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Titelbild

Michael Petery: Michelangelo. Roman.
MBR Bildungsreisen, Ismaning 2008.
680 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783981044812

Rezensionen von literaturkritik.de

Der Meister des Unmachbaren
Michael Petery nähert sich in seinem Roman „Michelangelo – Der Zorn des Schöpfers“ behutsam und sensibel dem Florentiner Wunderkind und Ausnahmekünstler an
Von Heike Geilen
Ausgabe 12-2009

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Klappentext des Verlages

Wie kommt ein Mensch dazu, als einzelner das Riesenwerk der Sixtinischen Decke zu malen? Was treibt ihn zu einer Aufgabe, die unmöglich scheint und nie zu vollenden? Und wie lebt er dann weiter, wenn er diese Aufgabe endlich vollendet hat, wenn er weiß, er hat die Grenzen überschritten alles dessen, was er in seinem Leben noch einmal leisten kann? Michael Petery erzählt in diesem Roman, wie Michelangelo in Auseinandersetzung mit sich selbst und mit seinen Gegnern die Hauptwerke seines Lebens schuf, und entwirft zugleich ein fesselndes Bild einer Zeit der politischen Wirren am Scheideweg zwischen Freiheit und Unterdrückung.

Leseprobe vom Verlag

Er konnte es nicht länger aushalten in Rom. Mit Leo war ein Mann Papst geworden, mit dem er sich niemals verstehen würde. Die Tatsache, daß sie gemeinsam in ihrer Jugend am gleichen Tisch gegessen hatten, war kein Vorteil, wie Sangallo sah, sondern zementierte die Ablehnung. Niemals würde ihm Leo vergeben, daß sein eigener Vater ihn, Michelangelo, als ein Vorbild und Ansporn in die Familie geholt hatte.
Die üble Szene mit dem Hofdichter war ein Vorgeschmack darauf, wie Leo mit ihm selbst umgehen würde, sobald er Gelegenheit dazu bekam. Das beste war, einander aus dem Weg zu gehen, der offenen Machtprobe auszuweichen.
Und noch bevor irgendeine offizielle Verlautbarung an ihn erging, räumte Michelangelo seine Werkstatt am Petersplatz, die ihm Papst Iulius hatte einrichten lassen im Katharinenkloster, um dort das Grabmal zu arbeiten. Er ließ die Blöcke fortschaffen in den Hof seines eigenen Hauses auf die andere Seite des Tiber. Eng war es dort, kaum Platz, wenig Licht, und doch viel besser zum Arbeiten die freie Luft der Stadt anstelle des vatikanischen Dunstes.
Er traf sich in diesen Tagen mit dem Kardinal von Agen, mit eigentlichem Namen Leonardo Grosso della Rovere, einem bläßlichen Vetter des Iulius ohne eigene Ambitionen, residierend weit draußen vor der Stadt auf einem Landgut, das ihm der Onkel vor Zeiten zugeschanzt hatte. Ein schönes Gehöft war das, und Michelangelo überraschte den Kardinal dort bei der Gartenarbeit in grüner Schürze, einen Strohhut auf dem Kopf, eine Gießkanne in der Hand. Mit seinem breiten Gesicht, seinen erdigen Händen erschien della Rovere wie ein Bauer, wohlvertraut nur mit dem Land, in weitem Abstand zur Stadt und ihren Intrigen.
Im Gespräch zeigte sich der Kardinal kaum interessiert an allem Geschehen zu Rom. Wichtig war ihm allein, das Testament des Onkels zu erfüllen; der hatte 10000 Dukaten hinterlassen zum Bau seines Grabmals. Dieser Wunsch schien della Rovere nur recht. Es ging darum, dem einmal errungenen Glanz der Familie ein dauerhaftes Denkmal zu setzen.
Michelangelo sollte weiter machen, wie er nur konnte. Zwar war an eine Aufstellung in der Vierung von Sankt Peter nicht mehr zu denken; Bramantes Arbeiten hatten die alte Kirche ruiniert und nichts Neues geschaffen. Und selbst wenn ein neuer Bau in absehbarer Zeit vollendet werden könnte: Den Platz in der Mitte, den würde il papa leone gewiß nicht seinem Vorgänger im Amte herausgeben. Aufstellungsort konnte also nur sein die Peterskirche in der Stadt, San Pietro in Vinculi, die Kirche, der Iulius vor seiner Papstwahl als Kardinal vorangestanden war.
Michelangelo mußte schlucken. Das hieß gewaltige Verkleinerung der ursprünglichen Pläne. Aber wo della Rovere recht hatte, hatte er recht. Natürlich war an ein großes Grabmal für San Pietro in Vaticano nicht mehr zu denken. Man hatte sich zu bescheiden: Nicht freistehend mehr war das Grabmal zu errichten, ringsum zu erleben für den Betrachter, der es umschritt. Sondern an die Wand gelehnt würde das Grabmal nun sein, zur Seite geschoben ins rechte Kirchenschiff.
Immerhin, von der Vorplanung konnte er vieles auch in diesen Entwurf übernehmen, die Gestaltung des Unterbaus mit den gefesselten Künsten vor den Pilastern, die Abbilder der Tugenden in den Nischen. Auch zwei der Eckfiguren des oberen Registers würden bleiben, Moses und Paulus.
Darüber dann wäre freilich viel Platz an der Wand, es reichte noch für einen Altaraufbau mit Engeln, welche die Büste des Iulius in den Himmel heben, eine schwebende Muttergottes darüber, zuoberst ein prächtiger Marmorbogen, der die Komposition abschloß. In die Höhe erreichte der neue Entwurf eine Größe, die der alte nicht gehabt hatte.
Man traf sich noch mehrmals, auch bei einem anderen Cousin in der Stadt, dem Kardinal von Santi Quattro, und war sich bald einig. Am 6. Mai unterschrieben sie zu dritt den Vertrag.

