Ist ja ein Ding! Der Material Turn ist noch nicht tot

Der von Sophie Marshall und Justin Vollmann herausgegebene Tagungsband „Nicht unbedingt“ untersucht Mensch-Ding-Beziehungen aus mediävistischer Sicht

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits im Jahr 2017 hoffte der Mittelalterhistoriker Jan Keupp auf einen baldigen Tod des in den 2010er-Jahren so gehypten Material Turn, da dieser in die „Gegenstandslosigkeit“ abzudriften drohte. Bis zu seinem endgültigen Darniederliegen rechnete Keupp „mit beträchtlichen ‚Kollateralschäden‘ gerade unter NachwuchswissenschaftlerInnen“. Anstatt zu den Dingen zu forschen, würden bald nur noch Theorien zum Materiellen Gegenstände der Untersuchungen sein, so die Warnung des Historikers. Wie äußert sich der Umgang mit dem Material Turn nun in den Literaturwissenschaften, in denen Dinge ja immer nur als textliche Wiedergabe, Be- oder Umschreibung existieren? Nach ein paar ‚positivistischen‘ Ansätzen, die den realen Dingen hinter den geschriebenen Dingen auf die Spur zu kommen versuchten, liegt mit dem 2024 erschienen Band Nicht unbedingt. Mensch-Ding-Beziehungen in mediävistischer Sicht eine Aufsatzsammlung mediävistischer (ehemaliger) Nachwuchswissenschaftler vor, der sich den Dingen aus fast rein literaturwissenschaftlicher Sicht widmet.

Die Untersuchungen wurden angeregt durch das Kolloquium Dingkulturen. Verhandlungen des Materiellen in Literatur und Kunst der Vormoderne, das im Jahr 2012 in Freudenstadt im Schwarzwald stattfand, wie sich der Einleitung entnehmen lässt. Inspiriert vom Schwarzwälder Kolloquium veranstalteten die Herausgeber des Bandes, Sophie Marshall und Justin Vollmann, drei − anscheinend aufgrund der Corona-Pandemie (in der Einleitung gibt es dazu nur Andeutungen und Umschreibungen) ins Digitale verlegte − Workshops, aus denen die insgesamt zehn Aufsätze des Sammelbandes hervorgegangen sind.

Die „geschilderten Umstände“, also wohl die Einschränkungen durch Covid-19, hätten dann auch dazu geführt, dass sich die behandelten Fragestellungen der Teilnehmenden zunehmend vom Individuum auf die Gesellschaft verschoben haben: Nicht länger seien die vom Individuum her gedachten Kategorien „Motivation/Emotion“, „Perzeption/Kognition“ sowie „Kommunikation/Handlung“ maßgeblich gewesen, sondern die „Subsysteme“ der modernen Gesellschaft, die sich freilich bereits im Mittelalter als Diskursfelder abzeichneten, wie die Herausgeber in der Einleitung schreiben. Aus der im Vergleich zur Moderne eine umfassendere Rolle spielenden Religion im Mittelalter leiten sie daher die These ab, dass Objekte im Mittelalter stärker religiös aufgeladen waren als in der Moderne und durch diese Aufladung Macht über den Menschen besaßen. Neben der Religion werden fünf weitere Bereiche betrachtet: Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft/Technik und Liebe, denen die − sehr unterschiedlich langen − Beiträge jeweils zugeordnet sind.

Den Anfang macht die Historikerin Christina Antenhofer mit Die Entzauberung der Gabe. Der Blick auf Praktiken als Schlüssel zur Agency der Dinge. In ihrem Beitrag vergegenwärtigt sie in Rückgriff auf Bruno Latours Wir sind nie modern gewesen, dass bei der Beschäftigung mit Dingen, ihrer „Aura“, ihrem „Zauber“, kolonialistische Diskurse und dualistische Deutungsmuster mitschwingen, die es kritisch zu hinterfragen gilt. Antenhofer spricht sich daher für eine Überwindung der Trennung von Linguistic und Material Turn aus, den sie als Symptom dieser Dichotomien sieht, und plädiert für deren Zusammenführung. In ihrem Beitrag richtet sie den Fokus auf praxeologische Gesichtspunkte, nämlich auf die Handlungen und Interaktionen, die Menschen und Dinge zusammenbringen, wodurch historische Mensch-Objekt-Beziehungen ausgelotet werden können, ohne auf belastete Konzepte rekurrieren zu müssen.

