Germanistenschelte

Kleine Verteidigung eines wunderbaren Fachs

Von Thomas Anz

Die Germanistik ist eine wunderbare Wissenschaft. Denn Sprache und Literatur, mit denen sie sich beschäftigt, sind Fundamente jeder menschlichen Kultur und mit ihrer Komplexität und Wandlungsfähigkeit ständig neue Herausforderungen zur Beantwortung faszinierender Fragen. Daß sich die Germanistik vornehmlich mit der deutschen Sprache und Literatur befaßt, diente in ihren Anfängen der nationalen Identitätsbildung. Heute ist die Konzentration auf das Deutsche kaum mehr als ein Phänomen arbeitsteiliger und exemplarischer Spezialisierung. Und sie ist Angelegenheit einer akademischen Ausbildung, die der Nachfrage des Arbeitsmarktes entspricht. Wer im Umgang mit der deutschen Sprache und Kultur ein besonders hohes Maß an Qualifikationen erworben hat, wird nach wie vor gebraucht, und zwar nicht nur für den Deutschunterricht an der Schule. Die Theorien, Begriffe, Methoden und Fragestellungen jedoch, mit denen Germanisten arbeiten, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen der Romanisten oder Anglisten. Sprach- und Literaturwissenschaftler aller Länder kennen da keine nationalen Grenzen.

Die Germanistik freilich befindet sich, glaubt man den zur Gewohnheit gewordenen Beschwerden über sie, die in Deutschland von ehemaligen Germanisten im Feuilleton vorgebracht werden, in einem besonders desolaten Zustand. Die Zeiten, in denen einige unglückliche Vertreter des Faches regelmäßig ihre Klagen über den Niedergang der eigene Zunft und die Blödigkeit ihrer Studenten veröffentlichen konnten, sind zum Glück lange vorbei. Jetzt haben Redakteure die öffentliche Begutachtung selbst übernommen. Der Umfang, in dem sie das tun, ist für Germanisten naturgemäß so erfreulich wie der Tenor sie betrübt. Die Vor- und Nachberichte zum Deutschen Germanistentag, der Mitte September in München stattfand, mögen manche Schwäche des Faches treffend beschreiben, etliche disqualifizieren sich jedoch durch ein frappierendes Maß an Ahnungslosigkeit und Desinformation.

Das zeigt sich schon im Umgang mit dem Wort „Germanistik“. Es wird weitgehend als Synonym für Literaturwissenschaft verwendet. Und mancher Literaturwissenschaftler, der da namentlich als Repräsentant der Germanistik genannt wird, ist Romanist oder Komparatist. Daß Germanistik auch Sprachwissenschaft umfaßt, kommt allenfalls dann in den Blick, wenn man nach Verantwortlichen für die verhaßte Rechtschreibreform sucht. Daß sich unter dem Dach der Germanistik eine wissenschaftlich selbständige Fachdidaktik ausgebildet hat oder daß es da eine Teildisziplin mit dem Namen „Deutsch als Fremdsprache“ gibt, scheint weiter keiner Rede wert.

„Stereotypen der Germanistikschelte“ wäre ein lohnendes Thema für eine germanistische Abschlußarbeit. Ein Ergebnis könnte sein: Viele dieser Stereotypen widersprechen sich gegenseitig. Bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Germanistentags monierte ein Literaturkritiker, Literaturwissenschaft solle doch besser bei Texten aus ferner Vergangenheit verweilen als sich mit forcierter Jugendlichkeit in Belange der Gegenwartsliteratur einzumischen. Einer der beiden „Krisenberichte“ über die Germanistik, die in der „Zeit“ schon vor der Tagung erschienen, bemängelt hingegen: „Nur wenige setzen sich heute ernsthaft mit neu erscheinender Literatur auseinander.“ Wirft Thomas E. Schmidt in diesem Artikel der Literaturwissenschaft „Theorie-Promiskuität“ oder die „Zappeleien“ vergangener Methodendiskussionen vor, so beklagt ein Tagungsbericht der „Süddeutschen Zeitung“, daß von den wichtigen Debatten der vergangenen Jahre über Medien und Kultur, Körper und Geschlecht oder von den produktiven Grenzgängen zur Ethnologie oder Psychologie nur noch kümmerliche Reste übrig geblieben seien. Werfen die einen der Germanistik vor, ihre Studenten mit fachidiotischer Skrupellosigkeit zu Arbeitslosen auszubilden, halten andere (so Richard Kämmerlings in der F.A.Z.) berufsbezogene Lehrveranstaltungen in germanistischen Instituten für fachfremden Dilettantismus. Was sie auch (angeblich) tut, die Germanistik, sie macht das Falsche. Jedenfalls sucht man nach Argumenten dafür und wird irgendwo fündig.

