Eine Pille gegen Trauer

Anne Cathrine Bomanns Roman „Blautöne“ erzählt von der Pathologisierung eines sehr menschlichen Gefühlszustandes und ihren fatalen Folgen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder, der bereits mit Tod und Verlust zu tun hatte, weiß: Trauer ist vielgestaltig, jeder Mensch trauert anders. Anna zum Beispiel, die erst vor wenigen Monaten ihre Mutter verloren hat, weigert sich, den Friedhof zu besuchen. Während für ihren Vater zuhause seither die Zeit stillzustehen scheint und er sein Leben nicht mehr auf die Reihe bekommt, stürzt sich die Psychologiestudentin in Gelegenheitssex und lebt ihre Wut beim Kickboxen aus. Dass sie ihre Masterarbeit ausgerechnet über Trauer schreibt, ist, wie sie sagt, nur ein Zufall.

Anna ist eine der Protagonistinnen und Protagonisten in Anne Cathrine Bomanns Roman Blautöne. In ihrem 300-Seiten-Werk stellt die 40-jährige dänische Autorin und Psychologin die Frage nach der Bedeutung von seelischem Schmerz für unser Leben. Und welchen Preis es kosten kann, wenn wir versuchen, uns unangenehme Gefühle zu ersparen. Wie etwa Trauer, die seit einigen Jahren sogar als Krankheit gilt, jedenfalls dann, wenn sie nicht mehr aufhört. Oder vielleicht sollte man besser sagen: Wenn sie länger anhält, als die moderne Gesellschaft es akzeptabel findet. Und das sind nicht mehr als sechs Monate: Wer länger als ein halbes Jahr trauert, leide an einer Prolonged Grief Disorder, einer „anhaltenden Trauerstörung“, wie es im weltweit gebräuchlichen Leitfaden psychischer Erkrankungen, dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, inzwischen heißt.

Trauer als Krankheit – damit ist nicht jeder einverstanden, nicht in der Wirklichkeit und auch nicht in Bomanns Roman.

‚Ist es wirklich richtig‘, Anna schaut appellierend von Thorsten zu Shadi und wieder zurück, ‚dass selbst unsere Trauer, eine unserer grundlegendsten menschlichen Eigenschaften, pathologisiert wird? Dann sind es nicht die Trauernden, mit denen etwas nicht stimmt, dann ist es die Welt.‘

Der Psychologiedozent Thorsten und seine Studentinnen Anna und Shadi beschäftigen sich in Bomanns Roman kritisch mit einer Trauerstudie ihrer Universität. Diese Studie an 400 Versuchspersonen soll einem neuen Medikament die EU-weite Zulassung sichern und steht kurz vor dem Abschluss. Collacain, so der Name des fiktiven Wundermittels, soll Menschen helfen, den Weg aus ihrer Trauerstörung zu finden, indem es die Erinnerung an die verstorbene Person weniger schmerzhaft werden lässt. Es geht um nicht weniger als die Revolution der Behandlungsmöglichkeiten und, natürlich, um viel Geld. 

Während für Thorstens Chefin das Ergebnis bereit feststeht, übrigens auch wegen der großzügigen Spenden des verantwortlichen Pharmaunternehmens an die Universität, bleibt der skrupulöse Dozent zum Ärger seiner Kolleginnen und Kollegen skeptisch. Warum tauchen einige Testpersonen gar nicht mehr zum Abschlussgespräch auf? Oder scheinen sogar jedes Interesse an ihren Angehörigen verloren zu haben, wie Mikkel, ein junger Mann, der bei einem Autounfall Ehefrau und Tochter verloren hat und der plötzlich den Kontakt zu seiner Schwester abbricht? Für ihn sei es nun „ein bisschen, wie wenn man einen Film gesehen hat“, berichtet er dem beunruhigten Thorsten. „Ich weiß natürlich, was passiert ist, und ich kann Ihnen genau sagen, wie schlimm es war nach dem Unfall. Es fühlt sich bloß nicht länger an, als wäre ich Teil dieser Geschichte.“

Der Titel von Bomanns Roman, Blautöne, ist eine Anspielung auf den Blues, die Musik der Traurigkeit. Der Roman der dänischen Autorin ist in einer soliden, wenn auch unspektakulären Prosa geschrieben, er lebt vor allem von seinen Perspektivwechseln, Dialogen und den Gegensätzen zwischen seinen Figuren. Zum Beispiel zwischen den beiden Studentinnen, der selbstbewussten Anna und der zahlenbesessenen Shadi, die ständig mit Ängsten und Zwangsneurosen zu kämpfen hat. Die Tochter iranischer Migranten weiß aus eigener Erfahrung, wie hilfreich Medikamente bei psychischen Störungen sein können: „‚Psychische Krankheiten existieren‘, sagt sie. ‚Und was soll gut oder echt daran sein, vor die Hunde zu gehen, wenn es sich vermeiden lässt.’ Sie senkt den Blick wieder. ‚Manchmal braucht man einfach Hilfe.‘“

Spannung erzeugen auch die beiden Zeitebenen, auf denen Bomanns Roman spielt und die Stück für Stück aufeinander zulaufen. Während das vermeintliche Wundermittel in einer nahen Zukunft vor seiner Zulassung steht, erzählt die Autorin in Rückblenden von seiner Erfinderin, der Chemikerin Elisabeth Nordin. Und wie diese nach dem Tod ihres Sohnes beschließt, sich und der Menschheit unnötiges Leid zu ersparen. Mit Blautöne hat Anne Cathrine Bomann einen gesellschaftskritischen Unterhaltungsroman von beängstigender Aktualität vorgelegt.

Titelbild

Anne Cathrine Bomann: Blautöne. Roman.
Aus dem Dänischen von Franziska Hüther.
hanserblau, Berlin 2023.
301 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446273870

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch