Deutschland bringt die Freiheit

Berliner Tageblatt Nr. 491 vom 27.9.1914, 2. Beiblatt

Von Frank WedekindRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Wedekind

I

Es steht heute wohl außer Zweifel, daß der Urgrund des Weltbrandes in der inneren Fäulnis Rußlands lag. Der eine eiternde Krankheitsherd hat unter der besorgten Umsicht und Obhut englischer Mißgunst den ganzen Erdball zu mörderischem Fieber entflammt. Zwei Folgeerscheinungen hatte die innere Zerrüttung in Rußland seit Jahrzehnten gezeitigt. Einmal maßlose Prahlerei, Selbstüberschätzung, die Sucht, um jeden Preis stärker zu erscheinen, als man war, eine Politik, die Rußland noch 1895 nach dem chinesisch-japanischen Krieg befähigte, sein Schwert auf den Tisch der Friedensverhandlungen zu werfen und Japan um den Ertrag seines Sieges zu bringen. Die anderen Folgen der inneren Fäulnis in Rußland waren die Wühlarbeit, die Verhetzung der europäischen Mächte durch Bestechung der Presse, durch Spionage, Aufwiegelung und Meuchelmord. Wenn der Mord in Serajewo russische Arbeit war, dann ist wohl mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß nicht die Absicht bestand, erst in zwei Jahren zum Krieg zu schreiten, sondern daß im Gegenteil unter solcher Vorspiegelung Poincaré seinen Besuch in Petersburg machen mußte, damit man derweil für den entscheidenden Augenblick in Paris um so freieres Spiel hatte, und daß die Ermordung Jaurès‘ wie die des österreichischen Thronerben nur ein Akt der längst im Gang befindlichen russischen Mobilisierung war.

Der blinde Deutschenhaß, der trotz allem Entgegenkommen der Bismarckschen Politik seit mehr als einem Jahrhundert in Rußland blüht, der selbst in den Werken Turgenjews, Dostojewskis, Tolstois seinen schwachen Abglanz findet und der kulturell betrachtet nichts anderes ist, als der Haß des Schülers gegen seinen früheren Lehrer, sollte nun als Handhabe dienen, um auch den widerstrebenden Elementen Rußlands – der revolutionären Jugend, den Polen und den Israeliten – über den toten Punkt zwischen inneren und äußeren Konflikten hinwegzuhelfen.

„Deutschland bringt die Freiheit!“ Dieses Wort wurde schon in vielen Betrachtungen über den Weltkrieg, von ernsten Männern, von Gelehrten und Dichtern ausgesprochen. Wenn „Freiheit“ die größte und stärkste Entfaltungsmöglichkeit der im Menschen ruhenden sittlichen Kräfte bedeutet, dann hat dies Wort die vollste Berechtigung.

Untersuchen wir aber nicht erst lange die Frage: ob die russische akademische Jugend ein freieres Leben führt oder die deutsche, ob die Polen Rußlands sich eines freieren politischen Daseins erfreuen oder die Polen Deutschlands, ob die russischen Juden mehr Erwerbs- und Bewegungsfreiheit genießen oder die Juden in Deutschland. Uns fesselt hier die Tatsache, dass Deutschland durch einen ihm aufgezwungenen furchtbaren Krieg in die unumgängliche Notwendigkeit versetzt ist, dem Nachbarvolke seine in ernster mühevoller Entwicklung errungenen Freiheiten entgegenzutragen. Denn siegen wird Deutschland heute nur dadurch, daß es auch im Kampfe sich selber treu bleibt, nicht dadurch mehr, daß die Verwaltung russischer ist als der Zar, siegen kann Deutschland nur dadurch, daß es seine höchsten, seine teuersten Errungenschaften in die vorderste Schlachtlinie stellt.

Wenden wir uns dem westlichen Kriegsschauplatz zu. Eine höhnischere Ironie gab es wohl kaum jemals in der Weltgeschichte als die, daß Frankreich nach dem Schlage von 1871 mit all seinem Ertrag die Freundschaft Rußlands erkaufte zu dem einzigen Zweck, damit ihm Rußland im Rachekrieg gegen Deutschland Hilfe leiste, und daß ihm von diesem Bundesgenossen nun ein Krieg aufgezwungen wurde, den Rußland zu seinem Fortbestehen nötig hatte und der Frankreich zerschmettert.

