Von fernen Ländern und geheimen Wesen

Andrea Moltzen untersucht das Neugier-Potenzial des literarischen Textes in der erzählenden Literatur des Mittelalters

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Curiositas ist überall – zumindest in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die Erkundung der Welt steht im Zeichen der Neugier. Die Literatur greift diesen Aspekt der Auseinandersetzung mit dem Neuen auf und öffnet die Welt für den Leser, der selbst meist auf einen äußerst kleinen Lebensradius beschränkt ist. In vielen Einzeluntersuchungen wurde die Bedeutung der curiositas für unterschiedliche Figurenmodelle und Erzählmuster herausgearbeitet. Die verschiedenen Konnotationen des schillernden Begriffs mit einer langen theologischen Tradition machen einen Vergleich von Einzelanalysen recht schwer. Mal tendiert die Bedeutung mehr zur positiven Wissbegier, mal mehr zum verwerflichen Fürwitz, und in der Regel ist die Bedeutung der curiositas vom Kontext abhängig, in dem der Begriff verwendet wird. Eine Überblicksdarstellung zu diesem methodisch recht anspruchsvollen Thema liegt bislang noch nicht vor. Diese Leerstelle möchte Andrea Moltzen mit ihrer Dissertationsschrift schließen, indem sie die Verwendung des curiositas-Motivs in unterschiedlichen Erzählstoffen vom 12. bis 16. Jahrhundert vergleichend analysiert.

Ausgangspunkt für die Untersuchung sind Neugierobjekte. In Abhängigkeit vom Gegenstand der curiositas unterscheidet Moltzen zwei unterschiedliche Formen. Die horizontale curiositas ist auf Innerweltliches gerichtet. In ihrer forschenden Ausprägung strebt sie nach Erkenntnis und versucht Weltwissen zu kategorisieren. Die konsumorientierte horizontale curiositas ist im Gegensatz dazu dadurch gekennzeichnet, dass der Neugierige sich von Sensation zu Sensation treiben lässt. Die vertikale curiositas hingegen hat ein anderes Neugierobjekt. Sie versucht in Räume und Wissensgebiete vorzudringen, die überirdisch sind, also dem überweltlichen, übersinnlichen oder göttlichen Seinsbereich zugeordnet werden. Dabei kann die vertikale curiositas sowohl in übernatürlichen Praktiken als auch im Neugierobjekt selbst gesehen werden. Sie ist nicht grundsätzlich verwerflich, denn das Interesse für übernatürliche Räume kann auch aus der Sorge um das eigene Seelenheil oder aus Neugier auf die Werke Gottes heraus erklärt werden. Dann ist curiositas durchaus als gottgefällig denkbar. Widergöttliche curiositas richtet sich hingegen explizit auf Räume wie den Himmel, die Gott den Menschen nicht zugänglich gemacht hat.

Die Analyse dieser beiden curiositas-Konzepte strukturiert die Untersuchung, in deren Zentrum der zweimalige Durchgang durch die Texte steht. Wird im ersten Teil die Bedeutung der horizontalen curiositas untersucht, so wird im zweiten Teil das gleiche Textkorpus auf die Darstellung der vertikalen curiositas hin befragt. Das Korpus besteht einerseits aus traditionellen Erzählstoffen. Es werden die Alexander-Sage, die Herzog-Ernst-Erzählung und die Brabant-Sage in den Blick genommen. Gegenübergestellt werden diesen konventionalisierten Stoffen mit dem Fortunatus und dem Faust-Stoff zwei Prosaromane des 16. Jahrhunderts. In den analytischen Kapiteln werden sowohl der curiositas-Gehalt der Handlung, ihrer Figuren und Objekte als auch der rezeptionsästhetische curiositas-Gehalt, also der Reiz der Lektüre für den Leser, in den Blick genommen.

Der Teil zur horizontalen curiositas, der das Motiv der Reise und die Kategorisierung der Reisenden in den Fokus rückt, wartet mit einigen interessanten Beobachtungen zum Verhältnis von Neugier und Reise in der mittelalterlichen Literatur auf. Da Andrea Moltzen die Ausgestaltung des Motivs in Abhängigkeit von der Stofftradition untersucht, kann sie die Ambivalenz des Reisemotivs und minimale Verschiebungen in der Textintention überzeugend belegen. Dabei zeigt sich auch, dass die konventionellen Stoffe wesentlich innovativer sind als die Prosaromane, die in ihrer Darstellung der konsumierenden horizontalen curiositas einem mittelalterlichen Denken verhaftet sind.

