Das Hohelied

Das Hohelied[1]

(Hoheslied I)

Laß mich trinken deines Mundes Küsse! Deine Liebe ist süßer als Wein. –

Seht mich nicht an, daß ich so braun bin, von der Sonne verbrannt!
Meiner Mutter Söhne grollten mir,
jagten mich fort, ihren Weinberg zu hüten;
meinen eignen hab ich nicht gehütet. –

Schön bist du, meine Freundin, ja schön, wie Tauben deine Augen.

Schön bist du, mein Geliebter, und wonnig; grün ist unser Bett,

Zedern unsers Hauses Gebälk, Zypressen sein Getäfel. –

(II) Horch! mein Liebster! Da kommt er,
springt über Berge, hüpft über Hügel;

schon steht er hinter der Mauer,
schaut durchs Fenster, lugt durchs Gitter.

Mein Liebster hebt an:
Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm!

Der Winter ist vergangen, die Regenzeit vorüber.

Auf den Triften sprießen die Blumen,
die Zeit der Lieder ist da, es gurren die Tauben;

am Feigenbaum schwellen die Früchte, die Reben blühen und duften.
Auf, meine Freundin, meine Schöne, komm!

Mein Täubchen in der Felskluft, im Versteck der Felswand,
laß mich schauen deine Gestalt, mich hören deine Stimme,
deine Stimmt so süß, deine Gestalt so schön! –

(III) Nachts auf meinem Lager sucht ich ihn den meine Seele liebt,
sucht ihn, aber fand ihn nicht.

Mich trafen die Wächter, die die Stadt durchstreifen.
„Saht ihr ihn den meine Seele liebt?“

Kaum war ich vorüber, da fand ich ihn;
ich hielt ihn fest und laß ihn nicht mehr los. –

Was kommt da von der Trift, einer Rauchsäule gleich,
umduftet von Myrrhe und Weihrauch?

Es ist seine Sänfte, Salomos Sänfte!
Sechzig Krieger ringsum von Israels Helden,

alle das Schwert in der Hand, kampferprobt.

Eine Sänfte hat Salomo aus Zedernholz,

ihre Füße aus Silber, ihre Lehnen aus Gold, pupurn die Polster.

Kommt und schaut, ihr Töchter Jerusalems, den König
mit der Krone, mit der ihn seine Mutter gekrönt
am Tag seiner Hochzeit, am Tag seiner Freude! –

Behext hast du micht, Schwester, behext
mit dem Blick deiner Augen, den Kettchen deines Halsschmucks.

Süßer ist deine Liebe als Wein,
der Duft deiner Salben lieblicher als Balsam.

Von Honigseim triefen deine Lippen,
deine Kleider duften wie der Libanon. –

„Erwache, Nordwind, erhebe dich, Süd,
durchweh meinen Garten, laß Düfte strömen!
Komm, mein Geliebter, in deinen Garten
und genieß seine köstliche Frucht!“

(V) Ich kam in den Garten meiner Schwester,
pflückte mir Myrrhe und Balsam,
aß Wabe und Honig, trank Wein und Milch.-

Ich lag und schlief, doch mein Herz war wach;
horch! da klopft mein Geliebter:
„Mach mir auf, meine Schwester,
meine Freundin, mein Täubchen, meine Schönste!

„Hab ausgezogen mein Hemd, wie sollt ich es wieder anziehn?
hab gewaschen meine Füße, wie sollt ich sie wieder beschmutzen?“

Durchs Türloch streckte mein Geliebter die Hand;
da wallte mein Herz, mir schwanden die Sinne.

Auf stand ich zu öffnen und faßte den Riegel,
da troffen meine Hände von Myrrhe.

Ich öffnete die Tür, doch mein Geliebter war fort.
Ich suchte ihn, aber fand ihn nicht,
ich rief ihm nach, doch er gab keine Antwort.-

(VII) „Dreh dich, dreh dich, Sulamitin,
dreh dich, dreh dich, daß wir dich schauen!“
„Was  wollt ihr schaun an der Sulamitin beim Schwertertanz?“

„Wie schön sind deine Schritte in den Schuhn, Tochter eines Edlen,
deiner Hüften Rundung wie Geschmeide von Künstlerhand,

dein Schoß ein verschloßner Krug, nie mangle der Mischtrank!
dein Leib ein Weizenhaufen, umsäumt von Lilien,

deine Brüste Gazellenzwillinge, dein Haupt wie der Karmel!“-

Wie schön bist du und voll Anmut, du Geliebte, du Wonnevolle!

Dein Wuchs ist schlank wie die Palme, deine Brüste sind Datteltrauben.

Ich will auf die Palme steigen, ihre Früchte greifen.
Laß deine Brüste mir sein wie Trauben,

deinen Atem wie Äpfel, deinen Mund wie Wein! –

Komm, Geliebter, hinaus aufs Feld, laß unter Blumen uns nächten!

frühmorgens schaun, ob die Reben blühn!
die Knospen brechen, Granatäpfel blühn!

Süß duften die Liebesäpfel, vor meiner Tür jede köstliche Frucht,
dir, mein Geliebter, gespart. –

(VIII) Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems,
stört nicht, weckt nicht auf die Liebe, bis sie von selbst erwacht! –

Liebe ist stark wie der Tod,
Leidenschaft unerbittlich wie die Hölle;
ihre Gluten sind Feuersgluten,
ihre Flammen Gottesflammen;

Wasserfluten können sie nicht löschen,
Ströme sie nicht wegspülen.

Erklärungen

[1] Eine Sammlung von Hochzeit- und Liebesliedern, wie sie noch heute in z. T. ähnlicher Weise bei syrisch-palästinischen Bauernhochzeiten vorgetragen werden, so das junge Paar, auf der Dreschtafel wie auf einem Thron sitzend, von den Dorfgenossen als König und Königin (im Hohenliede III 6-11 Salomo und VII 1-6 die Sulamitin = die aus 1. Könige I 1-14 bekannte Abisag von Sunem) gefeiert werden. Daß diese so erotischen Lieder (Weinberg I 6, Mischtrank VII 3!) ins Alte Testament Aufnahme gefunden haben, verdanken wir dem Umstand, daß das Liebespaar von den jüdischen Schriftgelehrten auf Jahwe und Israel, von den christlichen Theologen aber auf Christus und die Kirche (oder die einzelne Seele) gedeutet wurde! Die jüdischen Schriftgelehrten schrieben das Buch wegen VII 1-6 und 1. Könige V 12 (ebenso wie die Sprüche, den Prediger und einige Psalmen) Salomo zu. Wann in Wirklichkeit die einzelnen Lieder entstanden sind und wer sie verfaßt hat, läßt sich natürlich nicht sagen. Die Form, in der sie jetzt vorliegen, können sie nach Ausweis der Sprache (griechische Lehnwörter!) nicht vor dem 3. Jh. V. Chr. erhalten haben.