen. Kein Zufall daher, dass ein gutes Viertel der Aufsätze in dem Sammelband diesem von Tabuisierungen und Ambiguitäten, Grenzüberschreitungen und Pikanterie bestimmten Komplex gewidmet ist, so viel wie keinem anderen Sachthema. Aus Sicht der heutigen Genderforschung betrachtet, bietet Simmel zahlreiche theoretisch-konzeptionelle Ankerpunkte für eine produktive Weiterentwicklung, insbesondere der Geschlechter- und Paarsoziologie. Selbst wo Simmel, der persönlich die Frauen liebte und auch gerne ein idealisiertes Bild vom „Wesen der Frau“ zeichnete, dem dekonstruierenden Impetus des aktuellen Genderdiskurses nicht zu entsprechen vermag, erweist er sich doch immer wieder als ein zentraler Referenzautor für die Geschlechterforschung.

Der heutigen Genderdebatte bietet Simmel zahlreiche Andockstellen. Zu teilweise überraschenden Einsichten gelangen zum Beispiel Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann, die mit zwei lesenswerten Beiträgen (Geschlechterverhältnis und Sexismus; Das Leben im Erotischen und Sexuellen) im Band vertreten sind. So heben sie beispielsweise die Paradoxie der ungewollten, impliziten Perpetuierung von binären Geschlechtercodierungen gerade im Zusammenhang der Skandalisierung (und strafrechtlichen Verfolgung) von sexualisierter Gewalt hervor. Hierbei würden „die Frauen auf die Rolle des absoluten Opfers festgelegt“ und der „Normalmann zum Gefährder“ stilisiert. Aufschlussreich sind aber auch die feinsinnigen Ausführungen des genannten Autorenpaares etwa zu den Gefahren, die besonders für Kreative von den „erotischen Mächten“ drohten (siehe Goethes Verhältnis zu den Frauen). Oder zur spannungsreichen Dialektik von Individualisierung und Ent-Individualisierung etwa im Zusammenhang des Phänomens der „Neosexualitäten“. Dieses lasse „das Gegenüber zum bloßen Repräsentanten des Geschlechts werden“.

Simmel war wohl auch der erste, der über eine Soziologe der Ehe nachdachte, der bürgerlichen Partnerschafts- und Rechtsinstitution. Dessen Erkenntnisse über Liebe und Ehe klug mit Erwin Goffmans Interaktionstheorie verknüpfend, nimmt Karl Lenz die „rituelle Ordnung“ in Paarbeziehungen in den Blick. Wie Simmel bemerkt, tendieren Ehen dazu „in eine reizlos banale Gewöhnung, in eine Selbstverständlichkeit, die keinen Raum für Überraschungen hat“ zu verfallen. Hier seien rituelle „Wirklichkeitskonstruktionen“, die eine gesunde Balance zwischen Distanz und Diskretion auf der einen Seite, Nähe und Intimität auf der anderen aufrechterhalten enorm wichtig. Aber „auch bei Konflikten ist die rituelle Ordnung eines Paares von hoher Relevanz, da diese festlegt, welche Konfliktmittel eingesetzt werden können bzw. welche ausgeschlossen sind, auch welches persönliche Wissen in der Hauptphase [des Streits, M.B.] genutzt werden kann, um den anderen zu verletzen“.

Die mehr als zwanzig Beiträge des Bandes, allesamt grundsolide und fundierte fachwissenschaftliche Studien, atmen überwiegend den zuweilen trockenen Geist des akademischen Seminars. Daher eignen sie sich zweifellos bestens für soziologische Einführungsveranstaltungen. Wer indes die eruptive Denkkraft Simmels, des großen Anatomen des Sozialen, auf sich wirken lassen möchte, der greife am besten zu den Quellen selbst, etwa zur „Philosophie des Geldes“ oder zu seiner „Soziologie“. Als Leitfaden und Interpretationshilfe mag dann auch der hier besprochene Sammelband dienlich sein.

Titelbild

Rüdiger Lautmann / Hanns Wienold (Hg.): Georg Simmel und das Leben in der Gegenwart.
Springer Fachmedien, Wiesbaden 2018.
451 Seiten, 54,99 EUR.
ISBN-13: 9783658214265

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch