Mäandernd zwischen Sprachspiel und Sinnsuche
Rainer Strobelts „An Deutschland“ bündelt 30 Jahre poetische Erkundung von Sprache und Sinn
Von Jens Liebich
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRainer Strobelt hat sich in den letzten Jahren vornehmlich durch seine Sprach- und Kunstfigur „Strittig“ zu Wort gemeldet, die in mittlerweile drei Büchlein lyrischer Miniatur-Prosa unsere Sprache unter die Lupe und dabei nicht selten auf die Schippe nimmt. Den Duktus stets fern vom Spott, zollt Strobelt in all seinen Versen der Sprache wertschätzende Anerkennung.
Nun liegt mit An Deutschland. Gedichte aus dreißig Jahren eine Jubiläumsausgabe vor, die ausgewählte und mitunter leicht abgewandelte Texte aus nicht weniger als neun Lyrikbänden versammelt, die zwischen 1994 und 2021 erschienen sind. Die Gedichtauswahl ordnet sich weder thematischen noch formalen Aspekten unter – es wäre bei Rainer Strobelt auch verwunderlich –, sondern spiegelt in chronologischer Reihung die Genese der Strobeltschen Lyrik wider. Das sonnengelbe und mit nur wenigen grünlichen und rötlichen Pinselstrichen und Farbtupfern verzierte Buchcover, welches ein Aquarell des Autors zeigt, mag bereits als Visualisierung der bunt-minimalistischen Vielfalt im Innern zu verstehen sein. Auffällig ist der Titel der Neuerscheinung: An Deutschland – dabei sei, so der Autor in seiner Vorbemerkung, diese Thematik keine explizit gewählte, sondern eine für einen deutschen Autor sich einstellende. Man könnte wohl auch sagen eine ‚unvermeidliche‘, denn der sozio-kulturelle Hintergrund des Autors, seine Sozialisation, seine Erfahrungen, seine Perspektiven auf Land und Leute färben stets auf seine Sprache ab – doch selten auffallend deckend im Vordergrund, meist als Grundierung.
Der Titel kann folglich als Widmung gelesen werden, wohl aber auch als Ansprache für Worte, die der Autor an sein Heimatland und dessen Leserschaft richten möchte – ob sich diese darin wiedererkennt bzw. einen Deutschlandbezug herzustellen vermag, bleibt dem jeweiligen Augenpaar überlassen. Das erste Gedicht des Büchleins macht es den Leser:innen leicht und schließt nahtlos an den Titel der Jubiläumsausgabe an.
deutsch
der trübsinn ist indes ein sinn
die heiterkeit dagegen keiner
bin ich deswegen sinnend trüb
herrscht trüber sinn in meinen adern vor
so ist das mehr als alle keit
und sei sie noch so heiter
Es gibt im Büchlein noch wesentlich kürzere Gedichte, doch allen ist gemein, dass ihr formaler Minimalismus eine semantische Dehnung begünstigt, da der korsettartige Kontext besonders locker geknüpft ist. Der Titel „deutsch“ lässt überdies offen, ob hier etwas ‚typisch Deutschem‘ nachgegangen oder die deutsche Sprache zum Reflexionsgegenstand gemacht wird – es spricht auch nichts dagegen, dass beides zugleich geschieht. Und so spielerisch die Gedichte stets erscheinen, lohnt sich die Zeit, sich auf ihre jeweiligen Spielregeln einzulassen, wenn man sie denn erkennt, und den Blick über ihren Bedeutungshorizont schweifen zu lassen. Dem Trübsinn einen Sinn zuzuschreiben, legt das Kompositum nahe, ist aber neben dem Sprachspiel zugleich ein interessantes Gedankenspiel, über das man sinnieren kann. Dass dem Trübsinn etwas Tieferes und Bedeutenderes innewohnt als der Heiterkeit und er mehr zur Reflexion über die Gründe anregt als jene, erscheint als durchaus plausibel. So gelesen ist das Sprachspiel der Auftakt für eine melancholische, aber nicht pessimistische Sicht auf die Komplexität menschlicher Emotionen. Brächte man übrigens noch die Trübsinn ins Spiel, ein altes Schweizer Maß für alkoholische Getränke, wäre schnell die flüssige Brücke vom Trübsinn zur Heiterkeit geschlagen.
Ein Deutschlandbezug scheint sich beim Gedicht „hänsel und gretel“ geradezu aufzudrängen, doch da es bereits 1994 entstanden ist, mag aus dem Deutschlandbezug im Jahr 2024 ein globaler Zeitbezug geworden sein. Unter den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm zählt „Hänsel und Gretel“ zu den bekanntesten und beliebtesten, wenngleich ihre Geschichte nicht dramatischer beginnen könnte: Sie werden von ihren Eltern im Wald ausgesetzt, da sich diese das Essen für die Kinder nicht mehr leisten können. So stellvertretend ihr Schicksal für viele Kinder aus armen Familien der Frühen Neuzeit stehen mag, so können auch Strobelts Figuren als Repräsentanten einer weltweit immer größer werdenden Migrationsbewegung gelesen werden.
hänsel und gretel
da glück nicht reisen mag
auf ebnen straßen
sind wir seit langem schon
aus unsrem lande unterwegs
doch all die wandrer
aus dem innern ferner länder
die weisen uns vielleicht
den weg nach haus
Dass Glück nur mit Anstrengungen zu erreichen ist, ist freilich noch nicht der originelle Gedanke, es ist hier lediglich die Motivation zum Aufbruch und Grund der langen und weiten Reise. Interessant ist jedoch, dass die Wanderer aus den fernen Ländern vielleicht uns, die wir unsere Heimat nicht verlassen mussten, den Weg nach Hause weisen mögen. Es ist naheliegend, das Zuhause nicht zu einem bloßen Ort zu degradieren, sondern vielleicht als ein mental-emotionales Wohlbefinden zu begreifen – ,sich zu Hause fühlen‘ ist keine Leistung allein der altvertrauten vier Wände (deren Standort wir im Regelfall ohne Hilfe finden), sondern ein psycho-soziales Konstrukt, für das wir die Gemeinschaft brauchen. Das Gedicht verbindet auf geschickte Weise Märchenelemente mit existenziellen Themen und kann als eine nachdenklich stimmende Reflexion über die menschliche Suche nach Glück und Heimat gelesen werden.
Das der visuellen Poesie zuzuordnende Gedicht „nein“ aus dem Jahr 2009 setzt die Thematik ,Bewegung‘ auf besonders minimalistische und zugleich äußerst anschauliche Weise um:
nein
b
e
w
e
g
u
n
g
mussdasdennwirklichsein
mussdasdennsein
mussdassein
Der Titel ist deutlicher Ausdruck einer Ablehnung bzw. eines Widerstands oder einer Verweigerung – doch was aus welchem Grund abgelehnt wird, erfährt die Leserschaft (noch) nicht. Die über die Buchseite verstreuten Buchstaben des Wortes „bewegung“ zwingen beim Lesen merklich zu einer solchen, um das Wort wieder zusammenzusetzen. Wie bei dem zuvor erwähnten Gedicht sind es nicht die ebenen Straßen, die zum Ziel führen, es sind Anstrengungen – und Anstrengungen sind letztlich Bewegungen, egal ob physisch oder psychisch. Auch ohne Satzzeichen wird aufgrund der Verbstellung deutlich, dass es sich bei den letzten drei Versen um Entscheidungsfragen handelt – sie sind also nur mit ja oder nein zu beantworten. Möglicherweise ist das titelgebende „nein“ die Antwort auf die Frage, ob das denn wirklich sein müsse. Aber was? Vielleicht das Zerstreuen der Buchstaben über die Seite, womit die Wortbedeutung visualisiert wird? Die letzten drei Verse scheinen zudem eine sich steigernde Intensität auszudrücken, schließlich werden sie immer dringlicher. Während der erste Vers noch eine tatsächliche Notwendigkeit hinterfragt („wirklich“), ist es beim zweiten eine allgemeine und beim dritten wird sie, reduziert auf das Wesentliche, zur Existenzfrage – zumindest für das sprachspielerisch verteilte Wort „bewegung“ geht es tatsächlich um Sein oder Nichtsein. Und welch klaustrophobische Enge und Anspannung ohne den Freiraum der Bewegung bleibt, sieht man eindrucksvoll an den letzten drei Versen, bei denen es nicht mal mehr für ein Leerzeichen zwischen den Worten reicht. Liest man nun das sich auf die letzte Frage reimende „nein“ als Antwort, geht der Blick wieder nach oben, womit die Bewegung im Kreis vollendet wird und aufs Neue beginnen kann.
Diese Interpretation mag den einen plausibel erscheinen, andere versetzen jetzt womöglich ihren Kopf in eine wiederkehrende Ost-West-Bewegung; doch letztlich sind Zustimmung und Ablehnung nur Symptome einer inhaltlichen Auseinandersetzung. Und was könnte Literatur mehr für sich beanspruchen wollen? So werden auch die Leser und Leserinnen der Gedichte mal schmunzeln, mal sinnieren, mal die Stirn in Falten legen – und vielleicht beim Wiederlesen desselben Gedichts den Gesichtsausdruck wechseln. Auch eine Form der Bewegung.
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