Ein Student der University of Minnesota erlebt an der Freien Universität Berlin das bewegte Jahr 1968
Von Marc Silberman
Im Herbst 1965 immatrikulierte ich mich an der University of Minnesota in Minneapolis, einer der großen staatlichen Universitäten im Mittleren Westen der USA. Nach anfänglicher Verwirrung wählte ich aus Liebe zur Literatur die Hauptfächer Deutsch und Französisch; damals waren Thomas Mann, Franz Kafka, Albert Camus, Blaise Pascal meine Lieblingsautoren. Zwei Jahre später, im Juni 1967, erfuhr ich, dass mein Antrag auf ein Kulturaustauschstipendium für die Freie Universität Berlin erfolgreich war und flog am 30. Juli nach Europa, zunächst zu einem zweimonatigen Sommersprachkurs, der vom Goethe-Institut in Detmold abgehalten wurde. Die Kursleiterin, eine fortgeschrittene Studentin aus Westberlin, war für uns nicht nur eine kompetente Sprachlehrerin, sie teilte auch den Enthusiasmus und die Empörung der gleichzeitig stattfindenden studentischen Protestwelle in Berlin. Für mich mit meinen neunzehn Jahren – politisch nicht unbeleckt, aber doch etwas naiv – war das beeindruckend.
Obwohl ich als Schüler in der Bürgerrechtsbewegung Erfahrungen mit friedlichen Demonstrationen gesammelt und mir eine Anti-Vietnam-Kriegshaltung angeeignet hatte, auch weil meine Einberufung ins Militär im Alter von achtzehn Jahren nur durch ein Studium abgewehrt werden konnte, betrachtete ich die Ereignisse des Sommers 1967 als eine Gelegenheit, meinen politischen Horizont zu erweitern. Dazu gehörten vor allem die Erschießung von Benno Ohnesorg am 2. Juni während des Besuchs des Schahs von Iran in Westberlin, was bundesweit zu Protesten gegen polizeiliche Gewalt führte, sodann die große Konferenz des SDS Anfang September in Frankfurt am Main, die antiautoritäre Richtung der außerparlamentarischen Opposition und der Rücktritt der politischen Führung in Westberlin Ende September (Innensenator, Polizeipräsident, Bürgermeister und der gesamte Senat) aufgrund der Vorfälle rund um den 2. Juni. All dies waren aktuelle Themen unseres Sprachunterrichts im weit entfernten Detmold und trugen wesentlich zur politischen Bildung des angehenden FU-Studenten aus den USA bei.
Anfang Oktober reiste ich weiter nach Westberlin, um ein Zimmer im Studentendorf der FU in Zehlendorf (Potsdamer Chaussee 31‒33) zu beziehen. Die Studentenbewegung hielt auch dort Einzug: Kurz nach meiner Ankunft protestierten die Studentendorfbewohner und -bewohnerinnen gegen die herrschende Geschlechtertrennung der Häuser. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion „emanzipierten“ sie sich, indem sie nach Lust und Laune die Zimmer wechselten. Kurz danach konnte ich mich als ausländischer Student an der FU immatrikulieren und Veranstaltungen belegen. Die überfüllten germanistischen Seminare und Massenvorlesungen schreckten mich anfangs ab, sodass ich Zuflucht in der Romanistik (Ihnesstraße 22) suchte, wo alles etwas überschaubarer und einladender auf mich wirkte. Nichtsdestoweniger nahm ich an den Protestveranstaltungen im Audi Max des Henry-Ford-Baus teil (Garystraße, Ecke Boltzmannstraße). Vor allem die Entscheidung, eine „kritische Universität“ einzurichten, die im November überall in den Räumen der Uni umgesetzt wurde, war ein Novum für mich. Zugleich brachen die nicht mehr nur friedlichen Demonstrationen in Westberlin an: am Ku’damm gegen den Krieg in Vietnam, vor dem Kriminalgericht in Moabit, wo Fritz Teufel wegen Landfriedensbruch am 2. Juni vorgeladen war, gegen die im Bundestag vorbereiteten Notstandsgesetze. Hier sah ich berittene Polizei, Polizei in voller Kampfmontur, mit Wasserwerfern im Einsatz ‒ für mich etwas ganz Neues.