Wie andere Fächer braucht die Germanistik kritische Beobachter von außen, die nicht den Betriebsblindheiten und gegenseitigen Rücksichtnahmen innerhalb einer Disziplin unterworfen sind. Doch manche Einwände sind so haltlos, daß einem als Betroffenem schon mal der Kragen platzen kann.

„Im Streit um einen deutschen Lesekanon schwieg die Germanistik“, behauptet „Die Zeit“. Als ob es in dem Fach nicht längst vor der Kanon-Konjunktur in den Feuilletons und Verlagen eine intensive und noch heute anhaltende Kanon-Debatte gegeben hätte. Was da zum Beispiel vor acht Jahren bei dem großen DFG-Symposium „Kanon Macht Kultur“ an Einsichten erreicht war und wenig später publik gemacht wurde, ist von den Feuilletons, die sich des Themas später annahmen, nie eingeholt worden. Nach dem Erfolg von Wulf Segebrechts Broschüre „Was sollen Germanisten lesen“, die schon in den 80er Jahren in Umlauf gebracht wurde, erschienen viele ähnliche Listen. Und seit Jahren gibt es kaum noch ein germanistisches Institut ohne Lektüreempfehlungen dieser Art. Der Grad ihrer Verbindlichkeit für das Studium divergiert. Ihre Einführung war jedoch überall von erregten Diskussionen begleitet.

Welches Wissen über die gegenwärtige Germanistik haben ihre Verächter eigentlich? Der besagte„Krisenbericht“ erwähnt eine einzige germanistische Buchpublikation jüngeren Datums. Den Titel zitiert er falsch. Das Buch heißt „Körperströme und Schriftverkehr“. Es soll als Beispiel dafür herhalten, mit welchem „Gaga“ man heute in dem Fach habilitiert werden könne. Der Autor des Buches ist Albrecht Koschorke. 2003 erhielt er von der Deutschen Forschungsgemeinschaft den hochangesehenen und höchstdotierten Forschungsförderpreis der Bundesrepublik, den Leibniz-Preis. Gaga?

Der Schaden der Dauerschelte auf die Germanistik hält sich in Grenzen. Zur Öffentlichkeit, die ein Fach hat, gehören nicht zuletzt diejenigen, die es studieren. Und an Studierenden fehlt es der Germanistik keineswegs. Sie ist nach wie vor ein außerordentlich beliebtes Fach, ein „Massenfach“, und das scheint sich vorerst nicht zu ändern. Die öffentliche Wirksamkeit, die die Germanistik allein durch ihre Hochschullehre erreicht, ist, entgegen allen Klagen über den Mangel an öffentlichem Interesse, nicht gering zu schätzen. Sie könnte zur Selbstlegitimation ausreichen. Vermittelt über die Ausbildung von Deutschlehrern, denen wiederum keiner, der eine deutsche Schule besucht, entgehen kann, strahlt ihre Wirksamkeit auf jeden aus, der in deutscher Sprache sozialisiert wird. Und wer immer deutsche Literatur liest, kommt mit der Germanistik zumindest indirekt in Berührung. Die Verlage sind voll von ausgebildeten Germanisten, die Feuilletonredaktionen ebenfalls. Deutsche Schriftsteller haben in großer Zahl Germanistik studiert. Martin Walser promovierte über Kafka, Enzensberger über Brentano. Die Reihe der literarisch prominent gewordenen Exgermanisten ist unüberschaubar lang, sie reicht von Uwe Timm bis hin zu Elke Heidenreich.