Es war recht, wieder eine Arbeit zu haben, ganz offiziell. Es war recht, aus dem Vatikan wieder in die Stadt zu wechseln, nicht mehr in der übergroßen Halle einsam zu pinseln, sondern laut und staubig den Stein zu bearbeiten in einem Viertel, in dem auch die anderen Handwerker der Stadt ihre Arbeit taten. Die Schreiner sägten und bohrten, die Schlosser schmiedeten und klopften, und Michelangelo tat es ihnen gleich in seinem Hinterhof mit eigenem Arbeitslärm.
Bald zehn Jahre hatte er die Bildhauerei nicht mehr ausgeübt, bald zehn Jahre waren es her, daß er den David geschaffen hatte in der Dombauhütte zu Florenz. Und es gelingt noch, die Arbeit mit Hammel und Meißel, natürlich gelingt es noch, sein Können als Bildhauer hat unter dem Intermezzo –erst mit dem Bronzeguß zu Bologna, dann mit der Sixtina in Rom- nicht gelitten. Er beherrscht sie, die Technik des abgelassenen Wassers, wie er sie studiert hat in den antiken Steinbrüchen von Carrara: anders als alle Zeitgenossen arbeitet er seine Statuen nicht gleichmäßig ringsherum, sondern er läßt das Fertige auftauchen aus dem Stein, indem er das Werk Schicht um Schicht vom Überflüssigem befreit.
Aus dem Stein heraus entläßt er einen ersten Jüngling. Auf dem Rücken sind ihm die Arme gebunden an einen Baumstumpf. Er windet sich, dreht seine linke Schulter nach vorn, stemmt sich mit dem Fuß gegen den Stamm, gegen die rückwärtige Fessel. Er kann sich nicht lösen. Der die Fessel setzte, hatte sie kundig gesetzt.

War dieser Jüngling noch allegorische Verkörperung einer Kunst, wie Iulius sie sich wünschte für sein Grab, Zeichen, wie sehr aller Fortschritt gelähmt war, da nach dem Tod des Förderers alle Unterstützung ausblieb? War die Fesselung des Jünglings nicht vielmehr voller Lust inszeniert, ein Akt ästhetisierender Gewalt, wie er der Gegenwart wohl gefallen sollte?
Der Mensch ist schöner gefesselt als frei. Gefangen gefallen die Menschen den Mächtigen heute, gefesselt gefallen wir uns selbst. Je deutlicher wir unsere Fesseln spüren, desto mehr sind wir entbunden von dem Druck der düsteren Ahnung, wir selbst könnten verantwortlich sein für unsere Knechtschaft.
Gefangen sind wir alle in unserem Leben seit dem Moment der Geburt. Gefesselt sitzen wir da in dieser Welt wie in einer dunklen Höhle, ohne wirkliche Freiheit, die gebundenen Hände nach hinten zum Licht, und starren in die Finsternis. Auf einmal vermeinen wir im Dunkel etwas zu erkennen, zu begreifen. Doch die Schatten sind’s nur, die vor uns über die Wand streifen, in gräßlicher Verzerrung. Von dem, was draußen vor dem Höhleneingang im wirklichen Licht geschieht, wissen wir nichts.
Gefesselte, geschundene Gestalten drängen sich seiner Vorstellung auf. Schon die Zwickel in der Sixtina hatte er bevölkert mit den Geschundenen, einmal die Hände nach hinten gebunden, einmal gespreizt, Bänder um die Leiber geschlungen in vielfältiger Pose.
Nach dem ersten Jüngling entsteigt der zweite dem Stein, den Oberkörper an seinen Stumpf gebunden mit einer Binde unter den Schultern, die Arme sind frei. Zurückgelegt hat er den Kopf, er lächelt bald, schläft. Die Fessel gibt ihm selige Gewißheit, daß ihm die Gegenwart nichts mehr abverlangt. Die Linke hat er sich über den Kopf gelegt, die Rechte auf seine Brust. Er spürt die Kraft seines Körpers und die Kraftlosigkeit.
Ich beneide die Gefangenen um ihre Fesseln. Gefesselt sind sie ohne den Zwang, handeln zu müssen. Sie sind nur da als Verkörperung ihrer selbst, als Verkörperung der Architektur, als Verkörperung der Künste. Es gibt keine Notwendigkeit, keine Möglichkeit, noch weiter gehen zu müssen. Sie sind gebunden, ein Abbild für das, was sie geleistet haben, was geschaffen ist. Sie genießen die Fesseln der Ruhe, und wenn die Fesseln sie schänden.
Auch ich bin gefesselt. Und lang habe ich gelitten, mich an meinen Fesseln zu reiben. Auch mir schenken sie Ruhe nun. Du mußt nicht mehr alles erreichen, nur das, was du innerhalb deiner Fesseln vermagst. Deine Fesseln sind deine Zeit, deine Umwelt, du selbst. Kämpfe nicht gegen das, was du nicht ändern kannst. Genieße deine Fesseln wie der schlafende Jüngling aus Marmor: sie geben dir Halt.

