Rut

JÜDISCHE ERZÄHLUNGEN

Rut

(Rut I 1) Zur Zeit der Richter kam eine Hungersnot über das Land Israel. Da wanderte ein Mann aus Bethlehem in Juda mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen ins Land Moab aus. (2) Der Mann hieß Elimelech, seine Frau Naemi. (3) Nach einiger Zeit starb Elimelech, und Naemi blieb allein mit ihren Söhnen. (4) Diese nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Als sie etwa zehn Jahre dort gewohnt hatten, (5) starben die beiden Söhne, und Naemi blieb allein zurück ohne Söhne und Mann.

(6) Da machte sie sich auf, um aus dem Lande Moab heimzukehren; denn sie hatte gehört daß Jahwe sich seines Volkes angenommen und ihm wieder Brot gegeben habe. (7) Ihre beiden Schwiegertöchter begleiteten sie. Als sie nun ihres Weges zogen, (8) sagte Naemi: „Kehrt jetzt um, jede zu ihrer Mutter! Jahwe vergelte euch die Liebe, die ihr den Verstorbenen und mir erwiesen habt! (9) Jahwe lasse euch ein neues Heim finden im Hause eines Gatten!“ Und sie küßte sie. Da fingen sie laut zu weinen an (10) und sagten: „Nein, wir wollen mit dir zu deinem Volke ziehn.“ (11) Aber Naemi erwiderte: „Kehrt um, liebe Töchter! Warum wollt ihr mit mir ziehn? Hab ich denn noch Söhne zu erwarten, die eure Männer werden könnten? (12) Ich bin zu alt, um noch eines Mannes Frau zu werden. Und wenn ich es auch heute nacht würde und Söhne bekäme, (13) wolltet ihr warten bis sie erwachsen sind? wolltet ihr euch darum so lange einschließen und unverheiratet bleiben?“ (14) Nun weinten sie noch lauter; dann küßte Orpa ihre Schwiegermutter und kehrte um, Rut aber blieb bei ihr.

(15) Da sagte Naemi: „Deine Schwägerin ist heimgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehr auch du um und folge ihr!“ (16) Doch Rut erwiderte: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen! Wo du hingehst will ich auch hingehn, und wo du bleibst bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. (17) Jahwe tue mit mir was er will, nur der Tod soll mich von dir scheiden!“ (18) Als Naemi sah daß Rut auf ihrem Entschluß beharrte, hörte sie auf, ihr zuzureden. (19) Und so gingen sie beide miteinander nach Bethlehem.

Als sie dort eintrafen, geriet die ganze Stadt in Bewegung. Die Frauen fragten: „Ist das nicht Naemi?“ (20) Doch Naemi erwiderte: „Nennt mich nicht Naemi (d. i. die Liebliche), nennt mich Mara (d. i. die Bittere)! denn der Allmächtige hat viel Bitteres über mich verhängt. (21) Reich bin ich ausgezogen, aber arm hat mich Jahwe zurückgebracht.“

(22) So kehrte Naemi mit der Moabitin Rut, ihrer Schwiegertochter, aus dem Lande Moab zurück. Sie trafen aber in Bethlehem ein zu Beginn der Gerstenernte.

