Die Wirklichkeit als Ersatz
Zum neunzigsten Geburtstag des Schriftstellers Jürgen Ploog
Von Lutz Hagestedt
„Abstürze sind, was anderen Enttäuschungen bedeuten“, schreibt Jürgen Ploog (geboren am 9. Januar 1935 in München; gestorben am 19. Mai 2020 in Frankfurt am Main) in seiner Erzählung Verschwinden. Wohin? (1993). In ihrem Erscheinungsjahr wandte sich der Berufspilot endgültig und vollends der Schriftstellerei zu. Von Abstürzen hatte er bereits erzählt, als er noch Langstrecken flog – eine riskante Angelegenheit für jemanden, der für die Lufthansa im Cockpit sitzt. Denn hier waren Selbstverlusterfahrungen im Leben gemeint, Abstürze in Droge und Alkohol. Ausfallerscheinungen, die man besser verheimlichte, wenn man Urlauber und Geschäftsreisende sicher über den Atlantik bringen sollte.
„Nach jedem Absturz ein neuer Text“, heißt es in Ploogs Erzählung weiter, als könne nicht die Wirklichkeit für Bodenhaftung sorgen, sondern nur der Rettungsschirm der Fiktion. Die Suchterfahrung galt ihm als „Ersatz für die Wirklichkeit“, das „magische Denken“ als Möglichkeit, die „zivilisatorischen Wirren“ in „beschwörende Bilder“ zu bannen. Freilich, der Filmriss als Metapher wirkt heute, im Zeitalter digitaler Medien, etwas aus der Zeit gefallen. Nicht jedoch, wenn man damit ausdrücken möchte, dass man zuviel oder zuwenig Dope konsumiert hat, dass man die öde Wirklichkeit fliehen will oder muss: „Irgendwohin, nur weg von hier.“
Kein Ort, nirgends. In einem Werkstattgespräch zitiert der Autor Alexander Mitscherlichs berühmten Buchtitel Die Unwirtlichkeit unserer Städte von 1965, einen Mega- und Steady-Seller der edition suhrkamp. Wenige Zeilen später wird daraus, ob absichtlich oder nicht, die „Unwirklichkeit“ unserer Städte. Beides passt, wenn man aus der gutbürgerlichen Defizienzerfahrung „Reihenhaus“ stammt, wie beispielsweise Ploogs Schriftstellerfreund Jörg Fauser, oder wenn man die Metropolen der Welt als unstetes Zuhause erfährt: „Gerade komme ich von einem Flug nach Indien zurück. Gibt es mich? frage ich.“
Die Sondierungen, die Ploog einmal als „Autofiktion“ bezeichnet, erinnern stark an die Betrachtungen über Fleck und Linie, wie wir sie von den Frühromantikern kennen. Nur dass aus dem romantischen Krakelee hier der dystopische Angsttraum von Moderne und Gegenwart geworden ist: Karl Heinz Bohrer hätte seine Freude daran gehabt. Man erinnert sich vielleicht noch: 1984, Bohrer war gerade Herausgeber der Zeitschrift Merkur geworden, war dort eine Debatte „Über einen neuerdings in der deutschen Literatur erhobenen vornehmen Ton“ entbrannt. Aber nicht die spätromantische Gebärde, deren Peter Handke und Botho Strauß sich bedient hatten (angeblich bedient haben sollten), war das eigentlich Anstößige daran, sondern das Gefällige ihrer fast schon konventionellen „Routinen“: die Romantik war lieblich geworden.
Dieses „Harmlose“, „Unverbindliche“ (Jörg Drews) lag auch schon in der Luft, als Ploog mitte der sechziger Jahre seine frühe Cut-up-Prosa entwickelte, als der gelernte Gebrauchsgrafiker nicht nur literarische Bilder schuf, sondern auch Stoffmuster (wie Pepita, Hahnentritt und Donegal) mit Vektorgrafiken und Cliparts kombinierte sowie mit Fotografien unterlegte. Fast alle seine Bücher sind illustriert und greifen Stilgesten der Beat-Literatur auf, ohne sich ihr jedoch auszuliefern:
Wer sich bewegt, muß navigieren. Wer navigiert, braucht ein Bezugssystem, von dem er ausgehen kann. Das ist das Bild. Dieses Bild besteht aus Namen, die dem Betrachter entfallen sind. Seltsam ineinandergeschobene Kritzeleien, Arabesken, um es genau zu sagen, kalligrafische Codes.