Dennoch kann der Aufbau der Arbeit nicht überzeugen. Das liegt nicht nur daran, dass horizontale und vertikale curiositas nicht zwangsläufig zu trennen sind. So zeigt sich zum Beispiel beim Besuch des Fortunatus in der sogenannten Fegefeuerhöhle, dass es weder dem Autor noch der Figur um eine transzendente Erforschung des Jenseits geht, sondern dass die horizontale curiositas der Figur, die von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit reist, im Fokus steht. Bestätigt wird diese These dadurch, dass die Figuren, die sich hoffnungslos in der Höhle verirrt haben, von einem alten Mann befreit werden, der die Höhle vermessen hat und sie daher nach draußen führen kann. Untersucht die Verfasserin diese Szene ausführlich im Kontext der vertikalen curiositas, so gehört sie aufgrund der eindeutigen Textsignale eindeutig in den ersten Teil der Untersuchung.

Mit der Konzentration auf in der Forschung diskutierte Begriffe der horizontalen und vertikalen curiositas schließt die Verfasserin an ein christliches Weltbild an und verortet die curiositas im theologischen Kontext. Damit vergibt sie die Chance, die im einführenden Kapitel nachgezeichnete Öffnung des facettenreichen Konzepts für die literarhistorische Forschung fruchtbar zu machen. Die grundsätzliche Frage, was untersucht wird, wenn curiositas in erzählender Dichtung in den Blick genommen wird, umgeht die Verfasserin. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass Moltzen einige wichtige aktuelle Positionen der mediävistischen Forschung nicht berücksichtigt, obwohl hier Neugier wiederholt zum Gegenstand wurde. So hat Martin Baisch auf die Bedeutung von Neugier und Spannung für eine mediävistische Narratologie hingewiesen und aufgezeigt, dass sowohl produktions- wie rezeptionsästhetische Neugier eine zentrale Rolle für das Verständnis der Texte spielen. Jutta Eming hat unter anderem an dem ebenfalls von Moltzen untersuchten Herzog Ernst aufgezeigt, dass Neugier als Emotion in mittelalterlichen Texten mit anderen Emotionen eng verbunden ist. Dabei spielt weniger die von Moltzen in den Fokus gestellte Gewinnung von (naturwissenschaftlichem) Wissen eine Rolle, als die anthropologische Perspektive auf den Menschen und seinen Gefühlshaushalt. Marina Münkler hat in der Untersuchung Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts die zentralen Semantiken für die Beschreibung problematischer Identität analysiert. Das Zusammenspiel von curiositas und Melancholie ist zentrales Thema der Faustbücher. Ihr Verhältnis lässt Rückschlüsse auf das Menschenbild der Frühen Neuzeit und die Entstehung von Identitätskonzepten zu. Gerade die Untersuchung Münklers, die sich der Transformation des Fauststoffes widmet, hätte wichtige Anregungen für die vergleichende Analyse verschiedener Textfassungen des Alexander-Stoffes, des Herzog Ernst oder der Brabant-Legende liefern können. Dass Moltzen diese aktuellen Forschungstendenzen ignoriert und lediglich auf der thematisch-motivgeschichtlichen Ebene curiositas in den Blick nimmt, irritiert. Auch bei ihrer Textauswahl fällt wiederholt auf, dass Neugier auf der Ebene der Nebenfiguren meist ein entscheidendes Figurenmerkmal ist, in der Gestaltung der Hauptfiguren aber keine Funktion hat. Diese Neugierigen zweiter Ordnung werden aber nicht näher in den Blick genommen. Damit wird die Chance vergeben, vom Rand des Textes Rückschlüsse auf den curiositas-Diskurs zu ziehen.

Neben den Haupt- und Nebenfiguren geht Andrea Moltzen von einer dritten Gruppe Neugieriger aus, den Lesern. Sie fragt immer wieder nach der Wirkung, die fiktive Texte auf die Leser haben. Damit möchte sie dem curiositas-Potenzial der Texte auf die Schliche kommen und Aussagen über die Lese- und Vorlesevorlieben im untersuchten Zeitraum treffen. Der Zugriff auf die Texte, der damit entschuldigt wird, dass es keine empirischen Daten zu Leseerfahrungen im Mittelalter gibt, irritiert dann aber doch. So wird im letzten Kapitel zur Historia von D. Johann Fausten nicht nur die enorme Beliebtheit des Stoffes aufgrund der vielen Neu- und Nachdrucke der Historia hervorgehoben, wenig später wird dem Leser, der an diesem Stoff gefallen findet, eine „widergöttliche vertikale curiositas“ attestiert, da er sich für die magischen Praktiken der Figuren Faust und Wagner interessiere. Auch wenn die Leser am Übergang zur Neuzeit noch nicht präzise zwischen fiktiven und faktualen Stoffen unterscheiden konnten, schießt die Autorin doch über das Ziel hinaus. Ob ein Prosaroman, der so explizit und unter Berufung auf aktuell diskutierte, theologische Modelle die Kritik an seiner Figur ausstellt, missverstanden werden kann, sei dahin gestellt. Dass Lektüre immer auch die Lust am Verbotenen bedient, bedeutet aber nicht, dass die Leser nicht zur moralischen Wertung in der Lage sind.

