Sei, was Du bist
Christian Kortmanns Gedichte in „Als ließen die Dinge noch mit sich reden“ bieten Coaching vital
Von Jörn Münkner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFrüher im Literaturunterricht bekamen Klassen manchmal einen unbekannten Text vorgesetzt, dessen ausgeblendete Verfasserin oder Verfasser sie ermitteln sollten. Meistens wurden Stücke aus dem Kanon gewählt, weil sie in ihrer Unverwechselbarkeit identifizierbar seien. Das stimmt, es hat oft funktioniert, es gibt tatsächlich so etwas wie einen idiosynkratischen Stil beziehungsweise den typischen Sound. Christian Kortmann, bislang durch zwei Romane bekannt, tritt mit dem vorliegenden Band jetzt auch als Lyriker auf den Plan. Wer sein erstes Buch Einhandsegeln (2021) gelesen und die reflektierte Großspurigkeit des Alleinseglers noch im Ohr hat, der mag gleich beim ersten Gedicht denken: wow, das klingt wie Kortmann. OVERSIZE vollzieht unverkrampft eine Selbstbestimmung im Hier und Jetzt und beschwört eine Existenz, die sich nicht begrenzt und größer als gewöhnlich ist:
Weit musst du das Leben tragen,
damit nichts beengt – dein Naturell
soll an keine Grenze ragen:
Dieser Stoff fällt am besten in XL.
Während andere nach Passung fragen,
ist Formsprengung dein Maßentwurf.
Rascheln, Knistern, Luft in allen Lagen:
Folgst du dem eignen Faltenwurf?
Mit ‚du‘ im Zwiegespräch, im Ich-Modus Auskunft gebend oder sich über ein ‚ihr‘ mitteilend, so steht derjenige, der das Sagen hat, im lyrische Rampenlicht. Durch untergründige Linien miteinander verbunden, geht es in vielen Gedichten um Selbstprüfung und Selbstachtsamkeit. Letztere meint keine Yoga-Resilienz, die vor Überforderung in der kapitalistischen Dauermobilmachung schützen soll, sondern den persönlichen Charakter. Dessen Qualität bemisst sich daran, ob man sich treu bleibt, und zwar als Individualist, der auf sich selbst zählt. Nachdem der Absender in BRIEF AN EINE JÜNGERE lakonisch den „eignen Faltenwurf“ erläutert hat, gibt er seiner Adressatin einen Rat:
Du fragst mich, was ich jetzt mache.
Das weiß ich auch noch nicht.
Ich habe ja kalt gekündigt,
aus innerer Notwendigkeit.
Nichts in Aussicht, wie man so sagt,
aber einiges im Hinterkopf.
Natürlich weiß ich, was ich jetzt mache.
Dasselbe wie immer, ich sitze
am Schreibtisch und schreibe.
[…]
Und Du? Musst einfach anfangen, auch wenn es
jeden Tag nur ein bisschen ist. Nicht erwarten,
dass es Spaß macht. Großraumbüro, Streber-
schule, genieße das, was erspart bleibt. […]
Handeln, ohne groß an Sicherheiten zu denken, und keine angepasste Massentauglichkeit – das ist zentrales Anliegen, das immer wieder zu Wort kommt. Nicht anmaßend, sondern empathisch gibt die Sprechinstanz, die für eine unversicherte Existenz bereits den nötigen Mut besitzt und dennoch zuspruchsbedürftig geblieben ist, vor zu erkennen, wo sich Menschen ausbremsen und nicht werden, was sie sind. In STAIRWAY TO HEAVEN kontrastiert die Selbstverwirklichung eines Talents den Mangel an Entschlossenheit, der Menschen unvollendet lässt:
Im Publikum die Staunenden,
Bewundernden, Genießenden und
die, die lächelnd sich erinnern,
wie sie nie wurden, was sie waren.
Charakterfestigkeit verlangt Charakterbildung. Wer sich nicht von den Karriere- und Sicherheitsversprechen unserer Zeit korrumpieren lässt, ist auf dem rechten Weg. In WINDROSE lautet das Resümee:
Egal wohin es dich treibt
- Eroberungsdrang? Gewissensadel? -,
was zwischen all den Dornen bleibt,
ist deine innere Kompassnadel.
Ganz Kortmann, so möchte man meinen, bestätigen die Hymne auf Selbstvertrauen, Wagemut und Beharrlichkeit unkonventionelle Zeitgenossen. Zu ihnen gehört John McEnroe, Tennisstar der 1980er Jahre, der bereits in Einhandsegeln als kompromissloser Alleinkämpfer aufgerufen wurde. Seine offensive Art zu spielen und seine unverstellte, geradezu dickköpfige Impulsivität auf dem Platz dienen auch hier dazu, eine bevorzugte Lebensart zu veranschaulichen:
JOHN MCENROE
Spanne die Saiten nicht zu hart,
19 Kilogramm längs, 17 quer;
wenn die Welt auf dich zukommt,
halte einfach den Schläger hin und
gib ihr ihre Energie zurück.
Die Kombination aus Selbsterfahrung, Selbstbefragung und Orientierungsangebot verdichtet sich im Akt kreativen Schreibens, der aufs engste mit Lebenssinn korreliert. Wurde schon in BRIEF AN EINE JÜNGERE deutlich, welchen Stellenwert das eigene Schreiben als alltägliche Beschäftigung besitzt, verstärkt sich dieser Fokus weiter. Persönliche Schreibpraxis stelle die Welt erst her: „die Welt […] macht genau die Differenz des voll geschriebenen Tagebuchs minus des leeren aus.“ (DIE TINTENWAAGE, S. 6) Die mehrfache Betonung kreativer Schreibarbeit suggeriert ein intensives Selbstverständnis des Autors als Wortarbeiter. Lyrisches Engagement kann Versäumnisse wettmachen und geradezu lebensrettend wirken:
NOVEMBERPASTICHE
Im steten Fallen rilker Blätter
scheinen meine Tage überreif.