(II 1) Nun hatte Naemi einen Verwandten von seiten ihres Mannes, einen wohlhabenden Mann aus der Sippe Elimelechs, mit Namen Boas. (2) Eines Tages bat Rut ihre Schwiegermutter: „Laß mich aufs Feld gehen und Ähren lesen hinter einem der mirs erlaubt!“ Naemi antwortete: „Geh hin meine Tochter!“ (3) Da ging sie hin und las Ähren auf dem Felde hinter den Schnittern her. Der Zufall hatte es gewollt daß sie gerade auf das Feld des Boas gegangen war. (4) Einige Zeit später kam er selbst von Bethlehem her und grüßte die Schnitter: „Jahwe mit euch!“ Sie antworteten: „Jahwe segne dich!“ (5) Und Boas fragte den Vorarbeiter: „Wem gehört dies Mädchen?“ (6) Der antwortete: „Das ist eine junge Moabitin, die mit Naemi aus dem Lande Moab gekommen ist. (7) Sie hat gebeten, hinter den Schnittern Ähren lesen zu dürfen. Sie ist vom frühen Morgen bis jetzt geblieben, ohne auch nur einen Augenblick zu rasten.“ (8) Da sagte Boas zu Rut: „Hör, meine Tochter, geh nicht auf ein andres Feld um Ähren zu lesen, sondern halt dich zu meinen Mägden! (9) Ich habe meinen Knechten verboten, die zu belästigen. Und wenn dich dürstet, so geh zu den Krügen und trink von dem was die Knechte schöpfen!“ (10) Da fiel sie nieder mit dem Gesicht zur Erde und fragte: „Wie kommt es daß du so gütig bist gegen mich, obwohl ich eine Fremde bin?“ (11) Boas antwortete: „Man hat mir erzählt was du nach deines Mannes Tode an deiner Schwiegermutter getan und wie du Vater und Mutter und Heimat verlassen hast, um zu einem Volke zu ziehen das du zuvor nicht kanntest. (12) Jahwe vergelte dir dein Tun und voller Lohn werde dir zuteilt von Jahwe dem Gotte Israels, unter dessen Fittichen du Zuflucht gesucht hast!“ (13) Sie dankte ihm: „Wie gütig bist du gegen mich, Herr, obwohl ich geringer bin als jede deiner Mägde!“ (14) Zur Essenszeit rief Boas ihr zu: „Komm her, iß mit und tauch dein Brot in das Essigwasser!“ Da setzte sie sich neben die Schnitter; er aber reichte ihr geröstete Ähren, so viel daß sie satt wurde und noch übrig ließ. (15) Als sie sich dann erhob um weiter zu lesen, befahl Boas seinen Knechten: „Auch zwischen den Garben laßt sie lesen! (16) Ja laßt auch mal eine Handvoll Ähren aus den Schwaden liegen, damit sie sie aufliest!“

(17) So las sie auf dem Felde bis zum Abend; dann klopfte sie aus was sie gelesen hatte, es war wohl ein halber Zentner. (18) Als sie das nach Hause getragen und ihrer Schwiegermutter gezeigt hatte und auch noch das hervorzog und ihr gab was sie vom Essen übrig behalten hatte, (19) fragte diese: „Wo hast du denn heute gelesen? Gesegnet sei der so freundlich zu dir war!“ Nun erzählte sie ihrer Schwiegermutter daß sie bei Boas gelesen hätte. (20) Da rief Naemi: „Gesegnet sei er von Jahwe, der seine Gnade den Lebenden und Toten nicht versagt hat! Der Mann ist mit mir verwandt.“[1] (21) „Er hat mir auch gesagt“, fuhr Rut fort, „Halt dich nur zu meinen Mägden bis sie mit der ganzen Ernte fertig sind!“ (22) Naemi sagte: „Das ist gut, wenn du mit seinen Mägden gehst; man könnte sich auf einem andern Felde an dir vergreifen.“ (23) So hielt sich denn Rut beim Ährenlesen zu Boas´ Mägden bis zum Ende der Ernte. Dann blieb sie zu Hause bei ihrer Schwiegermutter.

(III 1) Da sagte diese zu ihr: „Liebe Tochter, ich möchte für dein Unterkommen sorgen, damit es dir wohl geht. (2) Nun worfelt heut abend Boas, unser Verwandter, bei dessen Mägden du gewesen bist, seine Gerste auf der Tenne. (3) Wasch und salbe dich, zieh dein bestes Kleid an und geh zur Tenne hinunter! Zeig dich aber dem Manne nicht eher als bis er mit Essen und Trinken fertig ist! (4) Und wenn er sich schlafen legt, so merk dir den Ort wo er liegt! Dann geh hin, heb die Decke zu seinen Füßen auf und leg dich dort nieder! So wird er dir schon sagen was du zu tun hast.“ (6) Rut tat wie ihre Schwiegermutter gesagt hatte und ging hinunter zur Tenne.