Der Auftrag ist eine solche Fessel. Ohne Auftrag bin ich nicht in der Lage zu schaffen. Gut war es, aus der Sixtina nicht in die Leere entlassen zu sein, gut, daß die Blöcke des Iuliusgrabes ihn in seiner Werkstatt erwarteten. Ärgerlich nur, daß schon mit der zweiten Statue das Thema der Gefangenen inhaltlich zu Ende gekommen ist. Sein Plan hatte vorgesehen, in der Variation der Körper alle Stadien der menschlichen Auflehnung gegen die Knechtung, gegen die Willkür aufzuzeigen. Nun hatte er schon in der zweiten Statue zu einer neuen Haltung gefunden, die gegen die Fesseln nicht länger kämpft, die sich die Fesseln zu eigen macht, Genuß dort findet, wo Auflehnung sein sollte.

Blick zurück und Blick nach vorn. Lagen die schweren Jahre jetzt endgültig hinter ihm, die Galeerenjahre, die Jahre der Wüstenwanderung? Die Jahre, da er ringen mußte darum, überhaupt sein zu dürfen, wer er war? Soll das jetzt der Scheidepunkt sein in seinem Leben, von dem aus er in eine selbstbestimmte Zukunft voranblicken kann, eine Freiheit, wie er sie bis zum heutigen Tage niemals erlebt hat?
Ein Dasein, von dem er bis dahin nur träumen hat können: er selbst, der Herr seiner Zeit, der arbeitet, was und wie er es will, dem niemand mehr dreinreden darf bei seinem Tun. Wo Arbeit und Ruhe den eigenen Augenblick für sich hat, Wachen und Schlafen, reich ausgefüllte Tage und Tage, an denen er nichts tut. So sollte es sein! Solch ein Leben mußte es geben, mußte doch möglich sein, endlich, für ihn, den die Unrast seit Jahren in Banden hält.
Nach so viel Plackerei für zukünftigen Ruhm, nach so viel Rückschau auf den eigenen Weg, jetzt endlich Gegenwart.

