Das steinerne Herz

Jedem Reisenden, der bei guter Tageszeit sich dem Städtchen G. von der südlichen Seite bis auf eine halbe Stunde Weges genähert, fällt der Landstraße rechts ein stattliches Landhaus in die Augen, welches mit seinen wunderlichen bunten Zinnen, aus finsterm Gebüsch blickend, emporsteigt. Dieses Gebüsch umkränzte den weitläufigen Garten, der sich in weiter Strecke talabwärts hinzieht. Kommst du einmal, vielgeliebter Leser! des Weges, so scheue weder den kleinen Aufenthalt deiner Reise noch das kleine Trinkgeld, das du etwa dem Gärtner geben dürftest, sondern steige fein aus dem Wagen und laß dir Haus und Garten aufschließen, vorgebend, du hättest den verstorbenen Eigentümer des anmutigen Landsitzes, den Hofrat Reutlinger in G., recht gut gekannt. Im Grunde genommen kannst du dies alsdann mit gutem Fug tun, wenn es dir gefallen sollte, alles, was ich dir zu erzählen eben im Begriff stehe, bis ans Ende durchzulesen; denn ich hoffe, der Hofrat Reutlinger soll dir alsdann mit all seinem sonderbaren Tun und Treiben so vor Augen stehen, als ob du ihn wirklich selbst gekannt hättest. Schon von außen findest du das Landhaus auf altertümliche groteske Weise mit bunten gemalten Zieraten verschmückt, du klagst mit Recht über die Geschmacklosigkeit dieser zum Teil widersinnigen Wandgemälde, aber bei näherer Betrachtung weht dich ein besonderer wunderbarer Geist aus diesen bemalten Steinen an, und mit einem leisen Schauer, der dich überläuft, trittst du in die weite Vorhalle. Auf den in Felder abgeteilten, mit weißem Gipsmarmor bekleideten Wänden erblickest du mit grellen Farben gemalte Arabesken, die in den wunderlichsten Verschlingungen Menschen- und Tiergestalten, Blumen, Früchte, Gesteine darstellen und deren Bedeutung du ohne weitere Verdeutlichung zu ahnen glaubst. Im Saal, der den untern Stock in der Breite einnimmt und bis über den zweiten Stock hinaufsteigt, scheint in vergoldeter Bilderei alles das plastisch ausgeführt, was erst durch Gemälde angedeutet wurde. Du wirst im ersten Augenblick vom verdorbenen Geschmack des Zeitalters Ludwig des Vierzehnten reden, du wirst weidlich schmälen über das Barocke, Überladene, Grelle, Geschmacklose dieses Stils, aber bist du nur was weniges meines Sinnes, fehlt es dir nicht an reger Phantasie, welches ich allemal bei dir, mein gütiger Leser! voraussetze, so wirst du bald allen in der Tat gegründeten Tadel vergessen. Es wird dir so zumute werden, als sei die regellose Willkür nur das kecke Spiel des Meisters mit Gestaltungen, über die er unumschränkt zu herrschen wußte, dann aber, als verkette sich alles zur bittersten Ironie des irdischen Treibens, die nur dem tiefen, aber an einer Todeswunde kränkelnden Gemüt eigen. Ich rate dir, geliebter Leser! die kleinen Zimmer des zweiten Stocks, die wie eine Galerie den Saal umgeben und aus deren Fenstern man hinabschaut in den Saal, zu durchwandern. Hier sind die Verzierungen sehr einfach, aber hin und wieder stößest du auf teutsche, arabische und türkische Inschriften, die sich wunderlich genug ausnehmen. Du eilst jetzt nach dem Garten, er ist nach altfranzösischer Art mit langen, breiten, von hohen Taxuswänden umschlossenen Gängen, mit geräumigen Bosketts angelegt und mit Statuen, mit Fontänen geschmückt. Ich weiß nicht, ob du, geliebter Leser, nicht auch den ernsten feierlichen Eindruck, den solch ein altfranzösischer Garten macht, mit mir fühlst und ob du solch ein Gartenkunstwerk nicht der albernen Kleinigkeitskrämerei vorziehst, die in unsern sogenannten englischen Gärten mit Brückchen und Flüßlein und Tempelchen und Gröttchen getrieben wird. Am Ende des Gartens trittst du in einen finstern Hain von Trauerweiden, Hängebirken und Weymouthskiefern. Der Gärtner sagt dir, daß dies Wäldchen, wie man es, von der Höhe des Hauses hinabschauend, deutlich wahrnehmen kann, die Form eines Herzens hat. Mitten darin ist ein Pavillon von dunklem schlesischen Marmor in der Form eines Herzens erbaut. Du trittst hinein, der Boden ist mit weißen Marmorplatten ausgelegt, in der Mitte erblickst du ein Herz in gewöhnlicher Größe. Es ist ein dunkelroter, in den weißen Marmor eingefugter Stein. Du bückst dich herab und entdeckest die in den Stein eingegrabenen Worte: Es ruht! In diesem Pavillon, bei diesem dunkelroten steinernen Herzen, das damals jene Inschrift noch nicht trug, standen am Tage Mariä Geburt, das heißt am achten September des Jahres 180-, ein großer stattlicher alter Herr und eine alte Dame, beide sehr reich und schön nach der Mode der sechziger Jahre gekleidet. „Aber“, sprach die alte Dame, „aber wie kam Ihnen, lieber Hofrat, denn wieder die bizarre, ich möchte lieber sagen, die schauervolle Idee, in diesem Pavillon das Grabmal Ihres Herzens, das unter dem roten Stein ruhen soll, bauen zu lassen?“ – „Lassen Sie uns“, erwiderte der alte Herr, „lassen Sie uns, liebe Geheime Rätin, von diesen Dingen schweigen! – Nennen Sie es das krankhafte Spiel eines wunden Gemüts, nennen Sie es, wie Sie wollen, aber erfahren Sie, daß, wenn mich mitten unter dem reichen Gut, das das hämische Glück wie ein Spielzeug dem einfältigen Kinde, das darüber die Todeswunden vergißt, mir zuwarf, der bitterste Unmut ergreift, wenn alles erfahrne Leid von neuem auf mich zu tritt, daß ich dann hier in diesen Mauern Trost und Beruhigung finde. Meine Blutstropfen haben den Stein so rot gefärbt, aber er ist eiskalt, bald liegt er auf meinem Herzen und kühlt die verderbliche Glut, welche darin loderte.