(7) Als nun Boas gegessen und getrunken hatte und guter Dinge war, legte er sich neben dem Kornhaufen schlafen. Da kam Rut leise heran, hob die Decke zu seinen Füßen auf und legte sich nieder. (8) Mitten in der Nacht fröstelte ihn; als er sich aufrichtete, sah er das Mädchen zu seinen Füßen liegen. (9) Er fragte: „Wer bist du?“ Sie antwortete: „Ich bin Rut, deine Magd; breite deine Decke über deine Magd! denn du bist der Löser.“ (10) Da sagte er: „Jahwe segne dich, meine Tochter! Dies letzte Zeichen deiner Treue ist noch schöner als das erste, da du nicht den jungen Burschen nachgelaufen bist, weder armen noch reichen. (11) Sei unbesorgt! Alles was du wünschst will ich tun; weiß doch jeder in der Stadt daß du eine brave Frau bist. (12) Ja, ich bin der Löser; aber es ist noch ein andrer da, der dir näher verwandt ist als ich. (13) Wenn er dich morgen lösen will, so mag ers tun! Hat er aber keine Lust, so tue ichs so wahr Jahwe lebt. Bleib jetzt die Nacht über hier!“ (14) Da blieb sie bis zum Morgen zu seinen Füßen liegen. Doch eh es hell wurde, erhob sie sich, damit niemand merkte daß sie gekommen war. (15) Da sagte er: „Nimm den Umhang, den du anhast, und halt ihn her!“ Sie hielt ihn hin; er aber maß sechs Metzen Gerste hinein und lud sie ihr auf.

(16) Als sie zu ihrer Schwiegermutter kam, fragte diese: „Wie ist es gegangen, liebe Tochter?“ Da erzählte sie ihr alles was der Mann getan hatte. (17) „Und diese sechs Metzen Gerste hat er mir geschenkt und gesagt: Du sollst nicht mit leeren Händen zu deiner Schwiegermutter heimkehren.“ (18) Naemi sagte: „Bleib jetzt hier, liebe Tochter, und warte ab wie die Sache ausgeht! der Mann wird nicht ruhen, bis er sie, und zwar heute noch, erledigt hat.

(IV 1) Boas war inzwischen zum Tor[2] gegangen und hatte sich dort niedergesetzt. Da kam der Löser vorbei, von dem er gesprochen hatte. Er rief ihn an: „He, Freund, komm her und setz dich zu mir!“ Er kam und setzte sich. (2) Nun holte Boas zehn Ratsherrn der Stadt und sagte: „Setzt euch hierher!“ Als sie sich gesetzt hatten, (3) sagte er zu dem Löser: „Naemi, die aus Moab zurückgekommen ist, will das Land, das unserm Verwandten Elimelech gehörte, verkaufen. (4) Nun möchte ich dir vorschlagen, es vor den hier anwesenden Ratsherrn zu kaufen. Willst du es lösen, so löse es! Wenn nicht, so sag mirs! denn außer uns beiden ist kein Löser da, aber ich komme erst nach dir.“ Er antwortete: „Ich will es lösen.“ (5) Boas fuhr fort: „Mit dem Lande Naemis kaufst du auch die Moabitin Rut, die Witwe des Verstorbenen, um dessen Namen auf seinem Erbbesitz wieder aufleben zu lassen.“ (6) Da erwiderte der Löser: „Dann kann ich es nicht lösen; sonst schädige ich mein eigenes Erbe.[3] Löse du für dich was ich lösen sollte!“ (7) Nun war es vor alters beim Lösen und Tauschen in Israel Brauch, daß man, um eine Sache rechtskräftig zu machen, den Schuh auszog und ihn dem andern gab; das galt als Beglaubigung.[4] (8) Darum zog der Löser, als er zu Boas sagte: „Kauf du!“ seinen Schuh aus. (9) Nun sagte Boas zu den Ratsherrn und zu allen Anwesenden: „Ihr seid Zeugen, daß ich heute von Naemi alles kaufe was Elimelech und seinen Söhnen gehört hat. (10) Damit kaufe ich zugleich die Moabitin Rut, die Witwe des einen der beiden Söhne, um den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbbesitz wieder aufleben zu lassen.“ (11) Alle die im Tore waren, auch die Ratsherrn, sagten: „Wir sind Zeugen. Jahwe mache die Frau, die in dein Haus kommt, wie Rahel und Lea, die beide das Haus Israel gebaut haben! Werde mächtig in Efrata und gefeiert in Betlehem!“