Aber auch Ostdeutschland bzw. Ostberlin interessierten mich, ein undeutlicher, aber verlockender Ort hinter dem „Eisernen Vorhang“. Bis dahin hatte ich noch keine literarischen Texte aus der DDR gelesen und auch keine aus der Zeit nach 1933, lediglich einige Exil-Autoren. Außer der Spaltung Deutschlands nach dem Krieg wusste ich wenig über dieses „andere Deutschland“, ein Aspekt, der sich im Laufe des Austauschjahres als eine gemeinsame Lücke in der Ausbildung von uns FU-Studierenden herausstellte und der mit ein Grund für die studentischen Unruhen war. Die Schullehrpläne und das germanistische Curriculum vermieden damals noch alles Problematische der jüngsten Vergangenheit. Dies führte dazu, dass die Studierenden anfingen, die Vergangenheit ihrer Eltern und Professoren zu erforschen, wobei sie peinliche Erkenntnisse ans Licht brachten. Jedenfalls bin ich via Bahnhof Friedrichstraße nach Ostberlin gefahren, habe den Zwangsumtausch von 5 DM geleistet und traf auf Anhieb einige junge Menschen in einer bekannten Eckkneipe in der Friedrichstraße 116, die mich unter ihre Fittiche nahmen. Für sie war ich ein Exot, der Geschichten und Informationen aus Westberlin und den USA herüberbringen konnte, während die „116“ für mich der Zugang zu einem Kreis von kritischen, unangepassten Jugendlichen war, die tolle Partys in alten Hinterhofwohnungen im Prenzlauer Berg organisierten. Ich versuchte immer wieder, Bekannte aus dem Studentendorf mitzubringen, aber meistens weigerten sich die westdeutschen Kommilitonen; ab und zu begleiteten mich ein paar wenige ausländische Studierende. Übrigens habe ich bis heute noch Kontakt mit einigen von den damaligen Bekannten aus Ostberlin.
Aus mehreren Richtungen spitzten sich die Auseinandersetzungen im Symboljahr 1968 zu. Die Forderung verschiedener studentischer Gruppen nach einer Drittelparität von Professoren, Angestellten und Studierenden in den universitären Gremien war auf der Tagesordnung, um die autoritären Hierarchien an den Universitäten abzubauen. Der Springer Verlag, der mehrere konservative Zeitungen in Westberlin und Westdeutschland verlegte, war Ziel von gewalttätigen Demonstrationen wegen des ideologischen Aufheizens gegen linke Studenten nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April. Protestkundgebungen und Ausschreitungen in der ganzen Bundesrepublik (die sogenannten Osterunruhen) fanden statt. Und auch die Proteste gegen die Notstandsgesetze liefen weiter. In der semesterfreien Zeit verließ ich Berlin, da ich mich, um mein Französisch zu verbessern, bei der Alliance Française in Paris für einen zweimonatigen Sprachkurs eingeschrieben hatte. In der französischen Hauptstadt wurden vor allem die Entwicklungen in der Tschechoslowakei (Stichwort „Prager Frühling“) mit Sorge und Hoffnung verfolgt. Dadurch veranlasst wollte ich mir ein eigenes Bild der dortigen Zustände machen und reiste kurzerhand Anfang Mai zu einem Blitzbesuch nach Prag. Zuvor schon, zu Semesterbeginn Mitte April, war ich nach Berlin zurückgekehrt. Zu meiner großen Überraschung kam es zu den Mai-Ereignissen an der Sorbonne, die zu Straßenschlachten im Pariser Quartier Latin und schließlich zu einem Generalstreik in Frankreich führten. Erstaunlicherweise war mir während meines Parisaufenthalts verborgen geblieben, was sich dort in den Monaten davor zusammengebraut hatte! Jedoch schien es jetzt möglich, dass sich die Arbeiter und Arbeiterinnen in einem hochentwickelten Industriestaat mit Studenten und Studentinnen für grundsätzliche gesellschaftliche Änderungen mobilisierten. Dagegen hörte ich mit Entsetzen aus der Ferne von der Erschießung Martin Luther Kings Anfang April und dann zwei Monate später vom Mordanschlag auf den Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy, beide Gewalttaten empfand ich als herbe Rückschläge im eigenen Land.