“ Die alte Dame sah mit einem Blick der tiefsten Wehmut herab zum steinernen Herzen, und indem sie sich etwas herabbückte, fielen ein paar große perlenglänzende Tränen auf den roten Stein. Da faßte der alte Herr schnell herüber und ergriff ihre Hand. Seine Augen erblitzten im jugendlichen Feuer; wie ein fernes, mit Blüten und Blumen reich geschmücktes herrliches Land im schimmernden Abendrot lag eine längst vergangene Zeit voll Liebe und Seligkeit in seinen glühenden Blicken. „Julie! – Julie! und auch Sie konnten dieses arme Herz so auf den Tod verwunden.“ – So rief der alte Herr mit von der schmerzlichsten Wehmut halberstickter Stimme. „Nicht mich“, erwiderte die alte Dame sehr weich und zärtlich, „nicht mich klagen Sie an, Maximilian! – War es denn nicht Ihr starrer unversöhnlicher Sinn, Ihr träumerischer Glaube an Ahnungen, an seltsame, Unheil verkündende Visionen, der Sie forttrieb von mir und der mich zuletzt bestimmen mußte, dem sanfteren, beugsameren Mann, der mit Ihnen zugleich sich um mich bewarb, den Vorzug zu geben? Ach! Maximilian, Sie mußten es ja wohl fühlen, wie innig Sie geliebt wurden, aber Ihre ewige Selbstqual, peinigte sie mich nicht bis zur Todesermattung?“ Der alte Herr unterbrach die Dame, indem er ihre Hand fahrenließ: „O Sie haben recht, Frau Geheime Rätin, ich muß allein stehen, kein menschliches Herz darf sich mir anschmiegen, alles, was Freundschaft, was Liebe vermag, prallt wirkungslos ab von diesem steinernen Herzen.“ – „Wie bitter“, fiel die Dame dem alten Herrn in die Rede, „wie bitter, wie ungerecht gegen sich selbst und andere sind Sie, Maximilian! – Wer kennt Sie denn nicht als den freigebigsten Wohltäter der Bedürftigen, als den unwandelbarsten Verfechter des Rechts, der Billigkeit, aber welches böse Geschick warf jenes entsetzliche Mißtrauen in Ihre Seele, das in einem Wort, in einem Blick, ja in irgendeinem von jeder Willkür unabhängigen Ereignis Verderben und Unheil ahnet?“ – „Hege ich denn nicht alles“, sprach der alte Herr mit weicherer Stimme und Tränen in den Augen, „hege ich denn nicht alles, was sich mir nähert, mit der vollsten Liebe? Aber diese Liebe zerreißt mir das Herz, statt es zu nähren. – Ha!“ fuhr er mit erhöhter Stimme fort, „dem unerforschlichen Geist der Welten gefiel es, mich mit einer Gabe auszustatten, die, mich dem Tode entreißend, mich hundertmal tötet! – Gleich dem Ewigen Juden sehe ich das unsichtbare Kainszeichen auf der Stirne des gleisnerischen Meuters! – Ich erkenne die geheimen Warnungen, die oft wie spielende Rätsel der geheimnisvolle König der Welt, den wir Zufall nennen, uns in den Weg wirft. Eine holde Jungfrau schaut uns mit hellen klaren Isisaugen an, aber wer ihre Rätsel nicht löst, den ergreift sie mit kräftigen Löwentatzen und schleudert ihn in den Abgrund.“ – „Noch immer“, sprach die alte Dame, „noch immer diese verderblichen Träume. Wo blieb der schöne, artige Knabe, Ihres jüngern Bruders Sohn, den Sie vor einigen Jahren so liebreich aufgenommen, in dem so viel Liebe und Trost für Sie aufzukeimen schien?“ – „Den“, erwiderte der alte Herr mit rauher Stimme, „den habe ich verstoßen, es war ein Bösewicht, eine Schlange, die ich mir zum Verderben im Busen nährte.“ – „Ein Bösewicht! – der Knabe von sechs Jahren?“ fragte die Dame ganz bestürzt. „Sie wissen“, fuhr der alte Herr fort, „die Geschichte meines jüngern Bruders; Sie wissen, daß er mich mehrmals auf bübische Weise täuschte, daß, alles brüderliche Gefühl in seiner Brust ertötend, ihm jede Wohltat, die ich ihm erzeigte, zur Waffe gegen mich diente. An ihm, an seinem rastlosen Streben lag es nicht, daß nicht meine Ehre, meine bürgerliche Existenz verlorenging. Sie wissen, wie er vor mehreren Jahren, in das tiefste Elend versunken, zu mir kam, wie er mir Änderung seiner verworrenen Lebensweise, wiedererwachte Liebe heuchelte, wie ich ihn hegte und pflegte, wie er dann seinen Aufenthalt in meinem Hause nutzte, um gewisse Dokumente – doch genug davon. Sein Knabe gefiel mir, und diesen behielt ich bei mir, als der Schändliche, nachdem seine Ränke, die mich in einen meine Ehre vernichtenden Kriminalprozeß verwickeln sollten, entdeckt worden, fliehen mußte. Ein warnender Wink des Schicksals befreiete mich von dem Bösewicht.“ – „Und dieser Wink des Schicksals war gewiß einer Ihrer bösen Träume.“ So sprach die alte Dame, doch der alte Herr fuhr fort: „Hören Sie, urteilen Sie, Julie! – Sie wissen, daß meines Bruders Teufelei mir den härtesten Stoß gab, den ich erlitten – es sei denn, daß – doch still davon. Mag es sein, daß ich der Seelenkrankheit, die mich befallen, den Gedanken zuschreiben muß, mir in diesem Wäldchen eine Grabstätte für mein Herz bereiten zu lassen. Genug, es geschah! – Das Wäldchen war in Herzform angepflanzt, der Pavillon erbaut, die Arbeiter beschäftigten sich mit der Marmortäfelung des Fußbodens. Ich trete hinan, um nach dem Werk zu sehen. Da bemerke ich, daß in einiger Entfernung der Knabe, so wie ich Max geheißen, etwas hin und her kugelt unter allerlei tollen Bockssprüngen und lautem Gelächter. Eine finstere Ahnung geht durch meine Seele! – Ich gehe los auf den Knaben und erstarre, als ich sehe, daß es der rote herzförmig ausgearbeitete Stein ist, der zum Einlegen in dem Pavillon bereitlag, den er mit Mühe herausgekugelt hat und mit dem er nun spielt! – „Bube! du spielst mit meinem Herzen wie dein Vater!