Ein Augenblick der Gegenwart soll es sein, Moses wie ich ihn darstelle. Nicht der gealterte Mann, dem man ansieht, was er erlebt hat und gelitten. Kein Denkmal für die Taten eines längst vergangenen Lebens. Sondern ein Moses, über den der Betrachter erschrickt, so sehr ist er da, hier und jetzt, in seinem Zorn.
Was soll denn Moses gütig sein, Segensfigur oder Allegorie auf das bessere Heute, wo der Tanz um das Goldene Kalb noch längst nicht ausgestanden ist? Denn Moses hat Grund, wütend zu sein, auch gegenüber denen von heute.
Mein Moses wird nicht gütig. Und kraftlos alt ist er auch nicht. Sondern voller Zorn ist er, Zorn, der sich angestaut hat über das Treiben von fünfzehn christlichen Jahrhunderten, Zorn, der hervorbrechen wird im nächsten Moment.
So soll er dasitzen auf seinem Felsblock, wie er gekommen ist vom Berg Horeb, die Gesetzestafeln unter dem Arm. Wie er sich eben hingesetzt hat, seine Gedanken von der Begegnung mit Gott umzulenken auf die Begegnung mit seinem Volk. Er, der vierzig Tage und vierzig Nächte da oben gewesen ist, seinem Gott die Zusage für das Heil seines Volkes abzutrotzen. Seinem Gott, der zornig war und vernichten wollte die Menschen, für die er zuvor solche Wunder getan und die seine Gebote doch nicht befolgten, die er erlöst hatte aus dem Sklavenhause Ägyptens, die er geführt hatte unverletzt durch die Wasser des geteilten Meeres.
Diesem zornigen Gott hat Moses die Rücknahme seines Zornes abgerungen, in vierzig Tagen und Nächten, mit äußerster Anstrengung und List, sich selbst als Schild vor die Seinen stellend und Bürge. Und Gott hat ihm das Gesetz gegeben, zwei große Tafeln, Grundlage für einen Vertrag, wie ihn die Geschichte nie kannte: der Übermächtige als Bundespartner des Menschengewürms.
Und jetzt sitzt Moses da, die Tafeln unter dem rechten Arm, auf dem Felsen am Abhang des Berges, sammelt seine Gedanken, blickt herab auf die Zeltstadt der Seinigen, sucht aus der ortlosen, zeitlosen Weite der Gottesschau sich wieder einzufinden auf dem Felsenweg, der ihn zu den Seinen bringen sollte, gleichsam geblendet noch vom Licht einer höheren Sonne, das den Sehenden blind macht, sich im Reich der Schatten zu orientieren.
Da macht er das Blitzen aus, das Blinken und Schimmern in der Mitte des Lagers, den Popanz. Hört das Schlagen der Zimbeln, das rauschhafte Spiel einer Flöte, das rhythmische Klatschen tausender Hände. Huschende Gestalten erspäht er, Reigentanz, ringsherum geht’s um die lodernde Flamme, Brandopfer, Feuerfest vor dem Götzen.
Hochfahren wird Moses im nächsten Moment, hochfahren in seiner Wut, all seine Fürsprache für dies Volk vergessend, hochfahren und dreinhauen. Vernichten soll sie der Gott in seinem Zorn, er will es nicht hindern.
Was ist das für ein Gesindel da unten, das keine Überzeugung festhalten kann, das nicht wartet und nicht vertraut und losjubelt, sobald es die Illusion des Götzenbildes aufgedrängt bekommt? Hat er, Fürstensohn aus Ägypten, wirklich recht daran getan, diese Leute zu seinem Volk zu erwählen, mit ihnen durch Meer und Wüste zu ziehen, wenn schon ein geringes genügte, all seine Anstrengung, seine Lehre und seine Mahnung zu Boden zu werfen?
Illusionen hat er sich selber gemacht, der an göttliche Sendung und göttlichen Auftrag glaubte. Dahin ist jetzt alles. Abtreten kann er. Und der großartigste Abgang ist ein Abgang im Zorn.
Also hochfahren, wüten, dreinschlagen! Es ist vorbei.

Michelangelos Moses wird nicht hochfahren. Der Zorn seiner Rechten, schon bereit, auszuholen zum Schlag, fällt zurück im eignen Erschrecken. Die Tafeln! Die Tafeln entgleiten! Unter dem Arm hat er die Tafeln gehalten. Wie konnte er das vergessen?
Die auffahrende Geste seiner Hand bricht ab, richtet sich gegen den eigenen Leib. Er greift sich in den Bart, preßt ihn mit eisernem Griff zwischen Daumen und Handfläche, sucht mit dem Ellenbogen die rutschenden Tafeln zu halten.
Um die Gesetze zu wahren, hat er seinen Zorn bezwungen. Die eigene Leidenschaft hat er besiegt, untergeordnet das eigne Empfinden dem Auftrag.
So ist’s, wie Michelangelo ihn meißeln kann, so und nicht anders. Im Gesicht seines Heros bleibt eine Mischung von Zorn, Schmerz und Verachtung, sonderliche Trias fern von Glaube, Liebe und Hoffnung: der Zorn in seinen dräuend zusammengezogenen Augenbrauen, der Schmerz im Blick seiner Augen, die Verachtung in der vorgeschobenen Unterlippe und den herabgezogenen Winkeln seines Mundes. Weiter durch die Wüste wird er ziehen mit seinem Volk, widerwillig und zugleich gehorsam. Er weiß, er wird das Gelobte Land niemals betreten.
So schuf Michelangelo seinen Moses, den Mann voller Kraft, der sich zurücknehmen muß in seinen Gefühlen, damit er dem höheren Auftrag genügt.

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