Wie überall in der Bundesrepublik gab es auch an der FU „Mai-Unruhen“, welche ich aus der Nähe mitverfolgen konnte, und zwar am Germanischen Seminar, damals in der Boltzmannstraße 3 gegenüber des Henry-Ford-Baus. Im Bericht von Carsten Wette aus dem Jahr 2016 zum ersten Hauptgebäude der FU wird Folgendes festgehalten:
Aus Protest gegen die in Bonn geplante Verabschiedung der Notstandsgesetze wird am 27. Mai das Germanische Seminar besetzt und in „Rosa-Luxemburg-Seminar“ umbenannt, wie der Experte für die Geschichte der Freien Universität, der promovierte Germanist und Politologe Jochen Staadt berichtet. Auf dem Dach der Boltzmannstraße 3 wird die rote Fahne gehisst, und im Germanischen Seminar mahnen Plakate mit den Worten „Bücherklau ist konterrevolutionär“ und „Bücher sind kollektives Eigentum“. Aus Lautsprechern in den Bibliotheksfenstern dröhnen Hits der Beatles und der Rolling Stones. Die Germanistikstudenten und Provokationsexperten der Kommune I Fritz Teufel und Rainer Langhans agieren dabei als Diskjockeys, wie Jochen Staadt ausführt, der die Chronik der Freien Universität mitverantwortet. Weniger zimperlich indes gehen die Besetzer mit dem Gebäude um: Anfang Juni listet die Bauabteilung minutiös Schäden in Höhe von 19.000 D-Mark auf […].[1]
Das Sommersemester ging Mitte Juli zu Ende und wieder nahm ich die Gelegenheit wahr, meine Sprachkenntnisse durch einen Französischkurs ‒ dieses Mal in Südfrankreich ‒ zu verbessern. Die politischen Entwicklungen waren zu dieser Zeit alles andere als vielversprechend: Ende Mai hatte der Bundestag trotz aller Proteste die Notstandsverfassung gebilligt und einen Monat später trat sie in Kraft. Obwohl Ministerpräsident Georges Pompidou den Forderungen der Gewerkschaften und der Studentenschaft nachgab, löste Staatspräsident Charles de Gaulle die Nationalversammlung auf und kündigte Neuwahlen an, welche die gaullistische Union Ende Juni mit großer Mehrheit gewann. Mitte August kam es im schwarzen Wohnviertel Watts in Los Angeles zu blutigen Unruhen. Und schließlich endete der Prager Frühling am 20. August mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei. Anfang September 1968 flog ich nach Minneapolis zurück, eine Woche nach dem Konvent der Democratic Party in Chicago, wo 10.000 Soldaten der National Guard mit tausenden von Demonstranten in Konflikt gerieten, während Hubert Humphrey, der den Vietnamkrieg unterstützte, zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde.
Welche konkreten Folgen hatten die Proteste der Jahre 1967/68 für mich? Schon im Frühjahr 1968 hatte ich von Berlin aus einige Beiträge für die studentische Tageszeitung meiner Heimat-Universität, den Minnesota Daily, geschrieben, und zwar über die Vorteile von Studentenvertretungen in universitären Gremien und über Fragen der Gewalt bei Protestveranstaltungen. Jetzt wollte ich die Konsequenzen daraus ziehen. Ich schrieb mich für das letzte Jahr meines BA-Studiums ein und begann Ende September 1968 umgehend nach politisch aufgeweckten Kommilitonen zu suchen, um den Laden „aufzuräumen“. Wir hängten Wandzeitungen mit Sprüchen wie „Professoren sind Papiertiger“ und „Studenten an die Macht“ im German Department auf und forderten von der Fakultät, studentische Vertreter zu Fachratssitzungen zuzulassen. Unser Antrag wurde schnell bewilligt, aber schwieriger war es, studentische Mitstreiter zu finden, die engagiert genug waren, um mitzuarbeiten. Insgesamt machte ich die Erfahrung, dass die Hierarchien in den USA nicht so verfestigt waren wie in der BRD, dass die Fakultäten weniger aus Lehrstuhldivas, sondern eher aus umgänglichen Dozenten verschiedener Altersstufen und Hintergründe bestanden: Exil-Deutsche, darunter vertriebene Juden, Amerikaner, sogar ab und zu eine Dozentin!