War für Frankreich überhaupt noch ein größeres Unheil, eine sicherere Vernichtung auszudenken, als sein unseliges, seit vierundvierzig Jahren betriebenes Wettrüsten an der Seite des durch eigene Kraftfülle stets mächtiger werdenden Deutschland? Können alle Schrecknisse des Krieges Frankreich im wesentlichen noch ärger schwächen, als es Deutschlands Nachbarschaft, ohne es zu wollen, im Frieden tat? An uns ist es wahrlich nicht, das Wohl unseres Feindes zu bedenken. Aber, wenn unseren Waffen der Himmel gnädig ist, dann sichern wir Frankreich seine Ruhe. Frankreich glaubt sich vom furor teutonicus, von der rohen Gewalt, von der numerischen Übermacht überwältigt. Die 42-Zentimeter-Geschosse haben nicht das geringste mit furor teutonicus zu tun, sie sind Ergebnisse der allerstrengsten positiven Wissenschaften, der Mathematik, der Physik und der Chemie. Sie sind in diesem Kriege sicherlich die lautesten Verkünder der Überlegenheit deutscher Geistesarbeit.

Leiser und menschlicher naht dem Feind unsere gesetzliche soziale Fürsorge, die er sich trotz seiner demokratischen Verfassung bis heute noch nicht erkämpft hat. Ihr werden wir es zu danken haben, wenn sich im Westen wie auch im Osten gerade die freiheitlichen Elemente zuerst zu einer friedlichen Verständigung mit Deutschland bereit finden.

Weil Deutschland inmitten kriegsbegieriger Nachbarn den Frieden ehrlich zu wahren sucht, ist die deutsche Strategie heute zu einem Ergebnis gelangt, das unserer Politik wie unseren Diplomaten kaum jemals ernstlich am Herzen lag, zu dem Ergebnis, im Osten sowohl wie im Westen mit den freiheitlichen Elementen unserer Feinde Fühlung zu unterhalten, im Osten mit der politischen, im Westen mit der sozialen Freiheitsbewegung.

II

 Was war die große Überraschung für die zivilisierte Welt nach der Kriegserklärung von 1870?

Heute klingt es fast wie Hochverrat, daran zu erinnern.

Die Einigkeit zwischen Süddeutschland und Norddeutschland war es, die treue Waffenbrüderschaft der süddeutschen Staaten für das bedrohte preußische Königreich.

Was war die große Überraschung für die zivilisierte Welt nach der Kriegserklärung von 1914?

Die Einigkeit zwischen der deutschen Sozialdemokratie und dem Reichsoberhaupt, die treue Waffenbrüderschaft zwischen den Volksklassen, die von ihrem Vaterlande mehr fordern und verlangen, als ihnen bisher geboten war, und denen, deren besonderes Lebensziel Macht und Größe dieses Vaterlandes waren.

Hoffentlich ist die Zeit nicht mehr fern, in der es fast wie Hochverrat klingt, sich der Überraschung von 1914 zu erinnern.

Das Ideal des Sozialismus mußte international sein, wie das Ideal der Burschenschaften vor neunzig Jahren alldeutsch sein mußte. Ebenso wie die Revolution des Jahres 1848, wie der Krieg von 1866 die Alldeutschen davon überzeugte, daß ihre Hoffnungen verfrüht waren, ebenso überzeugt heute der Ausbruch des Weltkrieges den Sozialismus von der Verfrühtheit seiner Erwartungen.

Das Hemd ist uns näher als der Rock. Um das große Wort im Rate der Völker sprechen zu können, muß erst das große Volk unerschütterlich zusammenhalten.

Die erste Wirkung einer Niederwerfung Deutschlands durch seine Feinde wäre der Verlust der sozialen Errungenschaften, die Deutschland heute vor anderen Kulturvölkern voraus hat.

Was aber ist die erste Wirkung unseres Sieges?

Ein einheitlicher, unantastbarer, selbstverständlicher Vaterlandsstolz!

Daß der deutsche Vaterlandsstolz bis zum Ausbruch dieses Weltkrieges noch nicht in allen Schichten so vollkommen einheitlich, so vollkommen selbstverständlich war wie bei anderen Nationen, das hat seine ganz einfachen, historischen Gründe, deren wir uns nicht mehr zu schämen brauchen, sobald diese Gründe zu den Tatsachen gehören, die Deutschland endgültig ein für allemal überwunden hat.

Nach mehr als fünf Jahrhunderten des inneren Zwiespaltes, der Kleinbürgerei und des religiösen Brudermordes fand sich Deutschland vor knapp hundert Jahren zum ersten Male unter einem einzigen großen Gedanken, zu einer einheitlichen großen Tat zusammen in seiner Erhebung gegen den ersten Napoleon. Vorbereitet und begründet war diese politische Einigkeit durch die geistige Einigung, die die beiden Volksheroen Goethe und Schiller kurz vorher unter den Deutschen herbeigeführt hatten.