“ – Mit diesen Worten stieß ich ihn voll Abscheu von mir, als er sich weinend mir nahte. – Mein Verwalter erhielt die nötigen Befehle, ihn fortzuschaffen, ich habe den Knaben nicht wiedergesehen!“ – „Entsetzlicher Mann!“ rief die alte Dame, die aber der alte Herr, sich höflich verbeugend und mit den Worten: „Des Schicksals große Grundstriche fügen sich nicht dem feinen Nonpareille der Damen“, unter dem Arm faßte und aus dem Pavillon hinausführte durch das Wäldchen in den Garten. – Der alte Herr war der Hofrat Reutlinger, die alte Dame aber die Geheime Rätin Foerd. – Der Garten bot das allermerkwürdigste Schauspiel dar, was man nur sehen konnte. Eine große Gesellschaft alter Herren, Geheime Räte, Hofräte und andere, nebst ihren Familien aus den benachbarten Städtchen hatte sich versammelt. Alle, selbst die jungen Leute und Mädchen, waren ganz streng nach der Mode des Jahres 1760 gekleidet mit großen Perücken, gesteiften Kleidern, hohen Frisuren, Reifröcken und so weiter, welches denn um so mehr einen wunderlichen Eindruck machte, als die Anlagen des Gartens ganz zu jenem Kostüm paßten. Jeder glaubte sich wie durch einen Zauberschlag in eine längst verflossene Zeit zurückversetzt. Der Maskerade lag eine wunderliche Idee Reutlingers zum Grunde. Er pflegte alle drei Jahre am Tage Mariä Geburt auf seinem Landsitz das Fest der alten Zeit zu feiern, wozu er alles aus dem Städtchen, was nur kommen wollte, einlud, jedoch war es unerläßliche Bedingung, daß jeder Gast sich in das Kostüm des Jahres 1760 werfen mußte. Jungen Leuten, denen es lästig gewesen sein würde, dergleichen Kleider herbeizuschaffen, half der Hofrat aus mit seiner eigenen reichen Garderobe. – Offenbar wollte der Hofrat diese Zeit hindurch (das Fest dauerte zwei bis drei Tage) in Rückerinnerungen der alten Jugendzeit recht schwelgen.

In einer Seitenallee begegneten sich Ernst und Willibald. Beide sahen sich eine Weile schweigend an und brachen dann in ein helles Gelächter aus. „Du kommst mir vor“, rief Willibald, „wie ,der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier’.“ „Und mich dünkt“, erwiderte Ernst, „ich hätte dich schon in der ,Asiatischen Banise’ erblickt.“ – „Aber in der Tat“, fuhr Willibald fort, „des alten Hofrats Einfall ist so übel nicht. Er will nun einmal sich selbst mystifizieren, er will eine Zeit hervorzaubern, in der er wahrhaft lebte, unerachtet er noch jetzt, ein munterer starker Greis mit unverwüstlicher Lebenskraft und herrlicher Frischheit des Geistes, an Erregbarkeit und fantasiereicher Laune es manchem vor der Zeit abgestumpften Jünglinge zuvortut. Er darf nicht dafür sorgen, daß jemand in Wort und Gebärde aus dem Kostüm falle, denn dafür steckt jeder eben in den Kleidern, die ihm das ganz unmöglich machen. Sieh nur, wie jüngferlich und zunferlich unsere jungen Damen in ihren Reifröcken einhertrippeln, wie sie sich des Fächers zu bedienen wissen. – Wahrhaftig, mich selbst ergreift unter der Perücke, die ich auf meinen Titus gestülpt, ein ganz besonderer Geist altertümlicher Courtoisie; da ich eben das allerliebste Kind, des Geheimen Rates Foerd jüngste Tochter, die holde Julia, erblicke, so weiß ich gar nicht, was mich abhält, mich ihr in demütiger Stellung zu nahen und mich also zu applizieren und explizieren: ,Allerschönste Julia! wenn wird mir doch die längst gewünschte Ruhe durch deine Gegenliebe gewährt werden! Es ist ja unmöglich, daß den Tempel dieser Schönheit ein steinerner Abgott bewohnen könne. Den Marmor bezwingt der Regen, und der Diamant wird durch schlechtes Blut erweichet; dein Herz will aber einem Ambosse gleichen, welches sich nur durch Schläge verhärtet; je mehr nun mein Herze klopfet, je unempfindlicher wirst du. Laß mich doch das Ziel deines Blicks sein, schaue doch, wie mein Herz kocht und meine Seele nach der Erquickung lechzet, welche aus deiner Anmut quillt. Ach! – willst du mich durch Schweigen betrüben, unempfindliche Seele? Die toten Felsen antworten ja den Fragenden durch ein Echo, und du willst mich Trostlosen keiner Antwort würdigen? – O Allerschönste –’“ – „Ich bitte dich“, unterbrach hier Ernst den Freund, der mit dem wunderlichsten Gebärdenspiel das alles gesprochen, „ich bitte dich, halt ein, du bist nun einmal wieder in deiner tollen Laune und merkst nicht, wie Julie, erst sich uns freundlich nähernd, mit einemmal ganz scheu ausbog. Ohne dich zu verstehen, glaubt sie gewiß, so wie alle in gleichem Fall, schonungslos von dir bespöttelt zu sein, und so bewährst du deinen Ruf als eingefleischten ironischen Satan und ziehst mich neuen Ankömmling ins Unglück, denn schon sprechen alle mit zweideutigem Seitenblick und bittersüßem Lächeln: ,Es ist Willibalds Freund.’“ – „Laß es gut sein“, sprach Willibald, „ich weiß es ja, daß viele Leute, zumal junge hoffnungsvolle Mädchen von sechzehn, siebzehn Jahren, mir sorglich ausweichen, aber ich kenne das Ziel, wohin alle Wege führen, und weiß auch, daß sie dort mir begegnend oder vielmehr mich wie im eignen Hause angesiedelt treffend, recht mit vollem freundlichen Gemüt mir die Hand reichen werden.“ – „Du meinst“, sprach Ernst, „eine Versöhnung, wie im ew’gen Leben, wenn der Drang des Irdischen abgeschüttelt.