(13) So nahm Boas Rut zur Frau; und Jahwe bescherte ihr einen Sohn. (14) Da sagten die Frauen zu Naemi: (15) „Möge der Knabe ein Trost für dich sein und ein Versorger im Alter!“ (16) Naemi nahm ihn auf ihren Schoß und pflegte ihn. (17) Er wurde der Vater Isais, des Vaters Dawids.[5]

Erklärungen

[1] Das israelische Recht kennt einerseits nach dem Priesterkodex die Rückkaufpflicht des nächsten Verwandten, wenn jemand etwas von seinem Grundbesitz hat verkaufen müssen (3. Mose XXV 25), anderseits nach dem Deuteronomium die Pflicht des überlebenden Bruders, die Witwe seines sohnlos verstorbenen Bruders zu heiraten und mit ihr einen Sohn zu zeugen, der als Sohn des Verstorbenen gilt (5. Mose XXV 5-10). Hier ist die zweite Pflicht vom überlebenden Bruder auf den nächsten Verwandten ausgedehnt. Doch besteht hier wie da keine Möglichkeit, die Durchführung der beiden Pflichten zu erzwingen. Die von ihrem Schwager verschmähte Witwe hat nach 5. Mose XXV 9 nur das Recht, ihm zum Zeichen ihres Unwillens den Schuh vom Fuß zu ziehen und ihm ins Gesicht zu spucken. Daraus erklärt sich das Verhalten der klugen Naemi. Sie hat geduldig abgewartet, bis einer der Verwandten, noch dazu ein so wohlhabender, ein deutliches Zeichen des Wohlwollens für Rut gegeben hat. Jetzt aber setzt sie alles auf eine Karte und erreicht mit Anwendung aller weiblichen Künste (III 3a), unter Nutzung des günstigsten Augenblicks (III 3b.4.7a) und mit feiner psychologischer Berechnung ihr Ziel. Was Rut tut, ist natürlich ein Verstoß gegen die Sitte; aber wie Naemi vorausgesehen, erkennt Boas als gereifter Mann sofort, was Rut veranlaßt hat, ihre weibliche Scheu zu überwinden: die Treue gegen die Familie ihres verstorbenen Mannes, die sie schon einmal durch Aufgabe ihrer Heimat bewährt hat.

[2] Wo herkömmlicherweise geschäftliche und rechtliche Dinge erledigt wurden.

[3] Er hätte den Kaufpreis an Naemi bezahlen müssen, und nachher wäre der gekaufte Hof doch an den von ihm mit Rut erzeugten Sohn gefallen, der als Sohn von Ruts verstorbenem Manne gegolten hätte. Seine eigene Familie hätte also einen schweren Vermögensverlust gehabt. Vgl. hierzu das Verhalten Onans, der sich auf seine Weise zu helfen wußte (1. Mose XXXVIII 8.9)!

[4] Hier hat das Ausziehn des Schuhes nur den Zweck, den mündlich abgeschlossenen Vertrag in Erinnerung zu halten. Anders 5. Mose XXV, wo nach Vers 10 ein Schimpf damit verbunden ist.

[5] Vgl. zum Ganzen den Aufsatz „Rut“ von H. Gunkel in „Reden und Aufsätze“ und H. Greßmann in „Die Schriften des Alten Testaments II 1“!