Um religiös aufgeladene Dinge, die Zeichencharakter haben, geht es in Harald Haferlands Beitrag Dinge und Zeichen. Zur Semiose des Zeichens Tau (T) auf Heimrichs von Narbonne Waffenrock in Wolframs Willehalm (406,2-407,9) und zu den Diskursen am Thüringer Hof. Die Untersuchung bietet einige interessante Aspekte, die dazu anregen zu überlegen, ob sich das von Krzysztof Pomian geprägte Konzept der Semiophoren auch auf die von Wolfram geschriebenen und vom Publikum rezipierten Dinge anwenden ließe. Das Tau auf Heimrichs Wappenrock wird schließlich erst im Kontext seiner Rezeption am Thüringer Hof zu einem vielschichtigen und aktuellen Zeichenträger, wie Haferland herausstellt.

Als vielschichtig erweist sich auch der anschließende Beitrag von Silvan Wagner: Du pist der, der mir mein taschen kan leren. Die Macht des Weins in den Nürnberger Weingrüßen, in dem es um den Wein als Entität und seine Darstellung in den wohl aus der Feder von Hans Rosenplüt stammenden Weingrüßen geht, die sowohl von weltlichen (Liebesgrüße) als auch von geistlichen Textgattungen (Mariengrüße) schöpfen.

Rüdiger Schnell nimmt zu Beginn seines umfangreichen Beitrags Was machen Dinge mit den Menschen? Überlegungen zu emotional besetzten Mensch-Ding-Beziehungen dann doch wieder die in der Einleitung eigentlich als verworfen genannten Kategorien Motivation/Emotion, Perzeption/Kognition sowie Kommunikation/Handlung in den Blick und fokussiert sich im Folgenden auf die emotionale Relevanz der Dinge, sprich emotionale Aspekte in literarischen Mensch-Ding-Beziehungen. Diese untersucht Schnell in acht epischen Texten: dem Lanzelet, Wigalois, Willehalm von Orlens, der Eneide, Salman und Morolf, dem Iwein, Daniel vom blühenden Tal und dem Parzival. Der lesenswerte Aufsatz hätte eine eigene Besprechung verdient, wofür an dieser Stelle kein Platz ist. Nur so viel sei erwähnt: Die Bedeutung der Dinge für die Figuren (sie können zum Beispiel handlungs- oder beziehungsrelevant sein) kann eine andere sein als für die Rezipienten. Die Dinge tragen also, um noch einmal auf die Semiophoren zurückzukommen, andere Zeichen.

Direkten Bezug auf diese Untersuchung nimmt am Ende des Bandes der Beitrag von Justin Vollmann: Thomas von Aquin, der begehrliche Erzähler und das begehrte Ding. Vollmanns zweigeteilter Aufsatz ließe sich „als zwei Fußnoten zu den Ausführungen Rüdiger Schnells im selben Band verstehen“, heißt es am Anfang. Auch hier geht es um emotionale Aspekte. Vollmann konzentriert sich aber auch auf die Agency der Dinge. Im ersten Teil des Beitrags nimmt der Autor unter Berücksichtigung von Niklas Luhmanns historischer Emotionsentwicklungstheorie Liebe als Passion die Veränderung des emotionalen Weltbezugs seit der Vormoderne in den Blick. Im zweiten Teil geht es bei der Interpretation von Erzähler-Textstellen aus dem Parzival um Bewertungen von Emotionen bei Thomas von Aquin, die hier minutiös nachgezeichnet werden. Seine Befunde ordnet Vollmann im Folgenden dann den Bereichen Wirtschaft, Intimbeziehungen und Kampf zu und arbeitet heraus, dass in allen drei Bereichen Dinge als Objekte des Begehrens eine entscheidende Rolle spielen − und dass dies auch noch für heutige Medien gilt.