“ – „O ich bitte dich“, unterbrach ihn Willibald, „laß uns doch gescheut sein und nicht alte, längst besprochene Dinge aufs neue und gerade zur ungünstigsten Stunde aufrühren. Ungünstig für derlei Gespräche nenne ich nämlich deshalb eben diese Stunden, weil wir gar nichts Besseres tun können, als uns dem seltsamen Eindruck alles des Wunderlichen, womit uns Reutlingers Laune wie in einen Rahmen eingefaßt hat, hingeben. Siehst du wohl jenen Baum, dessen ungeheure weiße Blüten der Wind hin und herschüttelt? – Cactus grandiflorus kann es nicht sein, denn der blüht nur mitternachts, und ich spüre auch nicht das Aroma, welches sich bis hierher verbreiten müßte. – Weiß der Himmel, welchen Wunderbaum der Hofrat wieder in sein Tusculum verpflanzt hat.“ – Die Freunde gingen auf den Wunderbaum los und wunderten sich in der Tat nicht wenig, als sie einen dicken dunklen Holunderbusch trafen, dessen Blüten nichts anders waren als hineingehängte weißgepuderte Perücken, die mit ihren darangehängten Haarbeuteln und Zöpfchen, ein kurioses Spielzeug des launigten Südwinds, auf und nieder schaukelten. Lautes Lachen verkündete, was hinter den Büschen verborgen. Eine ganze Gesellschaft alter gemütlicher lebenskräftiger Herren hatte sich auf einem breiten, von buntem Buschwerk umgebenen Rasenplatz versammelt. Die Röcke ausgezogen, die lästigen Perücken in den Holunder gehängt, schlugen sie Ballon. Aber niemand übertraf den Hofrat Reutlinger, der den Ballon bis zu einer unglaublichen Höhe und so geschickt zu treiben wußte, daß er jedesmal dem Gegenspieler schlaggerecht niederfiel. In dem Augenblick ließ sich eine abscheuliche Musik von kleinen Pfeifen und dumpfen Trommeln hören. Die Herren endeten schnell ihr Spiel und griffen nach ihren Röcken und Perücken. „Was ist denn das nun wieder?“ sprach Ernst. „Ich wette“, erwiderte Willibald, „der türkische Gesandte zieht ein.“ – „Der türkische Gesandte?“ frug Ernst ganz erstaunt. „So nenne ich“, fuhr Willibald fort, „den Baron von Exter, der sich in G. aufhält und den du noch viel zuwenig gesehen hast, um in ihm nicht eins der wunderlichsten Originale zu erkennen, die es geben mag. Er ist ehemals Gesandter unseres Hofes in Konstantinopel gewesen, und noch immer sonnt er sich in dem Reflex dieser wahrscheinlich genußreichsten Frühlingszeit seines Lebens. Seine Beschreibung des Palastes, den er in Pera bewohnte, erinnert an die diamantnen Feenpaläste in ,Tausendundeiner Nacht’ und seine Lebensweise an den weisen König Salomo, dem er auch darin gleichen will, daß er sich wirklich der Herrschaft über unbekannte Naturkräfte rühmt. In der Tat hat dieser Baron Exter, seiner lügnerischen Prahlerei, seiner Scharlatanerie unerachtet, doch etwas Mystisches, das mich wenigstens in drolligem Abstich mit seiner äußern, etwas skurrilen Erscheinung oft wirklich mystifiziert. Davon, ich meine von seinem wirklich mystischen Treiben geheimer Wissenschaften, rührt auch seine enge Verbindung mit Reutlingern her, der diesem Wesen ganz ergeben ist mit Leib und Seele. – Beide sind wunderliche Träumer, aber jeder auf seine Weise, übrigens aber entschiedene Mesmerianer.“ – Unter diesem Gespräch waren die Freunde bis an des Gartens großes Gattertor gelangt, durch welches soeben der türkische Gesandte einzog. Ein kleiner rundlicher Mann, mit einem schönen türkischen Pelz und hohem, aus farbigten Shawls aufgewickeltem Turban angetan. Aus Gewohnheit hatte er sich aber nicht von der enganschließenden Zopfperücke mit kleinen Löckchen, aus Bedürfnis nicht von den filznen Podagristenstiefeln trennen können, wodurch freilich das türkische Kostüm schwer verletzt wurde. Seine Begleiter, die das abscheuliche musikalische Geräusch machten und in denen Willibald trotz der Vermummung Exters Koch und anderes Hausgesinde erkannte, waren zu Mohren angerußt und trugen spitze gemalte Papiermützen, den Sanbenitos nicht unähnlich, welches drollig genug aussah. Den türkischen Gesandten führte am Arm ein alter Offizier, nach seiner Tracht von irgendeinem Schlachtfelde des Siebenjährigen Krieges erwacht und erstanden. Es war der General Rixendorf, Kommandant von G., der dem Hofrat zu Gefallen samt seinen Offizieren sich in das alte Kostüm geworfen hatte. „Salama milek!“ sprach der Hofrat, den Baron Exter umarmend, der sofort den Turban abnahm und ihn wieder auf die Perücke stülpte, nachdem er sich den Schweiß von der Stirne mit einem ostindischen Tuch weggetrocknet. In dem Augenblick bewegte sich auch in den Zweigen eines Spätkirschenbaums der goldstrahlende Fleck, den Ernst schon lange betrachtet hatte, ohne enträtseln zu können, was da oben sitze. Es war bloß der Geheime Kommerzienrat Harscher in einem goldstoffnen Ehrenkleide, ebensolchen Beinkleidern und silberstoffner, mit blauen Rosenbouketts bestreuter Weste, der nun sich aus den Blättern des Kirschbaums entwickelte und, für sein Alter behende genug, auf der angelehnten Leiter herabstieg und, mit ganz feiner, etwas quäkender Stimme singend oder vielmehr kreischend: „Ah! che vedo – o dio che sento!“, dem türkischen Gesandten in die Arme eilte. Der Kommerzienrat hatte seine Jugendzeit in Italien zugebracht, war ein großer Musikus und wollte noch immer mittelst eines lang geübten Falsetts singen wie Farinelli. „Ich weiß“, sprach Willibald, „daß Harscher sich die Taschen mit Spätkirschen vollgestopft hat, die er, irgendein Madrigal süß lamentierend, den Damen präsentieren wird. Da er aber wie Friedrich der Zweite den Spaniol ohne Dose in der Tasche ausgeschüttet trägt, wird er mit seiner Galanterie nur widerwilliges Ablehnen und finstre Gesichter einernten.