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Ein Festtag

Roman

Von Graham Swift

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Dennis Gerstenberger schrieb uns am 03.10.2017
Thema: Graham Swift: Ein Festtag

Wieviel Schuld trägt Jane?

Graham Swifts Ein Festtag endet mit offenen Fragen

Von Dennis Gerstenberger

Südengland, ein fast sommerlicher Sonntag Ende März. Paul und Jane sind allein und ungestört, sie schlafen miteinander. Dieser Sexualakt macht den Tag zu dem titelgebenden Festtag, denn es gibt viele Gründe, weswegen die beiden nicht zusammen sein dürften: Zum einen schreiben wir das Jahr 1924, vorehelicher Sex ist verpönt. Außerdem sollte Paul zwei Wochen später eine andere Frau ehelichen. Und drittens: Paul stammt aus guten Verhältnissen, während Jane nur ein Dienstmädchen ist. Schon seit mehr als sieben Jahren haben die beiden ein Verhältnis miteinander, doch zum ersten Mal können sie ihre Zweisamkeit ungestört genießen, zum ersten Mal überhaupt kann Jane Pauls Zimmer betreten. Es bleibt jedoch auch das letzte Mal, dass sie sich sehen, da Paul noch am selben Tag auf dem Weg zu seiner Braut bei einem Autounfall ums Leben kommt.

Jane wird als hübsche junge Frau dargestellt, ein helles Mädchen, das gut lesen und auch schreiben kann und sich für Literatur interessiert. Sie legt einen erstaunlichen Wissensdurst an den Tag und betätigt sich als Wortsammlerin. Von ihrem Herrn darf sie sich Bücher ausleihen und geht auf in den fiktiven Welten. Besonders Joseph Conrad hat es ihr angetan, seine Werke fordern sie heraus. Nach dem tragischen Unfall Pauls wird sie fortziehen und Buchhändlerin in Oxford, später sogar eine berühmte und erfolgreiche Schriftstellerin. Diese anschließenden Jahrzehnte jedoch werden nur grob skizziert, es geht in dem Kurzroman hauptsächlich um den ersten und einzigen Tag, an dem sie ungestört mit Paul sein kann, den sie liebt und ihr Leben lang lieben wird. Es geht um den Tag, an dem Jane ihrem Paul auf Augenhöhe begegnen kann und dabei an Selbstbewusstsein gewinnt.

In dem Kurzroman prallen viele Gegensätze aufeinander: reich und arm, Herr und Dienerin, Glück und Schicksalsschläge. Graham Swift findet die Moderne im England der 20er Jahre, entspinnt ganz langsam das Drama des sich Annäherns und Auseinanderdriftens und entfaltet dabei eine betörende Sinnlichkeit. Als Leser wünscht man sich fast, dass die beiden, die anscheinend füreinander bestimmt sind, trotz der Widrigkeiten zueinander finden und gemeinsam glücklich werden. Dieses Glück widerfährt den Protagonisten nicht, sondern der Tag endet mit einer Tragödie, und dennoch bleibt es ein Festtag, weil beide den intensivsten Moment ihres Lebens gemeinsam erleben konnten. Zu den Stärken Swifts zählt, wie er diesen tragischen Tag so positiv darstellen kann, wie er das Leben aufblühen lässt.

Solche Geschichten können schnell in den Kitsch abdriften, doch Swift entkommt dieser Gefahr gekonnt und moralisiert nicht. Seine Protagonisten sind wegen der Kürze des Romans zwar recht grob gezeichnet, dennoch ist die zwischen den beiden brutalen Weltkriegen angesiedelte Geschichte äußerst filigran und mir einer außergewöhnlichen Ruhe erzählt. Die Gewalt ist durch die vier verstorbenen Brüder des Brautpaares zwar latent vorhanden, aber der Roman zeichnet sich auch dadurch aus, dass er die Extremsituationen nicht in den Mittelpunkt stellt: Es geht in erster Linie nicht um gesellschaftliche Konflikte oder den allgegenwärtigen Tod, sondern um das Leben selbst und die Lebensfreude, die unabhängig von Normen vorhanden ist. Janes Erlebnisse sind so stark, dass sie daraus schöpferisch tätig werden kann, sie profitiert bis an ihr Lebensende vom Verhältnis zu Paul, es ist und bleibt ihr Festtag.

Ein großartiger Roman, der viele Fragen aufwirft und offen lässt. Eine versteckte Frage beispielsweise ist, ob Jane nicht mindestens eine Mitschuld am Tode Pauls trägt? Schließlich hat sie ihn aufgehalten und er musste sich beeilen, um seine Braut nicht warten zu lassen. Die Antwort muss der Leser selbst geben, denn die selbstbewusste Jane stellt sie sich nicht einmal.