Weitere Beiträge, die hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden können, beschäftigen sich mit der verhängnisvollen Verknüpfung von Gabe und Gier (Thalia Vollstedt: Out of the Box. Gabenlogik und Gewalt im Schlegel) oder − nicht ganz nachvollziehbar − der Verknüpfung von Tod, Ikonen, einem nur als Leerstelle abgebildeten Bild und Michel Serres Der Hermaphrodit, wobei es eigentlich um das Märe Der Gevatterin Rat geht (Mona Schlatter: The Making of an Icon. Kult und Transzendenzkommunikation in Strickers Der Gevatterin Rat). Unter anderem um Dinge aus der Gylfaginning, die weinen können, dreht es sich in Sophie Marshalls Beitrag Lokis dinghafte Angst und das Begehren der Materie in der Prosa-Edda.

Fast 100 Seiten stark, samt umfangreichem Literaturverzeichnis, ist der theoriegetriebene Beitrag von Hartmut Bleumer und Joana Thinius Architektonische Ordnungen: Parzival und Tristan. Zwei Versuche zum aggregativen Potential ästhetischer Objekte, in dem der Gral und die Minnegrotte unter objektästhetischen Gesichtspunkten (nach Michail M. Bachtin) betrachtet und die bekannten Unterschiede in den erzählerischen Herangehensweisen der beiden Antitheten Wolfram und Gottfried herausgestellt werden. Mit spürbarer Begeisterung entwickeln Bleumer und Thinius Anregungen zu „Verfahren des literaturwissenschaftlich-ästhetischen Denkens“. Der Beitrag fußt, wie zu Beginn erläutert wird, auf einem Projektentwurf: Die beiden Autoren arbeiten an der Entwicklung eines stratifizierten Beschreibungs- und Interpretationsmodells, aus dem ein Katalog ästhetischer Objekte in der vormodernen Erzählliteratur entstehen soll. Man darf also gespannt sein!

Mit Christina Lechtermanns Beitrag Papier – Werkzeug – Wissen wird es dann abschließend wirklich konkret dinglich. Die Autorin nimmt nämlich Gebrauchsliteratur in den Blick und betrachtet sie unter dem Aspekt, wie die darin behandelten Dinge im Text beziehungsweise im Text-Bild-Verbund inszeniert werden. Als Beispiel wählt sie dafür die Perspectiva des Goldschmieds Hans Lencker (VD16 1147), ein Lehrbuch der konstruktiven Geometrie mit mehreren Bildtafeln, denen jeweils ein erläuternder Text folgt. Es handelt sich dabei um eine Gebrauchsanweisung unterschiedlicher Werkzeuge, die zur perspektivischen Konstruktion genutzt werden, samt Anleitung zu ihrer Herstellung. Spannend ist, dass der Text auch Hinweise zum Gebrauch des Buchs gibt, beispielsweise wann man es drehen muss, um die abgebildeten Werkzeuge richtig herum zu sehen.

Lechtermann beendet ihren Beitrag mit der Feststellung, dass die Dinge mit dem ihnen innewohnenden Aufforderungscharakter in den Erläuterungen präsent sind und damit – mit Martin Heidegger und Aristoteles gesprochen − ein „Angebot an das Erkenntnisvermögen“ bieten. Ein schönes Schlusswort, das sich auf den gesamten Band ausweiten lässt. Wer keine Angst vor komplexen Theorien hat, wird hier sicherlich vielfältige Anregungen zu Mensch-Ding-Beziehungen in der Vormoderne finden.

Der Klappentext verspricht die Untersuchung von Dingen in vormodernen Texten in den Bereichen Liebe, Kunst, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Dass es sich bei den versammelten Beiträgen um sehr literaturwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen handelt, wird allerdings erst beim Lesen deutlich. Der Blick in entfernte Disziplinen hätte an der einen oder anderen Stelle sicher zum Erkenntnisgewinn gereicht. Dinge waren und sind überall vorhanden. Um ihnen auf die Schliche zu kommen und den Material Turn mit Leben zu füllen, lohnt sich Mut zur Transdiziplinarität!

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Sophie Marshall / Justin Vollmann (Hg.): Nicht unbedingt. Mensch-Ding-Beziehungen in mediävistischer Sicht.
Schwabe Verlag, Basel 2024.
360 Seiten, 66,00 EUR.
ISBN-13: 9783757401450

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