“ – Überall war nun der türkische Gesandte sowie der Held des Siebenjährigen Krieges mit Freude und Jubel empfangen worden. Letzterer wurde von Julchen Foerd mit kindlicher Demut begrüßt, tief beugte sie sich vor dem alten Herrn und wollte ihm die Hand küssen, da sprang aber der türkische Gesandte wild dazwischen, rief: „Narrheiten, tolles Zeug!“, umarmte Julchen mit Heftigkeit, wobei er dem Kommerzienrat Harscher sehr hart auf die Füße trat, der aber vor Schmerz nur ein ganz klein wenig miaute, und rannte dann mit Julien, die er unter den Arm gefaßt, davon. – Man sah, daß er sehr eifrig mit den Händen focht, den Turban auf- und abstülpte und so weiter. „Was hat der Alte mit dem Mädchen vor?“ sprach Ernst. „In der Tat“, erwiderte Willibald, „es scheint Wichtiges, denn ist Exter gleich des Mädchens Pate und ganz vernarrt in sie, so pflegt er doch nicht sogleich aus der Gesellschaft mit ihr davonzulaufen.“ – In dem Augenblick blieb der türkische Gesandte stehen, streckte den rechten Arm weit von sich und rief mit starker Stimme, daß es im ganzen Garten widerhallte: „Apporte!“ – Willibald brach in ein lautes Gelächter aus. – „Wahrhaftig“, sprach er dann, „es ist weiter nichts, als daß Exter Julien zum tausendstenmal die merkwürdige Geschichte vom Seehunde erzählt.“ Ernst wollte diese merkwürdige Geschichte durchaus wissen. „Erfahre denn“, sprach Willibald, „daß Exters Palast dicht am Bosporus lag, so daß Stufen von dem feinsten karrarischen Marmor hinabführten ins Meer. Eines Tages steht Exter auf der Galerie, in die tiefsinnigsten Betrachtungen versunken, aus denen ihn ein durchdringender gellender Schrei hinausreißt. Er schaut hinab, und siehe, ein ungeheurer Seehund ist aus dem Meer hinaufgetaucht und hat einem armen türkischen Weibe, die auf den Marmorstufen saß, den Knaben von dem Arm hinabgerissen, mit dem er eben abfährt in die Meereswellen. Exter eilt hinab, das Weib fällt ihm trostlos weinend und heulend zu Füßen. Exter besinnt sich nicht lange, er tritt dicht ans Meer auf die letzte Stufe, streckt den Arm aus und ruft mit starker Stimme: ,Apporte!’ – Sogleich steigt der Seehund aus der Tiefe des Meers, im weiten Maule den Knaben, den er zierlich und geschickt, wie auch ganz unversehrt, dem Magier überreicht und sodann, jedem Dank ausweichend, sich wieder entfernt, in das Meer niedertaucht.“ – „Das ist stark – das ist stark“, rief Ernst. „Siehst du wohl“, fuhr Willibald fort, „siehst du wohl, wie Exter jetzt einen kleinen Ring vom Finger zieht und ihn Julien zeigt? Keine Tugend bleibt unbelohnt! – Außer dem, daß Exter dem türkischen Weibe den Knaben gerettet hatte, so beschenkte er sie noch, als er vernahm, daß ihr Mann, ein armer Lastträger, kaum das tägliche Brot zu verdienen vermochte, mit einigen Juwelen und Goldstücken, freilich nur eine Lumperei, höchstens zwanzig- bis dreißigtausend Taler an Wert; darauf zog das Weib einen kleinen Saphir vom Finger und drang ihn Extern auf mit der Versicherung, es sei ein teures ererbtes Familienstück, das nur durch Exters Tat gewonnen werden könne. Exter nahm den Ring, der ihm von geringem Werte schien, und erstaunte nicht wenig, als er später durch eine kaum sichtbare arabische Inschrift an des Ringes Reif belehrt wurde, daß er des großen Alis Siegelring am Finger trage, mit dem er jetzt zuweilen Mahomeds Tauben heranlockt und mit ihnen konversiert.“ – „Das sind ganz erstaunliche Dinge“, rief Ernst lachend, „doch laß uns sehen, was dort in dem geschlossenen Kreise vorgeht, in dessen Mitte ein klein Ding wie ein kartesianisches Teufelchen auf- und niedergaukelt und quinkeliert.“ – Die Freunde traten auf einen runden Rasenplatz, ringsumher saßen alte und junge Herren und Damen, in der Mitte sprang ein sehr bunt gekleidetes, kaum vier Fuß hohes Dämchen mit einem etwas zu großen Apfelköpfchen umher und schnippte mit den Fingerchen und sang mit einem ganz kleinen, dünnen Stimmchen: „Amenez vos troupeaux, bergères!“ – „Solltest du wohl glauben“, sprach Willibald, „daß dies putzige Figurchen, die so überaus naiv und charmant tut, Juliens ältere Schwester ist? Du merkst, daß sie leider zu den Weibern gehört, die die Natur mit recht bittrer Ironie mystifiziert, indem sie, trotz alles Sträubens zu ewiger Kindheit verdammt, vermöge ihrer Figur und ihres ganzen Wesens im Alter noch mit jener kindischen Naivität kokettierend, sich und andern herzlich zur Last werden müssen, wobei es denn oft an gehöriger Verhöhnung nicht mangelt.“ – Beiden Freunden wurde das Dämchen mit ihrer französischen Faselei recht fatal, sie schlichen daher fort, wie sie gekommen, und schlossen sich lieber an den türkischen Gesandten an, der sie fortführte in den Saal, wo eben, da die Sonne schon niedersank, alles zu der Musik vorbereitet wurde, die man heute zu geben im Sinne hatte. Der Oesterleinische Flügel wurde geöffnet und jedes Pult für die Künstler an seinen Ort gestellt. Die Gesellschaft sammelte sich nach und nach, Erfrischungen wurden herumgereicht in altem reichen Porzellan; dann ergriff Reutlinger eine Geige und führte mit Geschicklichkeit und Kraft eine Sonate von Corelli aus, wozu ihn der General Rixendorf auf dem Flügel begleitete, dann bewährte sich der goldstoffne Harscher als Meister auf der Theorbe. Hierauf begann die Geheime Rätin Foerd eine große italienische Szene von Anfossi mit seltenem Ausdruck. Die Stimme war alt, tremulierend und ungleich, aber noch wurde alles dieses durch die ihr eigne Meisterschaft des Gesanges besiegt. In Reutlingers verklärtem Blick glänzte das Entzücken längst vergangener Jugend. Das Adagio war geendet, Rixendorf begann das Allegro, als plötzlich die Tür des Saals aufgerissen wurde und ein junger wohlgekleideter Mensch von hübschem Ansehen ganz erhitzt und atemlos hinein- und zu Rixendorfs Füßen stürzte. „O Herr General! – Sie haben mich gerettet – Sie allein – es ist alles gut – alles gut! O mein Gott, wie soll ich Ihnen denn danken.