Aufs Absurde reduziert

Mit „Mississippi Orangeneis Blues“ veröffentlicht Tobias Premper ein Kleinod surrealistischer Fragmentprosa

Von Julian IngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Ingelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kurzgeschichte Der Mann hinter der Litfaßsäule von Tobias Premper ist schnell zusammengefasst: Der Protagonist beobachtet einen Mann, der hinter einer Litfaßsäule entlanggeht. Als der Mann nicht wieder auftaucht, wird der Ich-Erzähler skeptisch und sucht ihn, bis er schließlich bemerkt, dass der Mann sich auf die Litfaßsäule gesetzt hat und ihn von dort aus beobachtet. Es folgt ein kurzer Dialog und dann ist auch schon Schluss – nach gerade einmal 19 Zeilen. Trotz dieses geringen Umfangs vereint Der Mann hinter der Litfaßsäule vieles, was für Prempers Texte typisch ist: Ein subtiler Surrealismus prägt die Erzählung, die wirkt, als übertrage sie eine wirre Traumlogik in Worte. Das Narrativ kreist um eine Störung der Weltwahrnehmung, die vielleicht logisch zu erklären wäre, vielleicht aber auch einfach als absurd akzeptiert werden muss.

91 solcher Miniaturen hat Tobias Premper, der bislang vor allem mit seinen kunstvoll gestalteten „Boxenbüchern“ in Erscheinung getreten ist, nun gesammelt und unter dem Titel Mississippi Orangeneis Blues bei Steidl veröffentlicht. Die meisten von ihnen umfassen nicht mehr als eine halbe Seite, manche beschränken sich gar auf einen einzigen Satz. In ihrem Zentrum stehen meist namenlose Protagonisten, die auf ein Personalpronomen oder ein Substantiv reduziert werden. Der Autor versteht es, ganze Weltbilder in wenige Worte zu fassen. Er hält sich nicht mit dem Anfang oder dem Ende einer Geschichte auf, sondern liefert selbst vom Mittelteil nur Fragmente. Auf der Oberfläche drehen sich die Texte um einen autoaggressiven Schriftsteller mit Schreibblockade, einen Nihilisten in der Fußgängerzone oder das Unglück einer Pfandflaschensammlerin; zwischen den Zeilen schimmern jedoch die Seltsamkeiten des Alltags hervor, die Premper wirkungsvoll auf die Spitze treibt. Es ist, als habe er einen Topf voller Erzählungen auf einen Herd gestellt und so lange einkochen lassen, bis nur noch Textreduktionen übrig waren.

Prempers Bruchstücke der Wirklichkeit kommen durchaus auch mal humorvoll daher, etwa wenn es heißt: „Die Frau mit der kalten Nase füllte im Ordnungsamt ein Formular für einen neuen Personalausweis aus. Die Rubrik ‚besondere Kennzeichen‘ füllte sie mit dem Wort ‚keine‘ aus.“ Insgesamt interessiert sich Premper jedoch vor allem für die Momente, in denen die Realität einen Knacks bekommt – und mit Bravour gelingt es ihm, die Desorientierung und Unsicherheit seiner Protagonisten auf den Leser zu übertragen. In Schöne Seele, schöne Seele beschreibt er etwa die Angst eines erwachsenen Mannes, bei dem es an der Tür klingelt, so plastisch, dass einem nach der Lektüre des Textes selbst unbehaglich zumute wird.

Es liegt in der Natur solcher Kürzestgeschichten, dass selbst eine Sammlung von 91 Texten ein Buch von nur 128 Seiten ergibt. Trotzdem eignet sich Mississippi Orangeneis Blues nicht dazu, schnell durchgeblättert und dann wieder ins Regal gestellt zu werden. Das liegt vor allem an Prempers kreativem Umgang mit Sprache: Er spielt mit Satzkonstruktionen und erfindet fantasievolle Begriffe, nur um sie gleich wieder fallenzulassen. So verhindert er, dass sich die Texte auf den ersten Blick erschließen lassen; und selbst ein zweiter Blick reicht oft nicht aus, um sie wirklich zu verstehen. Prempers kryptische Miniaturen fordern zur genauen Lektüre und zu gewagten Interpretationen heraus. Natürlich erfordert dies die Bereitschaft, sich auf solche Spielereien einzulassen; und wer keinen Spaß an gewagten Textdekonstruktionen ohne eindeutiges Ergebnis hat, wird an Mississippi Orangeneis Blues nur wenig Freude haben. Alle anderen werden aber mit Vergnügen herausfinden wollen, was eigentlich eine „faröische Hörnchenschnecke mit Sorbonne-Diplom und saisonaler Schizophrenie“ ist.

Titelbild

Tobias Premper: Mississippi Orangeneis Blues.
Steidl Verlag, Göttingen 2016.
128 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783958292079

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