Warum erwuchs nun aus dieser gemeinsamen Tat dem gesamten Ausland gegenüber kein gemeinsamer Stolz, der Stolz: Civis Germanus sum?

Die Ursache wurde bis heute nicht in ihrer ganzen Ausdehnung gewürdigt, sondern meistens nur den deutschen Verhältnissen zur Last gelegt.

Der deutsche Nationalstolz konnte damals nicht gedeihen, weil auf den Sturz Napoleons in ganz Europa die Rückwirkungen auf die Ereignisse der Französischen Revolution eintraten. Durch diese Rückwirkungen fühlten sich alle, die von einem großen Deutschland geträumt hatten, vorderhand um den Hauptertrag der nationalen Erhebung betrogen.

Das Jahr 1848 brachte ein dem deutschen Geiste völlig fremdes Element in die nationale Entwicklung, den Republikanismus.

Ein völlig fremdes Element. Wir Künstler können vor allen anderen Berufen Zeugnis dafür ablegen, daß wir im monarchischen Deutschland uns eines freieren Wirkens erfreuen, als es uns das republikanische Amerika heute böte, eines weitaus reicheren Wirkens, als wir es im republikanischen Frankreich gefunden hätten.

Das Jahr 1848 verwechselte Deutschland mit Frankreich, und Frankreich mit dem Rom des seligen Cato, ohne zu beachten, dass beide Länder nie aus einer Stadtrepublik entstanden waren. Erkämpft wurde 1848 die Achtung vor dem Volk, nicht die Achtung vor Deutschland. Unser Nationalstolz hatte nichts gewonnen.

Dann wurde der Bruderkrieg von 1866, vor dem schadenfrohen Ausland eine schmerzliche Erniedrigung, im Innern mit der Bruderliebe zu Ende geführt, auf die gestützt Alldeutschland heute unter zwei befreundeten Kaisern der ganzen Welt Trotz bietet.

Nach den Jahren 1848 und 1866 aber lag über Deutschland das Gefühl dumpfer Beschämung, die ein Mann empfindet, der seine hohen Pflichten erkannt hat, der seine Kräfte erprobt und tüchtig befunden hat, der aber vom schönsten Ziel, auf das sein Stolz ihn hinweist, noch so weit entfernt ist, daß ein Wunder nötig erscheint, um ihn dieses Ziel endlich erreichen zu lassen.

Dieses Wunder war Deutschlands Einigung durch den Deutsch-Französischen Krieg.

Vierundvierzig Jahre sind seitdem verflossen, und der deutsche Vaterlandsstolz, der sich endlich wieder höchste Berechtigung erkämpft hatte, mußte sich in diesen vierundvierzig Jahren noch manchen herben Einwand gefallen lassen. Das war nur dadurch möglich, daß Deutschland auf seinen Siegen von 1870/71 nicht ausruhte, sondern weiterarbeitete und auf politischem, sozialem und künstlerischem Gebiete mehr gearbeitet hat als in den gleichen Jahren irgendein anderes Volk der Welt. Dazu kommen andere Gründe. Wer 1848 für Deutschlands Einheit gekämpft, später vielleicht durch Kerker und Verbannung dafür gelitten hatte, der konnte den Errungenschaften des großen Krieges nicht mit unbelastetem, freiem Herzen entgegenjauchzen. Vor allem deshalb nicht, weil er sich in seinen heiligen Jugendempfindungen gedemütigt fand.

Im heutigen Weltkriege kämpfen, mit Ausnahme einer Anzahl hoher Heerführer, zum ersten Male nur Männer, die im einigen Deutschen Reich geboren sind, die dem einigen Deutschen Reich alles zu danken haben. Das ist in Deutschlands Geschichte das Neue an diesem Krieg. Und diese neue Tatsache erklärt wohl am besten die bewundernswürdige Wucht, mit der Deutschlands Heere den Feind zurückwerfen.

Wird des jungen Deutschen Reiches Heldenkampf vom Siege gekrönt, dann wird auch den Söhnen Deutschlands ein Vaterlandsstolz daraus erwachsen, der durch seine Selbstverständlichkeit und durch seine sittliche Würde über grellem Hurrapatriotismus, über engherziger Erbfeindschaft gleich hoch erhaben ist.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Hartmut Vinçon nach der Kritischen Studienausgabe der Werke Frank Wedekinds, hg. v. Elke Austermühl, Rolf Kieser und Hartmut Vinçon. Band 5/II. Darmstadt 2013, S. 525-529. Siehe dazu Hartmut Vinçon: Frank Wedekind und der Erste Weltkrieg. Hinweise auf unbekannte Texte und Zusammenhänge zu einem umstrittenen Thema (literaturkritik.de 8/2014)