“ So schrie der junge Mensch wie außer sich, der General schien verlegen, er hob den jungen Menschen sanft auf und führte ihn mit beschwichtigenden Worten heraus in den Garten. Die Gesellschaft war von dem Auftritt überrascht worden, jeder hatte in dem Jüngling den Schreiber des Geheimen Rates Foerd erkannt und schaute diesen mit neugierigen Blicken an. Der nahm aber eine Prise nach der andern und sprach mit seiner Frau französisch, bis er endlich, da ihm der türkische Gesandte näher auf den Leib rückte, rundheraus erklärte: „Ich weiß, Hochzuverehrende! durchaus mir nicht zu erklären, welcher böse Geist meinen Max hier so plötzlich mit exaltierten Danksagungen hineingeschleudert hat, werde aber sogleich die Ehre haben –“ Damit schlüpfte er zur Türe heraus, und Willibald folgte ihm auf dem Fuße. Das dreiblättrige Kleeblatt der Foerdschen Familie, nämlich die drei Schwestern Nannette, Clementine und Julie, äußerten sich auf ganz verschiedene Weise. Nannette ließ den Fächer auf- und niederrauschen, sprach von Etourderie und wollte endlich wieder singen: „Amenez vos troupeaux“, worauf aber niemand achtete. Julie war abseits in den Winkel getreten, und der Gesellschaft den Rücken zugewendet, war es, als wolle sie nicht allein ihr glühendes Gesicht, sondern auch einige Tränen verbergen, die ihr, wie man schon bemerkt, in die Augen getreten. „Freude und Schmerz verwunden mit gleichem Weh die Brust des armen Menschen, aber färbt der dem verletzenden Dorn nachquillende Blutstropfe nicht mit höherem Rot die verbleichende Rose?“ So sprach mit vielem Pathos die jeanpaulisierende Clementine, indem sie verstohlen die Hand eines hübschen jungen, blonden Menschen faßte, der gar zu gern sich aus den Rosenbanden, womit ihn Clementine bedrohlich umstrickt und in denen er etwas zu spitze Dornen verspürt hatte, losgewickelt. Der lächelte aber etwas fade und sprach nur: „O ja, Beste!“ – Dabei schielte er nach einem seitwärts stehenden Glase Wein, welches er gern auf Clementinens sentimentalen Spruch geleert. Das ging aber nicht, da Clementine seine linke Hand festhielt, er aber mit der Rechten soeben das Besitztum eines Stücks Kuchen ergriffen. In dem Augenblick trat Willibald zur Saaltür herein, und alles stürzte auf ihn zu mit tausend Fragen, wie, was, warum und woher? Er wollte durchaus nichts wissen, zog aber ein verschmitzteres Gesicht als jemals. Man ließ nicht ab von ihm, weil man deutlich bemerkt, daß er im Garten sich mit dem Geheimen Rat Foerd zum General Rixendorf und zum Schreiber Max gesellt und heftig mitgesprochen hatte. „Soll ich denn“, fing er endlich an, „soll ich denn in der Tat die wichtigste aller Begebenheiten vor der Zeit ausplaudern, so muß es mir vergönnt werden, zuvörderst an Sie, meine hochzuverehrenden Damen und Herren, einige Fragen zu richten.“ – Man erlaubte das gern. „Ist Ihnen“, fuhr Willibald nun pathetisch fort, „ist Ihnen nicht allen der Schreiber des Herrn Geheimen Rat Foerd, Max geheißen, als ein wohlgebildeter, von der Natur reichlich ausgestatteter Jüngling bekannt?“ – „Ja, ja, ja!“ rief der Chor der Damen. „Ist Ihnen“, frug Willibald weiter, „ist Ihnen nicht sein Fleiß, seine wissenschaftliche Bildung, seine Geschicklichkeit im Geschäft bekannt?“ – „Ja – ja!“ rief der Chor der Herren, und wieder „ja, ja, ja!“ der vereinigte Chor der Herren und Damen, als Willibald noch frug, ob Max nicht weiter als der aufgeweckteste Kopf, voller Possen und Schnurren, sowie endlich als solch geschickter Zeichner bekannt sei, daß Rixendorf, der als Dilettant in der Malerei Ungewöhnliches leiste, es nicht verschmäht habe, selbst ihm zweckmäßigen Unterricht zu erteilen. „Es begab sich“, erzählte nun Willibald, „daß vor einiger Zeit ein junges Meisterlein von der ehrsamen Schneiderzunft seine Hochzeit feierte. Es ging dabei hoch her, Bässe schnurrten, Trompeten schmetterten durch die Gasse. Mit rechter Wehmut sah des Herrn Geheimen Rats Bedienter Johann zu den erleuchteten Fenstern herauf, das Herz wollte ihm springen, wenn er unter den Tanzenden Jettchens Tritte zu vernehmen glaubte, die, wie er wußte, auf der Hochzeit war. Als nun aber Jettchen wirklich zum Fenster herausguckte, da konnte er es nicht länger aushalten, er lief nach Hause, warf sich in seinen besten Staat und ging keck herauf in den Hochzeitsaal. Er wurde wirklich zugelassen, freilich unter der schmerzlichen Bedingung, daß im Tanz jeder Schneider vor ihm den Vorzug haben sollte, wodurch er freilich auf die Mädchen angewiesen wurde, mit denen ob ihrer Häßlichkeit oder sonstigen Untugenden niemand tanzen mochte. Jettchen war auf alle Tänze versagt, aber sowie sie den Geliebten sah, vergaß sie alles, was sie versprochen, und der beherzte Johann stieß das dünnleibige Schneiderlein, das ihm Jettchen abtrotzen wollte, zu Boden, daß es über und über purzelte. Dies gab das Signal zum allgemeinen Aufstande. Johann wehrte sich wie ein Löwe, Rippenstöße und Ohrfeigen nach allen Seiten austeilend, doch er mußte der Menge seiner Feinde erliegen und wurde auf schmähliche Weise von Schneidergesellen die Treppe herabgeworfen. Voll Wut und Verzweiflung wollte er die Fenster einwerfen, er schimpfte und fluchte, da kam Max, der nach Hause ging, des Weges und befreite den unglücklichen Johann aus den Händen der Scharwacht, die eben über ihn herzufallen im Begriff stand. Nun klagte Johann sein Unglück und wollte durchaus nicht abstehen von tumultuarischer Rache, doch gelang es endlich dem klügern Max, ihn zu beruhigen, wiewohl nur unter dem Versprechen, daß er sich seiner annehmen und die ihm geschehene Unbill so rächen wolle, daß er ganz gewiß zufrieden sein werde.