Die Germanistik ist in der Tat, wie es in einem der Artikel heißt, „die Grundschule, in der viele Deutsche ihr kulturelles ABC lernen, ob sie später im Beruf etwas mit der Literatur zu tun bekommen oder nicht.“ Die Kulturschule der Nation ist im Feuilleton freilich zum Buhmann der Nation geworden. Und gelegentlich tauchen dabei sogar neuartige Vorwürfe auf: Die Germanistik habe zwar inzwischen ihre nationalsozialistische Vergangenheit aufgearbeitet, aber nicht die ähnlich fatale Geschichte ihrer Politisierung in den siebziger Jahren. Die Geschichte der Germanistik seit den siebziger Jahren sei von dieser selbst bislang mit dem „Prinzip des kommunikativen Beschweigens“ verdeckt worden. Wirklich?

Schon vor sechs Jahren fand in Hildesheim eine Tagung zur „Geschichte der Germanistik der 70er Jahre“ statt. Die Vorträge erschienen bald darauf als Buch. Der Beitrag des Mitherausgebers Silvio Vietta geht mit dieser Geschichte ähnlich polemisch ins Gericht wie jetzt in der „Zeit“ Jens Jessen, der sein Bild von der damaligen Germanistik mit Zitaten aus kommentierten Vorlesungsverzeichnissen der FU Berlin und Flugblättern germanistischer Fachschaften belegt. Das sind in der Tat Quellen, die in der Rekonstruktion der Geschichte eines Faches zu berücksichtigen sind. Repräsentativ für den Zustand der damaligen Germanistik sind sie jedoch nicht. Der Untertitel des genannten Tagungsbandes kennzeichnet ihn differenzierter. Er lautet: „Zwischen Innovation und Ideologie“.

Die Germanistik ist ein wunderbares Fach. Die unendlich vielfältigen Aspekte der Sprache und Literatur, des Sprechens und des Schreibens, des Hörens und des Lesens sind eine Einladung, bei ihrer wissenschaftlichen Erforschung entsprechend vielseitige Interessen auszubilden. Der Sprache und Literatur ist nichts Menschliches fremd: weder Wissenschaften noch Künste, weder Philosophie noch Religion, weder Ethik noch Ästhetik, und die großen Themen der Anthropologie erst recht nicht: Liebe und Tod, Gesundheit und Krankheit, Jugend und Alter, Sinn und Sinnlichkeit, Macht und Ohnmacht, Rationalität und Affekt, Arbeit und Spiel. Und auch nicht die sozialen Spannungen und politischen Konflikte ihrer Zeit. Die Germanistik der letzten Jahrzehnte ist den Einladungen, die ihre Gegenstände an sie richteten, immer wieder gefolgt, wechselte dabei die Richtungen, nahm Kontakte zu anderen Disziplinen auf, erprobte neue Wege und riskierte manchen Irrweg. Es wäre lohnend, sich damit wirklich auseinanderzusetzen, statt sich in pauschalen Anklagen zu erschöpfen.

Der Verfasser ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg. Beim deutschen Germanistentag, der Mitte September 2004 in München stattfand, wurde er zum neuen Vorsitzenden des Deutschen Germanistenverbandes gewählt.

[Dieser Artikel ist in einer um die beiden vorletzten Absätze gekürzten und im Wortlaut geringfügig veränderten Fassung unter dem Titel „Buhmann der Nation? Eine kleine Verteidigung der Germanistik“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.9.2004 erschienen. Er wurde auch der Feuilletonredaktion der „Zeit“ zur Publikation angeboten, die auf das Angebot nicht reagiert hat. Einige Passage des Artikels sind wörtlich aus dem Vortrag "Germanistik und ihre Öffentlichkeiten" übernommmen, den der Verfasser auf dem Germanistentag in München gehalten hat. Der Vortrag ist in literaturkritik.de 10/2004 veröffentlicht.]

Ins Netz gestellt am 1. Oktober 2004