Mit Schriftstellerfreunden wie Hadayatullah Hübsch, Ulf Miehe oder Helmut Salzinger begab sich Ploog auf Selbsterkundungstrips, gestaltete er Themen der „littérature-noir“ und sondierte er das Terrain des Disruptiven zwischen Pop, Punk und Post-Moderne. Als mögliches Tertium comparationis dieser eleganten Hochkultur-Rebellen im Dreireiher und mit Zigarettenspitze gilt William S. Burroughs, dem Jürgen Ploog im Zeitraum von rund zwanzig Jahren etliche Annäherungen, Porträts und Interpretationen gewidmet hat, die zuletzt 1998 in einem Sammelband (Straßen des Zufalls) aufgingen. Burroughs gleicht dort einem störrischen Rotpeter, der den amerikanischen Bundesrichtern auf den Sitzungstisch „pißte und schiß und onanierte“ und der selbst das Urteil über sie sprach: „nicht selten kam es auch vor, daß er einen der Richter ansprang und in Stücke riß.“
Atmosphärisch verdankt sich diese Prosa der frühen Amerika-Prägung des Autors. Die „hardboiled boys“, die seine Stories bevölkern und oft nur auf einen Quickie aus sind, sprechen den rauhen Jargon von „Junkieland“, „Night Life“ und „Harbor Beach“. Sie bewegen sich in den Todeszonen der Zivilisation (Die tote Zone, 1998), als ob sie „Neuland“ betreten müssten, und sie zelebrieren die innige Verwandtschaft von Krieg, Konsum und Kintopp. Zerstörte Häuser, verlassene Hafenanlagen, Strände, die einem Schlachtfeld gleichen, erzählen von raumgreifenden, umwälzenden „Zivilisationsstörungen“. Gezielt hat der gelernte Gebrauchsgrafiker selbst die düsteren Motive für seine Buchumschläge beigesteuert oder seine Texte pop-art-haft illustriert. 1995 werfen Neonwelten Licht und Schatten auf die dystopische und psychotische „industrielle Welt“, die im Golfkrieg ihre Kriegstüchtigkeit erproben soll (Black Maria oder Das Echtzeit-Endspiel). Häufiger jedoch schrieb er für die Schublade:
Mich interessiert mehr die Frage, was passiert, wenn etwas geschrieben, aber nie veröffentlicht wird. Ist es damit wirkungslos? Natürlich nicht. Bewusstsein ist nicht im Kopf des einzelnen eingeschlossen, individuelles Bewusstsein ist Teil eines größeren Bewusstseins. […] Nicht nur Literatur verändert, sondern jeder formative Impuls. (Die letzte Dimension, 2002)
Als Pilot musste sich der Autor mit Technik auskennen und anfreunden: Alle Dimensionen seiner Welt-Raum-Routinen verdanken sich der modernen Datenverarbeitung und der Rationalität der Zahlenlogik einerseits, dem menschlichen Steuerungswillen und der Irrationalität der „nicht alltäglichen Erscheinungen“ (Carlos Castaneda) andererseits: „Prosaisten wollen schreiben, im Kombinieren (Rechnen) sehen sie kein Ziel.“ Independent-Techniken wie Plakatkunst und Performance, Happening und Filmschnitt (Collagen und Cut-up-Verfahren) sowie die Zerlegung und Montage serieller Muster, wie sie prominent vom Dead Chickens Warehouse in der Nachfolge von Hieronymus Bosch praktiziert wurden, fanden entsprechend Eingang in sein Œuvre und bestimmten zeitweilig auch sein literarisches Schreiben und seine Essayistik. Visionär der Buchumschlag von Straßen des Zufalls (1998), auf dem Schmuckelemente der Fassade des World Trade Centers zum Einsatz kamen – drei Jahre später waren die Twin Towers Geschichte.
Die „Graue Eminenz des deutschen Undergrounds“ (Hadayatullah Hübsch) gab mit ihrer Zeitschrift Gasolin 23 der „letzten Dimension“ (nicht Generation) im „flächenlosen Universum der Texte“ ein Forum und erzählte von der Kontingenz und Transzendenz neuronaler Prozesse (Vilém Flusser) unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen. Ploogs privater Kanon und Kosmos kann entsprechend als Synkretismus einer Gegenkultur begriffen werden, deren Idole teils auch in der Hochkultur aufzufinden oder in ihr anschlussfähig waren. Seine Hauptbezugsgrößen aus Film, Kunst und Literatur hießen etwa Joseph Conrad, Brion Gysin (und in dessen Nachfolge William S. Burroughs), Paul Virilio oder Rolf Dieter Brinkmann sowie Wolf Wondratschek; analog bewunderte er so unterschiedliche Kapazitäten wie Büchner und Hölderlin, Artaud und Baudelaire; sein Eklektizismus kombinierte Paul Bowles mit Ray Bradbury und Gottfried Benn mit Ernst Jünger.
Unser Literaturbetrieb dürfte davon nicht viel mitbekommen haben, was ihn jedoch nicht anfoch, zumal Jürgen Ploog nie Teil oder Sprachrohr einer Bewegung werden wollte. Der Solitär blieb Geheimtipp, publizierte in Kleinverlagen wie dem Prenzlauer Druckhaus Galrev oder den Einmann-Unternehmungen von Udo Breger und Peter Engstler. Die totale Befreiung der Kunst verdankt sich einem – zuletzt – 83-jährigen Autor, dessen „Wortvirus“ nur eines wollte: sich reproduzieren. Das Wirtstier, der Mensch, trug den Virus in alle Sphären der Zivilisation und starb mit ihm den Wörtertod.
Literaturhinweise
Jürgen Ploog: Nächte in Amnesien. Stories.
Sphinx Verlag, Basel 1980
182 Seiten, 15,00 Euro.
ISBN 3-85914-403-0
Jürgen Ploog: Der Raumagent. Erzählungen.
Druckhaus Galrev, Berlin 1993.
118 Seiten, 20,00 Euro.
ISBN 3-910161-46-4
Jürgen Ploog: Straßen des Zufalls. Über William S. Burroughs.
Druckhaus Galrev, Berlin 1998.
248 Seiten, 30,00 Euro.
ISBN 3-910161-94-4
Jürgen Ploog: Die tote Zone. Ein Protokoll.
Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 1998.
122 Seiten, 11,00 Euro.
ISBN 3-929375-15-X
Jürgen Ploog: Die letzte Dimension. Zum Untergang der Worte.
Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 2002.
108 Seiten, 12,00 Euro.
ISBN 3-929375-26-5
Jürgen Ploog: Undercover. Episodenroman.
German Publishing, Braunschweig 2005.
255 Seiten, 17,99 Euro.
ISBN 3-936281-05-X