Preisen will ich die großen Männer?

Armin Nassehi schreibt eine „Kritik der großen Geste“ und plädiert für eine Politik der kleinen Schritte

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gesellschaften verändern sich ständig und stetig, soweit so gut. Gelegentlich aber geraten sie unter einen besonders starken Veränderungsdruck: Sei es, weil sich die Rahmenbedingungen für das bis dahin gewohnte gesellschaftliche Leben grundlegend geändert haben – zumindest in der Sicht der Zeitgenossen – oder weil die Probleme, mit denen Gesellschaften konfrontiert werden, zu groß werden, um weiter hingenommen zu werden. Dazu kann etwa die ungleiche Verteilung von Macht und Reichtum gehören, der Missbrauch von Macht oder etwa der Verfall der staatlichen Souveränität. Auch ein Überfall, ein verlorener Krieg oder der technologische Wandel können zu massiven Veränderungen führen. Der Aufstieg der sogenannten Social Media in den letzten 20 Jahren zur zentralen gesellschaftlichen Kommunikationsplattform führt nicht zuletzt dazu, dass öffentliche Kommunikation und das Aushandeln angemessenen politischen Handelns heute anders funktionieren als in Zeiten, in denen noch Zeitungen und Fernsehen die einzigen relevanten Plattformen politischer Kommunikation waren – neben den Stammtischen wohlgemerkt, deren Einfluss man wohl nicht unterschätzen darf.

Eine Nebenwirkung solcher gesellschaftlichen Krisen sind Diskurse, in denen entschiedenes Handeln gefordert wird, bis hin zu jener disruptiven Politik, die derzeit das Kennzeichen der neuen US-amerikanischen Regierung – nach innen und nach außen – zu sein scheint. Soll heißen, statt einer Politik kleiner Schritte, die die Zumutungen für die Betroffenen so klein, die Effekte aber so groß wie möglich macht, wird ein Kampagnenkurs eingeschlagen, in dem Veränderungen unmittelbar und mit dem Gestus von Wirkungsmacht anvisiert werden. Statt etwa einen Verwaltungsapparat, unter Berücksichtigung der Interessen und Rechte abzubauen, die dabei berührt werden, wird der Apparat von einen auf den anderen Moment zur Disposition gestellt.

Ein solches Vorgehen nähert sich dem Charakter frühneuzeitlicher Kampagnenfürsten, denen mehr an der Durchsetzung ihres Machtanspruchs lag, als an der Lebensfähigkeit der Gesellschaften, die sie sich zu unterwerfen beabsichtigten. Aber auch dieser Ansatz ließ sich nicht ewig durchhalten, wie ja auch der Anspruch an direkte demokratische Systeme für das Dauerengagement der Beteiligten eine höchst unangenehme Überforderung darstellt.

Dazu haben historiografische und soziologische Forschungen einiges beizutragen, was gelegentlich den Ruch des Akademischen nicht ablegen kann. Nun muss man dem Münchener Soziologen Armin Nassehi zugestehen, dass er sich seit Jahren mit überaus reflektierten Beiträgen an öffentlichen Debatten beteiligt: Zuletzt mit einem Beitrag, in dem er dem derzeitigen CDU-Vorsitzenden anlässlich der im Dezember 2024 initiierten Abstimmungen zur Migrationspolitik – die nach Ansicht der CDU alternativlos gewesen seien – in Erinnerung rief, dass der Kompromiss der politischen Struktur der Demokratie eingeschrieben sei.

Berücksichtigt man Nassehis Publikationen ist er immer noch gediegener Soziologe, zugleich aber wortreicher Diskutant im öffentlichen Getriebe. Was eben auch diese kleine, ja, Kampfschrift auszeichnet, die er jetzt im Verlag C. H. Beck vorgelegt hat.

Nassehi versucht in dieser Abhandlung nichts weniger als eine theoretische Fundierung der Politik kleiner Schritte und der Abweisung der entschiedenen Gesten, der starken Symbol- bis hin zur Identitätspolitik, die einen Kompromiss oder auch nur eine Annäherung an das Mögliche von vorneherein abweist. Wenn alles anders werden muss, dann müssen Opfer gebracht werden, bis denn wieder alles so auf dem anvisierten besseren Niveau eingerichtet ist. Das mag dann eine gerechte Gesellschaft sein oder eine prosperierende Wirtschaft oder eine Gesellschaft, in der alle kleinen Leute gehört werden und die Eliten endlich einmal abserviert worden sind. Das ist alles egal. Die große Geste sorgt dafür, dass endlich etwas passiert, dass die verkrusteten Verhältnisse aufgesprengt werden, dass endlich alles so wird, wie es sein soll. Und das ist dann unabhängig davon, ob ein solcher Idealstaat als Utopie von links oder rechts vorgestellt wird.

Wie eine solche Einheitsgesellschaft, die nach einem Gusto geformt ist, in einer vielstimmigen und vielfältigen, ja eben auch komplexen modernen Gesellschaft funktionieren soll, interessiert in der großen Geste niemanden. Dass eine Leitkultur übertünchen muss, dass sich selbst Gruppen, die ihr nahestehen sollten, nicht mit ihr identifizieren wollen und können, muss ein solcher Gestus ignorieren. Dass eine egalitäre Gesellschaft keine Gleichheit schafft, sondern andere Machtgefälle, ebenso. Dass eine Abschaffung von Bürokratie nicht zur Befreiung führt, sondern zur unkontrollierten Herrschaft von Oligarchien, wie auch eine direkte demokratische Struktur, die die persönliche Teilnahme voraussetzt, neue Brüche bei der Beteiligung von Gruppen und Personen am demokratischen Prozess generiert, gerät in der großen Geste aus dem Blick. Was im übrigen Nassehis Ansatz stärkt, dass wir eigentlich nicht von „der“ Gesellschaft reden können, weil sie in zahlreiche Separatteile zerfällt, die jeweils ihren eigenen Anspruch auf Wahrnehmung erheben können, bis hin zum jeweiligen Individuum.

Nassehi verweist hingegen darauf, dass in einer derart zugleich komplexen wie kleinteilig organisierten Gesellschaft wie der modernen, ein einheitliches, alles nivellierendes System nichts verloren hat und der Wunsch nach einer kollektiven Form ebenso verloren ist wie der Wunsch nach einem starken Mann (muss wohl ein Mann sein), der den fruchtlosen Debatten der westlichen Schwatzbuden endlich ein Ende setzt – gern gegeben durch das obligatorische Machtwort. Wir erinnern uns? Da ist der Schritt zu jenem, der zugleich Ausdruck des Volkswillens ist, nicht weit. Wie kann man auf den Gedanken kommen, dass ein einzelner das Richtige tun wird, wenn er nicht kontrolliert werden kann und sich keiner Diskussion aussetzen muss (und darf, das macht nämlich schlauer).

Auch macht Nassehi den Ansatz stark, dass die Umsetzung weit gesetzter Ziele, die teils grundlegende strukturelle Änderungen bedingen, nur über eine langfristige, in viele kleine Teilschritte übersetzte Politik möglich ist. Die große Geste, das disruptive Agieren, die Revolution von rechts oder links – sie alle haben den Nachteil, dass sie mehr zerstören, als sie zu errichten ankündigen. Was wir derzeit live erleben können.

Nassehi plädiert mithin für ein – wenn man so will – traditionell „sozialdemokratisches“, eher kein konservatives Verfahren, das dann später (auf einen sehr eigentümlichen Teil der Außenpolitik bezogen) „Wandel durch Annäherung“ genannt wurde und auf jeden Fall einen langen Atem braucht, immer in Gefahr ist, sich – ein wenig salopp formuliert – korrumpieren zu lassen, und zwischenzeitlich auch aus den Augen verliert, unter welchen Bedingungen seine Verfechter angetreten sind. Und nebenbei die grundsätzliche Kritik radikalerer Kräfte von der einen wie der anderen Seite aushalten muss. Konservativ ist ein solcher Ansatz im Übrigen sicher, weil er keine Überforderung seines Klientels zulassen will. Bleibt freilich zu fragen, ob Konservative überhaupt Veränderung konzedieren, bevor sie dazu gezwungen sind. Und ob sie sich damit nicht unter der Hand zu Sozialdemokraten wandeln, was der vormals Regierenden ja stets nachgesagt worden ist.

Ob sich Gesellschaften nun diesen langen Atem gönnen, ist wiederum eine politische Frage. Diese ist  auch aufgrund des Umstands, dass hier eine Entität angesprochen wird, die eigentlich keine ist, schwierig zu beantworten ist. Derzeit sieht es nicht danach aus, was für viel Unruhe sorgt und weiter sorgen wird. Nun kann man sagen, das mit der deutschen Einheit habe halbwegs geklappt und auch der Brexit sei einigermaßen über die Bühne gegangen. Trump, Musk und ihre europäischen Nachahmer werden dann wohl auch nicht so viel Schaden anrichten. Aber dafür gibt es eben keine wirkliche Garantie. Oder anders: Preisen will ich die großen Männer? Never ever.

Titelbild

Armin Nassehi: Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken.
Verlag C.H.Beck, München 2024.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783406823220

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