“ – Willibald hielt plötzlich ein. – „Nun? – nun? Und weiter? – Eine Schneiderhochzeit – ein Liebespaar – Prügel – was soll das dann werden?“ So rief es von allen Seiten. „Erlauben Sie“, fuhr Willibald fort, „erlauben Sie, Hochzuverehrende! zu bemerken, daß, um mit dem berühmten Weber Zettel zu reden, in dieser Komödie von Johann und Jettchen Dinge vorkommen, die nimmermehr gefallen werden. – Es könnte sogar wider den feinsten Anstand gesündigt werden.“ – „Sie werden’s schon einzurichten wissen, lieber Herr Willibald“, sprach die alte Stiftsrätin von Krain, indem sie ihn auf die Schulter klopfte, „ich für meinen Teil kann einen Puff vertragen.“ – „Der Schreiber Max“, erzählte Willibald weiter, „setzte sich andern Tages hin, nahm ein großes schönes Blatt Velinpapier, Bleifeder und Tusche und zeichnete mit der vollendetsten Wahrheit einen großen stattlichen Ziegenbock hin. Die Physiognomie dieses wunderbaren Tiers gab jedem Physiognomen reichlichen Stoff zum Studium. In dem Blick der geistreichen Augen lag etwasÜberschwengliches, wiewohl um das Maul und um den Bart herum einige Konvulsionen zitternd zu spielen schienen. Das Ganze zeugte von innerer unaussprechlicher Qual. In der Tat war auch der gute Bock beschäftigt, auf eine sehr natürliche, wiewohl schmerzliche Weise ganz kleine allerliebste, mit Schere und Bügeleisen bewaffnete Schneiderlein zur Welt zu befördern, die in den wunderlichsten Gruppen ihre Lebenstätigkeit bewiesen. Unter dem Bilde stand ein Vers, den ich leider vergessen, doch irr ich nicht, so hieß die erste Zeile: ‚Ei, was hat der Bock – gegessen.‘ Ich kann übrigens versichern, daß dieser wunderbare Bock –“ – „Genug – genug“, riefen die Damen, „genug von dem garstigen Tier – von Max, von Max wollen wir hören.“ – „Besagter Max“, nahm Willibald das Wort wieder auf, „besagter Max gab das wohlausgeführte und vollkommen geratene Tableau dem gekränkten Johann, der es so geschickt an die Schneiderherberge anzuheften wußte, daß einen ganzen Tag hindurch das müßige Volk nicht von dem Bildnis wegkam. Die Straßenjungen schwenkten jubelnd die Mützen und tanzten jedem Schneiderlein, das sich sehen ließ, hinterher und sangen und kreischten gewaltig: ‚Ei, was hat der Bock gegessen.’ – ‚Niemand anders hat das Blatt gezeichnet als des Geheimen Rats Max’, sagten die Maler, ‚niemand hat die Worte geschrieben als des Geheimen Rats Max’, riefen die Schreibmeister, als die ehrsame Schneiderzunft die nötigen Erkundigungen einzog. Max wurde verklagt und sah, da er nicht wohl leugnen konnte, einer empfindlichen Gefängnisstrafe entgegen. Da rannte er voll Verzweiflung zu seinem Gönner, dem General Rixendorf; bei allen Advokaten war er schon gewesen. Die runzelten die Stirn, schüttelten die Köpfe und sprachen von hartnäckigem Ableugnen und so weiter, was dem ehrlichen Max nicht wohlgefiel. Der General sprach dagegen: ‚Du hast einen dummen Streich gemacht, lieber Sohn! die Advokaten werden dich nicht retten, aber ich, und bloß darum, weil in deinem Bilde, das ich bereits gesehen, korrekte Zeichnung und verständige Anordnung ist. Der Bock, als Hauptfigur, hat Ausdruck und Haltung, so wie die bereits auf dem Boden liegenden Schneider eine gute Pyramidalgruppe bilden, die reich ist, ohne das Auge zu verwirren. Sehr weise hast du den im Schmerz der Quetschung sich hervorarbeitenden Schneider wieder als Hauptfigur der untern Gruppe behandelt, in seinem Gesicht liegt laokoontisches Weh! Ebenso rühmlich ist es, daß die fallenden Schneider nicht etwa schweben, sondern wirklich fallen, wiewohl nicht aus dem Himmel; manche zu gewagte Verkürzungen sind recht hübsch durch die Bügeleisen maskiert, auch hast du mit reger Phantasie die Hoffnung neuer Geburten angedeutet.’“ – Die Damen fingen an ungeduldig zu murmeln, und der Goldstoffne lispelte: „Aber Maxens Prozeß, Verehrter?“ – „‚Indessen nimm mir’s nicht übel’, sprach der General“, (so fuhr Willibald fort), „‚die Idee des Bildes ist nicht die deinige, sondern uralt; doch das ist es eben, was dich rettet.’ Mit diesen Worten kramte der General in seinem alten Schreibschranke, holte einen Tabaksbeutel hervor, auf dem sich Maxens Gedanke sauber, und zwar beinahe ganz nach Maxens Weise ausgeführt befand, überließ denselben seinem Liebling zum Gebrauch, und nun war alles gut.“ – „Wie das, wie das?“ rief alles durcheinander, aber die Juristen, die sich in der Gesellschaft befanden, lachten laut, und der Geheime Rat Foerd, der unterdessen auch hineingetreten war, sprach lächelnd: „Er leugnete den animum injuriandi, die Absicht zu beleidigen, und wurde freigesprochen.