Kann man die Entwicklung des curiositas-Motivs in der Literatur in Texten untersuchen, in denen Neugier kein Thema ist? Mit dieser Überlegung sieht sich der Leser bei der Lektüre der Dissertation von Andrea Moltzen wiederholt konfrontiert, denn in beiden Teilen des Bandes stellt die Verfasserin mehrfach ihr eigenes Forschungsdesign in Frage. Ab und an gerät dabei das Neugierobjekt selbst aus dem Blick. So durchleuchtet sie nicht die vertikale curiositas in verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst, sondern untersucht die Episoden darauf hin, ob darin übernatürliche Räume gestaltet sind. Mehrfach kommt sie zu dem Ergebnis, dass es der Textintention nicht gerecht würde, die narrativ entfalteten Räume als übernatürliche Räume zu identifizieren. Damit stellt sich die Frage, ob sich die curiositas der Figur auf übernatürliche Räume richtet, nicht. Vielmehr liefert der zweite Teil eine Analyse von Schwellenräumen und fiktiven Grenzgebieten, die die Neugier des Lesers wecken, weil sie Grenzphänomene des menschlichen Daseins beschreiben, dabei aber der selbst gestellten Fragestellung nach der vertikalen curiositas nicht gerecht werden.

Ähnlich problematisch erweist sich die Setzung, dass curiose Protagonisten Reisende sind. Nicht jeder Reisende ist zugleich durch das Figurenmerkmal Neugier charakterisiert. Oft sind die Reisen durch politische Interessen oder den Dienst an Gott motiviert und Neugier spielt eine untergeordnete Rolle. Mehr oder weniger zufällig sind die Protagonisten in den Texten mit standardisierten mittelalterlichen Erzählstoffen wie dem Wunder des Orients und monstra konfrontiert. Da diese aber nur in den wenigsten Fällen bewusst aufgesucht werden, muss die Verfasserin immer wieder konstatieren, dass die Reisenden nicht von Neugier getrieben sind. Ein zentraler Beitrag zum curiositas-Diskurs des ausgehenden Mittelalters sieht anders aus.

Wer curiositas untersucht, kommt auch im Jahr 2016 offensichtlich nicht an Hans Blumenbergs Untersuchung zum Prozeß der theoretischen Neugier aus dem Jahr 1978 vorbei. Obwohl Blumenbergs teleologischer Ansatz mehrfach kritisch in Frage gestellt wurde, arbeiten sich viele Untersuchungen noch immer an ihm ab. Dies ist vor allem für die Literaturwissenschaft erstaunlich, hat doch Hans Holländer 1989 in seinem Aufsatz Alexander: Hybris und Curiositas darauf verwiesen, dass es in Blumenbergs Untersuchung eine Leerstelle gibt, die gerade für Philologen von zentraler Bedeutung ist: Die populären Varianten der Neugier bilden einen wesentlich bunteren Teppich mit ornamentalen Kurvaturen aus als die theoretische oder auch die praktische Neugier. Obwohl Moltzen sich diesen populären Varianten in unterschiedlichen Erzählstoffen der mittelalterlichen Literatur zuwendet, gelingt es ihr – trotz gegenteiliger Aussagen in der Einleitung – nicht, sich vom Konzept der theoretischen Neugier und damit von Blumenbergs Ansatz zu lösen. Zwar sucht die Verfasserin nicht explizit nach Spuren der theoretischen Neugier in den literarischen Texten, sondern arbeitet sich an dem durch die forschende Neugier verabschiedeten theologischen curiositas-Konzept ab, wenn sie die Unterscheidung von horizontaler und vertikaler curiositas in das Zentrum ihrer Untersuchung stellt. Dennoch rückt so, gewissermaßen durch die Hintertüre die theoretische Neugier ins Zentrum der Untersuchung, ist sie doch das positive Ideal, dem die neugierigen Reisenden folgen sollen. Anstatt also dem zielgerichteten Forschungsdrang ein methodisches Modell für das allgemeinere und alltägliche Wissenwollen entgegenzuhalten, stellt Moltzen ihre Untersuchung in die Tradition der von der Forschung bereits als unzulänglich beschriebenen curiositas-Diskussion.

Andrea Moltzen widmet sich in ihrer Dissertationsschrift einem bislang zu wenig beachteten literarischen Diskurs. Trotz der Schwächen in ihrem theoretischen Ansatz sind die vergleichenden Lektüren zur Entwicklung von Erzählstoffen im ausgehenden Mittelalter spannend zu lesen. Dabei gerät die Spezifik der curiositas leider zu sehr aus dem Blick. Die Dissertationsschrift ist daher eher eine weitere Fußnote auf dem Weg zu einer Geschichte der Neugier in der Literatur. Die Untersuchung, die diese Leerstelle füllen kann, muss noch geschrieben werden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andrea Moltzen: Curiositas. Studien zu „Alexander“, „Herzog Ernst“, „Brandan“, „Fortunatus“, „Historia von D. Johann Fausten“ und „Wagnerbuch“.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2016.
332 Seiten, 99,80 EUR.
ISBN-13: 9783830090762

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