Graham Swift: Ein Festtag. Roman
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Höbel.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2017.
142 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281102

Aufrufe: 223




Bories vom Berg schrieb uns am 07.04.2022
Thema: Graham Swift: Ein Festtag

Elegant und federleicht erzählt

Ist der Roman «Ein Festtag» von Graham Swift auch ein Festtag für den Leser? Mehr als einen Tag nämlich wird er kaum brauchen, um diesen internationalen Bestseller mit seinen 142 Seiten zu lesen, in denen es, wie so oft bei diesem englischen Schriftsteller, um die Erinnerung als literarisches Faszinosum geht. Was da alles in die wenigen Buchseiten hineingepackt ist an Gefühlen, Lebensweisheiten, an historischem und gesellschaftlichem Hintergrund, das ist verblüffend, nicht etwa weil so komprimiert erzählt wird, sondern weil all das ganz unterschwellig auch mit anklingt.

«Mothering Sunday», so der Buchtitel im Original, ist ein Feiertag der Church of England, hier im Roman ist dieser sonnige Tag im März 1924 der alles verändernde Schicksalstag für seine Protagonistin. Traditionell haben alle Dienstboten an diesem Tage arbeitsfrei, viele besuchen ihre Mutter, aber Jane ist ein Findelkind, sie wurde im Waisenhaus großgezogen und arbeitet als Dienstmädchen in einem Herrenhaus. Die 24Jährige hat seit Jahren heimlich ein Verhältnis mit Paul, dem verwöhnten Sohn wohlhabender Nachbarn, anfangs hatte er sie mit einem Sixpence bezahlt, inzwischen ist daraus Liebe geworden. Er nutzt die Abwesenheit seiner Eltern und trifft Jane an diesem Festtag zum ersten Mal bei sich zuhause, und nach den vielen unbequemen, improvisierten Treffen diesmal erstmals sogar in seinem Bett. Ohne obszön zu werden schildert Swift die postkoitale Zweisamkeit en detail und spart auch den Fleck nicht aus, den die gehabten Genüsse als feuchte Spuren verräterisch auf dem Laken hinterlassen haben. Bei aller Ekstase ist dem nun nackt auf dem Bett liegenden Pärchen bewusst, dass dies ihr letzter Beischlaf war, sie werden sich nie wiedersehen, Paul wird in zwei Wochen Emma heiraten, eine arrangierte Ehe mit einer «guten Partie». Und während Jane vor sich hin sinnierend ihr bisheriges Leben Revue passieren lässt, putzt sich Paul schweigend für ein Treffen mit Emma heraus, und zwar aufreizend langsam, obwohl er inzwischen viel zu spät dran ist und empörte Vorhaltungen seiner Verlobten fürchten muss.

Zwei Drittel der Geschichte sind diesem Tête-à-Tête gewidmet, aus der Perspektive der jungen Jane wird darin sehr anschaulich ihr bisheriges Leben rekapituliert, bis nach mehr als hundert Seiten ein plötzlicher Zeitsprung ins hohe Alter von Jane Fairchild führt, die nach Tätigkeit im Buchhandel eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist. Dieser zweite Teil ihres Lebens wird in Form von Interviews erschlossen, in denen die Hochbetagte nach ihrem Lebensweg befragt wird. «Alles ausgedacht» hatte sie einst als 48Jährige nach dem Tod ihres Mannes, eines Philosophen in Oxford, ihr erstes Buch betitelt. In den Gesprächen finden sich dann geistreiche Reflexionen von ihr über Literatur, über den Schreibprozess als solchen und die Fiktionalisierung der Realität, über das Lesen und ihre persönliche Annäherung an die Literatur insbesondere durch Joseph Conrad, den sie geradezu hymnisch verehrt hatte.

Es ist bewundernswert, wie Graham Swift, mit wenigen Worten sparsam erzählend, in seinem raffiniert konstruierten Plot derart tiefgründig in das Gefühlsleben seiner Figuren eindringt und anschaulich die Atmosphäre in den privilegierten englischen Herrenhäusern mit ihren gesellschaftlichen Umbrüchen schildert. Folgt man der Definition von Goethe, ist diese Geschichte mit ihrer - von mir aus Fairness potentiellen Lesern gegenüber verschwiegenen - «unerhörten Begebenheit» eine äußerst elegant geschriebene, klassische Novelle. Die, und das ist das Schöne daran, wegen ihrer Kürze natürlich zu allerlei Deutungen und Ergänzungen durch den geneigten Leser geradezu herausfordert. Was auch immer aber man herauslesen zu können glaubt, all diese wohlfeilen Spekulationen über das «Was-wäre-wenn» ändern nichts daran, dass dies eine angenehm unterhaltende, federleicht erzählte Novelle ist, literarisch also durchaus «auch ein Festtag für den Leser»!

Fazit: erfreulich
Meine Website: ortaia.de

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