“ – „Will soviel heißen“, fiel Willibald ihm in die Rede, „als daß Max sprach: ‚Ich kann nicht leugnen, daß das Bild von meiner Hand ist; absichtslos und ohne irgend die von mir so hochverehrte Schneiderzunft kränken zu wollen, kopierte ich das Blatt nach dem Original, das ich hier mit diesem Tabaksbeutel, der dem General Rixendorf, meinem Lehrer in der Zeichenkunst, gehört, überreiche. Einige Variationen habe ich meiner schaffenden Fantasie zu danken. Das Bild ist mir aus den Händen gekommen, ich habe es weder jemanden sonst gezeigt noch gar etwa angeheftet. Über diesen Umstand, in dem allein die Injurie liegt, erwarte ich den Nachweis.’ – Diesen Nachweis ist die ehrsame Schneiderzunft schuldig geblieben und Max heute freigesprochen worden. Daher sein Dank, seine unmäßige Freude.“ – Man fand allgemein, daß doch die halb wahnsinnige Art und Weise, wie Max seinen Dank geäußert, durch die erzählten Umstände nicht ganz motiviert werde, nur die Geheime Rätin Foerd sprach mit bewegter Stimme: „Der Jüngling hat ein leicht verwundbares Gemüt und ein zarteres Ehrgefühl als je ein anderer. Körperliche Strafe erdulden zu müssen hätte ihn elend gemacht, ihn auf immer von G. vertrieben.“ – „Vielleicht“, fiel Willibald ein, „liegt hier noch etwas ganz Besonderes im Hintergrunde.“ – „So ist es, lieber Willibald“, sprach Rixendorf, der hineingetreten war und die Worte der Geheimen Rätin vernommen hatte, „so ist es, und will es Gott, so soll sich bald alles recht hell und fröhlich aufklären.“ – Clementine fand die ganze Geschichte sehr unzart, Nannette dachte gar nichts, aber Julie war sehr heiter geworden. Jetzt ermunterte Reutlinger die Gesellschaft zum Tanze. Sogleich spielten vier Theorbisten, unterstützt von ein paar Zinken, Violinen und Bässen, eine pathetische Sarabande. Die Alten tanzten, die Jungen schauten zu. Der Goldstoffne zeichnete sich aus durch zierliche und gewagte Sprünge. Der Abend ging ganz heiter hin, so auch der andere Morgen. Wie gestern sollte auch heute Konzert und Ball den festlichen Tag beschließen. Der General Rixendorf saß schon am Flügel, der Goldstoffne hatte die Theorbe im Arm, die Geheime Rätin Foerd die Partie in der Hand. Man wartete nur auf die Rückkehr des Hofrats Reutlinger. Da hörte man im Garten ängstlich rufen und sah die Bedienten herausrennen. Bald trugen sie den Hofrat mit geisterbleichem entstelltem Gesicht herein, der Gärtner hatte ihn unweit des Herzpavillons in tiefer Ohnmacht auf der Erde liegend gefunden. – Mit einem Schrei des Entsetzens sprang Rixendorf auf vom Flügel. Man eilte herbei mit spirituösen Mitteln, man fing an, dem Hofrat, der auf einem Kanapee lag, die Stirne mit Kölnischem Wasser zu reiben, der türkische Gesandte stieß aber alle zurück, indem er unaufhörlich rief: „Zurück, zurück, ihr unwissenden ungeschickten Leute! – ihr macht mir den kerngesunden, muntern Hofrat nur matt und elend!“ – Damit schleuderte er seinen Turban über alle Köpfe weg in den Garten hinein, den Pelz hinterher. Nun beschrieb er mit der flachen Hand seltsame Kreise um den Hofrat, die, enger und enger werdend, zuletzt beinahe Schläfe und Herzgrube berührten. Dann hauchte er den Hofrat an, der sogleich die Augen aufschlug und mit matter Stimme sprach: „Exter! Du hast nicht gut getan, mich zu wecken! – Die dunkle Macht hat mir den nahen Tod verkündet, und vielleicht war es mir vergönnt, in dieser tiefen Ohnmacht hineinzuschlummern in den Tod.“ – „Possen, Träumer“, rief Exter, „deine Zeit ist noch nicht gekommen. Schau dich nur um, Herr Bruder, wo du bist, und sei fein munter, wie es sich schickt.“ – Der Hofrat wurde nun gewahr, daß er sich im Saal in voller Gesellschaft befand. Er hob sich rüstig vom Kanapee, trat in die Mitte des Saals und sprach mit anmutigem Lächeln: „Ich gab Ihnen ein böses Schauspiel, Verehrte! aber an mir lag es nicht, daß das ungeschickte Volk mich gerade in den Saal trug. Lassen Sie uns über das störende Intermezzo schnell hinweggehen, lassen Sie uns tanzen!“ – Die Musik begann sofort, aber als sich alles in der ersten Menuett pathetisch wandte und drehte, verschwand der Hofrat mit Exter und Rixendorf aus dem Saal. Als sie in ein entferntes Zimmer gekommen, warf sich Reutlinger erschöpft in einen Lehnsessel, hielt beide Hände vors Gesicht und sprach mit von Schmerz gepreßter Stimme: „Oh, meine Freunde! meine Freunde!“ Exter und Rixendorf vermuteten mit Recht, daß irgend etwas Entsetzliches den Hofrat erfaßt haben müsse und daß er sich jetzt darüber erklären werde. „Sag’s nur heraus, alter Freund“, sprach Rixendorf, „sag’s nur heraus, dir ist, Gott weiß auf welche Weise, Schlimmes im Garten begegnet.“ – „Aber“, fiel Exter ein, „ich begreife gar nicht, wie dem Hofrat heute und überhaupt in diesen Tagen Schlimmes begegnen konnte, da eben jetzt sein siderisches Prinzip reiner und herrlicher sich gestaltet als jemals.“ – „Doch, doch!“ fing der Hofrat mit dumpfer Stimme an, „Exter! es ist bald aus mit uns, der kecke Geisterseher klopfte nicht ungestraft an die dunklen Pforten. Ich wiederhole es dir, daß die geheimnisvolle Macht mich hinter den Schleier schauen ließ – der nahe, vielleicht gräßliche Tod ist mir verkündet.“ – „So erzähle nur, was dir geschah“, fiel Rixendorf ihm ungeduldig in die Rede, „ich wette, daß alles auf eine wunderliche Einbildung hinausläuft, ihr verderbt euch beide das Leben mit euern Fantastereien, du und Exter.“

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