Auch entdeckte ich nach meiner Rückkehr in die USA, dass die Frauenbewegung in vollem Gange war. Erst später erfuhr ich, dass im Sommer 1968 eine Gruppe von Studentinnen der FU und der Deutschen Film- und Fernsehakademie den „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ gegründet hatte, und dass auf der Delegiertenkonferenz des SDS dem Frankfurter Studentenführer Hans-Jürgen Krahl aus Protest gegen die männliche Ignoranz eine Tomate an den Kopf geworfen wurde! In den USA erkämpfte sich parallel dazu die Frauenbewegung neue politische und hochschulpolitische Partizipationsräume, darunter die 1974 in Madison gegründete „Coalition of Women in German“ (WiG) (http://www.womeningerman.org/).
Zu dem Zeitpunkt war ich schon längst als „Graduate Student“ an der Indiana University in Bloomington aufgenommen worden, wo ich mich – auch eine Konsequenz des Studienaufenthalts in Berlin – für Germanistik als Hauptfach sowohl meines Magister- als meines Promotionsstudiums entschied. Von hier aus hatte ich nochmals die Möglichkeit, das Wintersemester 1970/71 und das Sommersemester 1971 als Austauschstudent an der FU zu verbringen und so die Folgen von 1968 unmittelbar zu erleben. Ich belegte zwei Proseminare zur DDR-Literatur, die, wie ich später erfuhr, zu den ersten überhaupt in der BRD zählten. Auch erlebte ich Heiner Müller anlässlich einer Aufführung im Westberliner Schiller-Werkstatt-Theater und war sofort überzeugt, dass er ein bedeutender Stückeschreiber war. Diese Erfahrungen, verbunden mit den früheren intensiven Auseinandersetzungen mit jungen Menschen in Ostberlin, führten dazu, dass ich 1975 an der Indiana University mit einer Arbeit über den DDR-Roman der 1950er- und 1960er-Jahre promoviert wurde.[2]
Ich war natürlich nicht der einzige Germanistikstudent in den USA, den die Protestjahre 1967/68 maßgeblich beeinflussten. Das belegt unter anderem die Gründung der „International Brecht Society“. Ich selbst fand erst später zu Brecht, und zwar über Heiner-Müller-Übersetzungen ins Englische und eine Studie über Müller, die mich in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre beschäftigte. Die Gründung der „International Brecht Society“ (www.brechtsociety.org) im Jahr 1971 erfolgte aus dem wachsenden Interesse an Brechts Schriften, nachdem der Suhrkamp Verlag 1967 die „graue“ Brecht-Ausgabe in 20 Bänden veröffentlicht hatte. Nach mehreren Seminaren seit 1969 zu Brecht bei den jährlichen Tagungen der „Modern Language Association“ und dem ersten US-Brecht-Kongress 1970 in Milwaukee (Wisconsin), wo sogar Die Maßnahme mit der Musik von Hanns Eisler durch Brechts amerikanischen Übersetzer Eric Bentley aufgeführt wurde, regten führende in Madison lebende Brecht-Forscher wie Reinhold Grimm und Jost Hermand eine junge Generation in Nordamerika dazu an, sich mit Fragen der Kultur und Politik im Sinne Brechts auseinanderzusetzen. Die Brecht-Gesellschaft, obwohl organisatorisch in den USA beheimatet, ist nur ein Beispiel für das immer lebendigere Hin-und-Her zwischen Literaturwissenschaftlern aus Europa und Nordamerika, selbst in der Zeit der deutschen Spaltung, als Kontakte zur DDR manchmal einfacher von den USA als von Westdeutschland aus zu knüpfen waren. Die Geschichte der „German Studies“ (wie es heutzutage in Nordamerika heißt) ist ohne den Einbruch von 1968 nicht zu denken und umgekehrt ist manche Wende in der deutschen Literaturwissenschaft nach 1968 ohne den Austausch mit nordamerikanischen Kollegen und Kolleginnen nicht zu verstehen.
Anmerkungen
[1] Carsten Wette: Ein Haus wie ein Taubenschlag. Die Entwicklung des ersten Hauptgebäudes der Freien Universität Berlin, URL: https://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/tsp/2016/tsp-april-2016/boltzmannstrasse/boltzmannstrasse-taubenschlag/index.html (14.4.2016).
[2] Siehe zu meiner langjährigen Auseinandersetzung mit der DDR auch meinen Erinnerungstext Too Near, Too Far: My GDR Story für den von Kristy Boney und Jennifer Williams herausgegebenen Sammelband: „Einmal alles von Anfang an erzählen”: The Social, Political, and Personal Dimensions of Storytelling, Rochester/NY: Camden House 2018, S. 198‒208.