Dazu Windgesang, nein, -geschmetter:
I told you, boy, that’s life!
Vom Chanson d’Automne benommen –
Everest nicht erklommen,
nie nobel durch Stockholm geschwommen –
weht mein Herz: Was soll jetzt noch kommen?
So trüb-konturlos in der Dunkelheit
stehe ich hienieden
und seh’ mich auch bald fallbereit.
Da fange ich ein Blatt – unbeschrieben.
Hingegen beschließt FEUERTAUFE die Nabelschau mit einer ironischen Note. Wenn das Sprecher-Ich glaubte, seine Dichtkunst sei essentiell, zumal in gekonnter Nachahmung eines Erich Kästner, dann ent-täuschen ihn die Reaktionen seiner robusten Angehörigen:
„Ich habe ein Gedicht geschrieben“,
das sei es, was er trieb zur Stunde,
und schickte seinen Lieben
gebundene Rede in die Runde.
Doch die eine hatte gar keine Zeit,
dem andern waren Reime fremde Wesen,
ach, die meisten waren Lektüre leid
und die Letzte konnte seine Schrift nicht lesen.
So grämte er sich, Seher ohne Sendung,
bis an einem kalten Tag er erkannte,
dass manches Manuskript Vollendung
dann erst fand, wenn lichterloh es brannte.
Das Autodafé erlöst den „Seher ohne Sendung“. Ob die partielle Zerstörung neue Kunst hervorbringt oder ob das Verbrennen nur für thermische Behaglichkeit sorgt – wer weiß. Jedenfalls erfolgt wiederholt der Appell, sich auf den Weg zu machen, sich aus Verhältnissen und Umständen zu lösen, die begrenzen und die Entfaltung behindern:
Ich habe gegessen und wär jetzt bereit,
meine Tasche zu nehmen, aufzubrechen,
weiter in Richtung Offenheit.
Tage, an, Momente, in denen wir
genau das tun würden,
wenn wir schon losgeeist wären.
Aber aufbrechen von hier?
Ob nüchtern oder leger, frei oder streng getaktet, die ernsthafte Selbstvermessung und der Weckruf zum wahrhaften Leben gebiert auch humoristische und andere Pendants. Bei 107 Gedichten am Stück gefällt diese Abwechslung gut. So formuliert DREITEILER eine Hommage an das, was sich als gelassene Selbstgenügsamkeit fassen lässt:
Ein mittelalter, nein, alter Mann,
mit Regenschirm und Chewing Gum,
spaziert beschwingt den Hügel hinab,
Im Steilen, wo die Schulter der Rad-
fahrer sich aufwärts wiegen und runter
rasen, schwingt den Stock offenen Munds er.
Sie wollten, er bestaunte ihre Tour.
Er streicht der Weste Raute, er kaut nur.
Miniaturen mit Tendenz zur konkreten Poesie wirken, als sublimiere ein Wohlerzogener seinen Frust in talentiertes Wort-Form-Spiel.
TRIPTYCHON
Machtlos
gegen
all those.
Und das Versduett NACHDENKEN ÜBER MENSCHEN regt mit einer Paradoxie produktiv an:
Manche Aphorismen sind wirklich präzise nur dann,
wenn sie nicht ausgesprochen werden.
Kortmann erteilt Existenzabsicherung und Karriereehrgeiz im kapitalistischen System eine Absage. Die lyrischen Aussagen sind sicher nicht unreflektiert mit dem gleichzusetzen, was die empirische Person namens Kortmann denkt. Der Erlebensgehalt der Gedichte, zusammen mit dem authentisch wirkenden und wie die Gedichte autobiografisch angereicherten Roman Einhandsegeln verleiten aber dazu, Kortmann persönlich für den Sprecher zu halten. So verlockend dieses Mutmaßen, so müßig ist es. Literatur kann vieles, u.a. kann sie Therapiestunde sein, in ihr lässt sich stellvertretend ausagieren, was Autor und Autorin beschäftigt und die Möglichkeit des je eigenen Lebens ist. Die Romane und Details der Biografie von Kortmann vor Augen, beginnt nichtsdestotrotz der Gleichsetzungsirrwitz von Autor und seinem empirischen alter ego, über die sich der Privatmensch Christian Kortmann augenzwinkernd amüsieren dürfte. Sei’s drum, wenn die Deklamation in GEDICHT FÜR MICH SELBST Kortmanns persönliche Sicht auf die Dinge wiedergibt, dann kann man ihm nur Respekt zollen:
Gedanken, Fundstücke, Ideen,
am besten alles
zu Gedichten werden lassen,
die am schwierigsten zu publizierende Form wählen,
um mir über Chancen keine Gedanken mehr machen zu müssen.
Und welche Dinge sind gemeint, mit denen sich nicht mehr richtig reden lässt? Keine Objekte wie Füllfederhalter, Mischbatterien oder Tintenwaagen, die sicher nicht. Die Gedichte wollen die Oberflächen von konkreten Dingen nicht durchbrechen, sie nehmen sie, wie sie sind. Die sich dem Austausch verweigernden Dinge sind die zeitgenössischen Umstände. Kortmann unternimmt lyrisch Selbst- und Fremdtherapie, ein vitales Coaching für die Lebensaufgabe des beharrlichen bei-sich-Seins und Bleibens. Mit den Anspielungen auf die Schreibpraxis öffnen die Texte auch einen Spalt breit die Tür in den Raum, in dem der Autor mit poetischer Gestimmtheit zum Seher-Mahner wird. Das gelingt ihm ziemlich eindrucksvoll.
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